[Debatte] Als Walter Benjamin im Jahr 1935 im Pariser Exil seinen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ verfasste, stellte er seinem Text ein Zitat von Paul Valéry voran. In „Pièces sur l’art“ betonte dieser, dass weder Materie, noch Raum, noch Zeit seit zwanzig Jahren das seien, was sie bis dahin waren. Man müsse sich darauf gefasst machen, dass die großen Neuerungen, die sich in dieser Zeit entwickelt hätten, die gesamte Technik der Künste verändern würden. Dies würde schließlich vielleicht dazu führen, „den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“
„In allen Künsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entziehen.“
Paul Valéry: Pièces sur l’art
Zauberhafte Veränderungen
Paul Valérys Beobachtungen zu den Auswirkungen technischer Neuerungen sind aktuell wie nie zuvor, besonders da in den letzten 100 Jahren die Frequenz, mit der unsere Gesellschaft immer weiteren Neuerungen ausgesetzt ist, sich noch erhöht hat. Statt innerhalb von 20 Jahren, konnte ab der Mitte des 20. Jahrhunderts schon alle 10 Jahre alles anders sein. Mittlerweile muss man schon mit fast monatlichen Neuerungen rechnen, wenn man die rasante Entwicklung im Bereich der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) betrachtet.
Ab den 1990er Jahren hinterließ zunächst noch die globale Verbreitung des Internets ihre Spuren in der Produktion, aber vor allem auch in der Rezeption von Kunst. Insbesondere das Entstehen von Social-Media-Plattformen seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts führte dann dazu, dass wir heute Kunst anders wahrnehmen, einen anderen Zugang zu ihr finden und vielleicht auch andere Ansprüche an sie stellen.
Auch die Kunst selbst kann sich von dieser Entwicklung nicht frei machen. So werden etwa ikonische Gemälde zu Memes, zu ironisch oder witzig aufbereiteten Medien, die sich im Netz verbreiten. Versehen mit Statements wandeln sie sich zu popkulturellen Referenzen, mal losgelöst von ihrem eigentlichen Kontext, mal bewusst mit Verweis auf ihre historische Bedeutung.
„Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.“
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Reproduzierbarkeit im Digitalen
Auch Walter Benjamins Aufsatz selbst erscheint heute wieder aktuell. Er verweist darauf, dass Kunstwerke schon immer reproduzierbar waren: Bereits in der Antike erfolgte dies durch Prägung oder Abguss von Bronzen. Mit dem Holzschnitt wurde erstmals Grafik reproduzierbar, später kamen Kupferstich, Radierung und die Lithographie hinzu. Selbst die Malerei ist nicht erst reproduzierbar, seit die Fotografie entwickelt wurde, geschweige denn seit Kunstwerke digital gescannt werden können. Schon vor Hunderten von Jahren wurden von Hand Kopien angefertigt, etwa zur Erlernung von malerischen Techniken. Die globale Verbreitung von Kunstwerken hingegen ist neu. Erst durch die technischen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre ist Kunst nun wirklich allen Menschen auf der Welt zugänglich geworden, kann digital gespeichert, verändert und wieder weitergereicht werden.
Kunst ist heute nicht mehr nur an eine physische Form gebunden. Werke können nun auch als rein digitales Medium existieren. Vielleicht müssen für diese Form der künstlerischen Schöpfung nun neue Begriffe etabliert werden – vielleicht aber auch nicht. So bezeichnet zum Beispiel der Künstler Manuel Rossner seine digitale Arbeit als Verbindung zwischen Bildhauerei und Malerei, da er seine Skulpturen in Virtual Reality (VR) malt. Hierfür fertigt er Luft-Zeichnungen im virtuellen Ausstellungsraum an, die ein Computer dann in Skulpturen umrechnet. Obwohl seine Werke rein digital sind, steht dahinter also ein malerischer Vorgang.
- Mehr zu Manuel Rossner im Beitrag zu seiner Ausstellung „Surprisingly This Rather Works“
NFTs und das digitale Original
Was digitale Reproduktionen lange mit rein digitalen Kunstwerken gemeinsam hatten, ist das Fehlen einer möglichen Zuschreibung, die Walter Benjamin als „Hier und Jetzt des Kunstwerks“ bezeichnet. Doch insbesondere der Begriff der Echtheit scheint heute überholt zu sein, denkt man an digitale Kunstwerke, die sich ohne Spuren der Zeit an einem Originalobjekt vervielfältigen lassen. Damit wäre jede Version des Werkes als „echt“ anzusehen.
Als mögliche Lösung für dieses Problem, das zumindest für den Kunstmarkt besteht, traten vor einigen Jahren die NFTs in Erscheinung. Die non-fungible tokens versprechen in der Theorie die Möglichkeit einer genauen Definition eines Originals, indem auch digitale Werke mit dem Stempel des „Hier und Jetzt“ versehen werden können. Ziel ist es, eine Art Echtheit zuzuschreiben – bis hin zur Nachverfolgbarkeit von Besitzverhältnissen eines Werks, was bereits für Benjamin ein Kriterium für dessen Echtheit markierte.
Hielt Walter Benjamin es noch für eine unbestreitbare Tatsache, dass der gesamte Bereich der Echtheit sich der technischen Reproduzierbarkeit entzieht, sind wir nun an einem Punkt in der Kunstwelt angelangt, an dem auch digital reproduzierten oder rein digitalen Kunstwerken eine Echtheit zugeschrieben werden kann. Und sogar digitale Kopien von physischen Kunstwerken können in Form von NFTs als digitale „Originale“ gekennzeichnet werden, wie zum Beispiel das Wiener Belvedere Museum im Jahr 2022 mit seiner NFT-Verkaufsaktion „The Kiss“ zu Gustav Klimts Gemälde „Der Kuss“ zeigte.
- Mehr zu The Kiss im Beitrag: Warum kauft man ein Museums-NFT?
Walter Benjamin und die Aura
Ein digital verfügbares Objekt ist immer selbständiger als ein analoges, denn es kann in Situationen gebracht werden, die von einem physischen Kunstwerk selbst nicht erreicht werden können. So kann zum Beispiel die Mona Lisa im Original nicht jedem Menschen auf der Welt zur Verfügung stehen. Wer das Bild betrachten will, ist aber online nur einen Klick davon entfernt. Walter Benjamin spricht bei diesem Prozess von einem Entgegenkommen und sieht hierin auch Nachteile, wörtlich die Entwertung des „Hier und Jetzt“ eines Kunstwerks.
Tatsächlich hat sich mittlerweile aber erwiesen, dass Benjamins Sorge um die „Aura“ unbegründet ist. Man muss keinesfalls befürchten, dass die geschichtliche Zeugenschaft eines Werks, genauer gesagt die „Autorität der Sache“, ins Wanken geraten würde. Die Aura eines Kunstwerks wird nicht leiden, auch wenn eine digitale Reproduktion jederzeit online für alle verfügbar ist. Das Gemälde der Mona Lisa ist dafür das beste Beispiel, denn das Kunstwerk zeigt, dass genau das Ende des einmalig zugänglichen Werks und die leichte Abrufbarkeit eines Bildes in der digitalen Welt die sogenannte Aura des Originals noch verstärken kann. Gerade weil jeder das Bild über digitale Kanäle kennt, wächst die Sehnsucht nach dem Besuch der „echten“ Gioconda im Louvre.
Insofern kann genau dieses Entgegenkommen von Kunstwerken in die jeweilige Situation des Publikums vor allem als Stärke der digitalen Verbreitung von Kunst gesehen werden. Die „Erschütterung der Tradition“, von der Walter Benjamin in diesem Zusammenhang spricht, kann und sollte man deshalb als positiv betrachten – als Chance für die Auseinandersetzung mit Kunst durch eine barrierearme Zugänglichkeit, zunehmend auch im digitalen Raum.
Eine Vorgängerversion des Textes erschien unter dem Titel „Jenseits der Aura“ in der Publikation salondergegenwart 2022, Hg.v. Christian Holle.
Fotos: Angelika Schoder – Louvre, Paris 2022
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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