[Ausstellung] Lässt sich die Geschichte der Skulptur neu denken? Das Kunstmuseum Basel versucht dies mit einer Ausstellung rund um den Künstler Medardo Rosso (1858–1928). Der Bildhauer und Fotograf war Zeitgenosse und Konkurrent von Auguste Rodin und schuf um 1900 wegweisende Werke. Die Ausstellung „Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur“ lädt nun dazu ein, den italienisch-französischen Künstler neu zu entdecken und seinen Einflüssen in der Kunstwelt nachzuspüren. Das Museum zeigt dazu nicht nur eine umfassende Retrospektive mit rund 50 Skulpturen sowie 250 Fotografien und Zeichnungen von Rosso, die seine Experimentierfreude mit Material, Licht und Form verdeutlichen. Die Ausstellung macht darüber hinaus auch Rossos anhaltenden künstlerischen Einfluss sichtbar, anhand von über 60 zeitgenössischen Fotografien, Gemälden, Skulpturen und Videos, von u.a. Edgar Degas, Meret Oppenheim, Andy Warhol, Yayoi Kusama oder Richard Serra.

Was ist eine Skulptur?
Zwanzig Jahre nach der letzten großen Ausstellung in der Schweiz präsentiert das Kunstmuseum Basel wieder eine umfassende Schau zum Bildhauer Medardo Rosso. Viele der hier gezeigten Skulpturen aus Bronze, Gips und Wachs sowie Fotografien und Zeichnungen sind zum ersten Mal seit Jahrzehnten ausserhalb Italiens zu sehen.
Die Ausstellung beginnt bereits im Innenhof des Hauptbaus des Museums, wo Auguste Rodins Skulptur „Die Bürger von Calais“ (1884–1889) einer Arbeit der zeitgenössischen Künstlerin Pamela Rosenkranz gegenübergestellt wird. In ihrem Werk „Skin Pool (Plasmin)“ (2025) wird der menschliche Körper abstrahiert und auf Flüssigkeit und Oberfläche reduziert. Die Künstlerin hat hierfür einen historischen Brunnen mit einer rosafarbenen Flüssigkeit gefüllt. Die Farbe erinnert an sogenannte „Standard-Hauttöne“, wie sie in Werbung und Kosmetik propagiert werden und macht so auf Schönheitsideale und künstliche Körperbilder aufmerksam. Der Titel des Werks verweist auf Plasmin, ein Enzym im menschlichen Blut, das Blutgerinnsel auflöst und für den Kreislauf lebenswichtig ist. Das ungewöhnliche Schimmern der farbigen Flüssigkeit soll auf Medardo Rossos Arbeiten mit Wachs verweisen, der so versuchte das Lichtspiel auf der menschlichen Haut einzufangen. Im Kontrast zu Rodins Skulptur daneben wird auch noch einmal deutlich, wie vielfältig Skulpturen zum menschlichen Körper gestaltet sein können – solide und lebensnah, wie bei Rodin, oder abstrakt wie bei Rosenkranz, die mit ihrer Arbeit auch Fragen nach dem Körper in einer durch Industrie und Biotechnologie geprägten Welt aufgreift.
Im Übergang zwischen dem Hauptbau zum Neubau des Museums setzt sich die Ausstellung fort mit der raumfüllenden Installation „eleven“ (2020) von Kaari Upson. Die Künstlerin untersucht hier mit Gussformen, Verdopplungen und Verfremdungen, wie Erinnerungen, Traumata und Körpererfahrungen in Skulpturen sichtbar werden. Ihre Installation besteht aus elf hängenden Objekten, die Formen von Baumstämmen und ihren eigenen Knien verbinden. Die Skulpturen bestehen aus farbigem Kunstharz und erinnern an Fleischstücke in einem Kühlraum. Upson wiederholt hier bestimmte Formen immer wieder, ähnlich wie Medardo Rosso es in seiner künstlerischen Praxis tat. Dabei nutzt Upson Materialien, die sich nicht ganz kontrollieren lassen, um zu zeigen, wie Formen sich verändern oder zerfallen.
„Ich war noch jung, als ich verstand, dass nichts im Raum stofflich ist, denn alles ist Raum und somit ist alles relativ. Die Philosophie von Professor Einstein brauchte ich dazu nicht. Ich sagte das schon vor [18]’83.“ [1]
Medardo Rosso im Gespräch mit Luigi Ambrosini, 1923
Fotografie und Inszenierung
Im ersten Ausstellungsraum mit den Werken von Medardo Rosso liegt der Fokus auf dem Umgang des Künstlers mit dem Medium der Fotografie. Bereits 1905 bezeichnete der Kunstkritiker Ludwig Hevesi den Bildhauer als Schöpfer einer „Fotoskulptur“. Gemeint war damit die weiche, verschwommene Wirkung seiner Skulpturen, ähnlich wie bei einem unscharfen Foto. Rosso interessierte sich für den flüchtigen Moment, weshalb neben der Bildhauerei auch die Fotografie für ihn ein wichtiges künstlerisches Mittel wurde. Im Gegensatz zu anderen Künstlern seiner Zeit, wie etwa Auguste Rodin, fotografierte Rosso seine Werke selbst. Dabei experimentierte er mit Licht, Perspektiven und Ausschnitten und bearbeitete die Bilder in der Dunkelkammer selbst, indem er sie zuschnitt oder neu zusammensetzte. Ab etwa 1900 nutzte er die Fotografie außerdem nicht nur zur Darstellung seiner Skulpturen, sondern auch um diese konzeptionell weiterzuentwickeln. Er veränderte sogar seine Gussformen, je nach fotografischem Ergebnis. Ab 1902 stellte er seine Fotografien gemeinsam mit seinen Skulpturen aus. Im Kunstmuseum Basel sind hier rund 250 seiner insgesamt 500 bekannten Fotografien zu sehen, darunter Originalabzüge mit Notizen und alte Glasnegative.
Die Ausstellung zeigt hier zudem, dass für den Bildhauer nicht nur das Herstellen sondern auch die gezielte Präsentation von Skulpturen wichtig war. In der Mitte des Raums werden daher einige seiner Plastiken auf besonderen Sockeln gezeigt. Sie sind so, wie der Künstler sie selbst bevorzugte, darunter sogenannte „gabbie“ (dt.: Käfige) oder Vitrinen. Diese rahmen nicht nur die Skulpturen, sondern beziehen auch den umgebenden Raum in das Kunstwerk mit ein. Rosso legte großen Wert auf bestimmte Ansichten seiner Werke und bestimmte oft, aus welchem Winkel sie betrachtet werden sollten. Die Ausstellung im Kunstmuseum Basel weicht allerdings von dieser Vorgabe des Künstlers ab und ermöglicht es, die Skulpturen von allen Seiten zu betrachten. So werden die Materialien, Arbeitsspuren und die besondere Formgebung deutlich sichtbar. Auch in seinen Fotografien arrangierte Rosso seine Werke sorgfältig, auf unterschiedlichen Höhen, dicht nebeneinander oder im Dialog mit Werken anderer Künstler. Die Ausstellung greift dies auf, indem Rossos „Portrait d’Henri Rouart“ (1890) neben Auguste Rodins „Torse“ (1878/79) und Paul Cezannes Gemälde der „Cinq baigneuses“ (1885/1887) gezeigt wird.

Künstlerische Begegnungen
Die Ausstellung setzt sich im 2. Obergeschoss des Museumsneubaus fort und ist hier als eine Art „generationenübergreifende Zusammenkunft“ konzipiert. Hier treffen Rossos Werke auf die Arbeiten von 60 historischen und zeitgenössischen Kunstschaffenden, jeweils einem Prinzip folgend, das für die künstlerische Praxis von Medardo Rosso eine wichtige Rolle spielte, etwa Wiederholung und Variation, Anti-Monumentalität, Prozess und Performance oder Erscheinen und Verschwinden. Dabei zeigt dieser Ausstellungsabschnitt eindrucksvoll, wie Rosso Ideen bis heute in der Kunst weiterhin aktuell sind und was Skulptur in der Moderne bedeuten kann.
Seit den späten 1890er Jahren arbeitete Medardo Rosso immer wieder mit rund 40 Motiven. Er goss neue Varianten, bearbeitete die Oberflächen, machte Fotos und wiederholte den Prozess immer wieder. Dabei führte er viele Arbeitsschritte selbst aus, anstatt sie Gießereien zu überlassen. So entstanden viele leicht unterschiedliche Versionen einer Werke. Rosso stellte damit die Vorstellung infrage, dass ein Kunstwerk nur eine endgültige Form haben müsse. Ein Beispiel ist seine oft wiederholte Skulptur „Enfant juif“ (1893): Jede Version unterscheidet sich leicht im Material, in der Farbe oder im Ausdruck. Spätere Kunstschaffende wie Andy Warhol oder Sherrie Levine griffen dieses Arbeitsweise der Wiederholung in der Pop-Art, Minimal Art oder Appropriation Art wieder auf. Im Kunstmuseum Basel werden ihre Werke gemeinsam mit Rossos Skulpturen gezeigt, ebenso wie „Baby Mould“ (2023) von Sidsel Meineche Hansen. Das Werk basiert auf einer Gussform, mit der Nonnen Jesusfiguren herstellen, und untersucht, wie Körper durch Technik, Religion und Gesellschaft geformt werden.
Im nächsten Abschnitt geht die Ausstellung darauf ein, wie Medardo Rosso mit seinen Skulpturen das Vergängliche und Zerbrechliche darstellen wollte. Statt große, heroische Denkmäler zu schaffen, arbeitete er mit kleinen, zarten Figuren aus Wachs und Gips, also mit Materialien, die eigentlich nur für Entwürfe genutzt wurden. Seine Werke wirken daher unfertig und flüchtig, fast wie Momentaufnahmen. Auch bei der Motivwahl widersetzte er sich der Tradition: Statt Berühmtheiten zeigte er einfache Menschen. Damit stellte er die Rolle der Skulptur als Machtinstrument in Frage. Eine ähnliche Idee verfolgte Edgar Degas mit seinem Werk „Jockey blessé“ (ca. 1896/98). Der Künstler zeigt mit dem „Verletzten Jockey“ keinen siegreichen Reiter, sondern einen Gestürzten, verletzlich und menschlich.
Zur ungewöhnlichen Arbeitsweise von Rosso gehörte es auch, dass er sich eher für den Entstehungsprozess seiner Werke interessierte als für ein perfektes Endergebnis. Spuren wie Fingerabdrücke oder Risse sah er nicht als Fehler, sondern als Teil der Kunst. Er goß viele seiner Skulpturen selbst und zeigte den Gussvorgang sogar Besuchern seines Ateliers. Besonders faszinierte ihn das Einfangen flüchtiger Momente, etwa eines Lächelns, durch Skulptur und Fotografie. Dies beeinflusste später Künstler wie Anton Giulio Bragaglia, Giovanni Anselmo oder Senga Nengudi. Sie greifen Rossos Interesse an Spannung, Bewegung und körperlichen Formen in ihren Werken auf.

Diversität der Formen
Die Ausstellung zeigt auch Medardo Rossos Werk „Aetas aurea“ (Goldenes Zeitalter, 1886), das eine zärtliche Umarmung zwischen seiner Frau und ihrem Sohn darstellt. In verschiedenen Versionen verschmelzen die beiden Figuren manchmal miteinander oder mit ihrer Umgebung; ein Effekt, den Rosso bewusst einsetzte. Auch andere Kunstschaffende in der Ausstellung beschäftigen sich mit Berührung als formgebende Geste, so sind etwa Phyllida Barlows Arbeiten von den Berührungen ihrer Kinder inspiriert. Auch Louise Bourgeois zeigt in ihrer Installation „Child devoured by kisses“ (1999) Eltern und Kind in enger, fast bedrückender Umarmung. Und Alina Szapocznikow goss den Körper ihres Sohnes ab und hielt so eine zarte, aber auch gespenstische Nähe fest. Alle Werke in diesem Ausstellungsabschnitt machen deutlich, wie stark Berührung in Kunst mit Nähe, Pflege und manchmal auch Unbehagen verbunden ist.
Unter dem Schwerpunkttitel „Erscheinen und Verschwinden“ zeigt die Ausstellung im nächsten Abschnitt anhand der vier Skulpturen „Ecce Puer“ (1906), wie Medardo Rosso Licht, Position und durchscheinendes Wachs nutzte, um beim Betrachten den Eindruck von Veränderung zu erzeugen. Die Skulpturen, ein Kindergesicht, wirken fast körperlos, nur angedeutet und kaum greifbar. Auf Fotos verschwimmt das Gesicht es Kindes noch mehr im Licht. Dieses Spiel zwischen Sichtbarkeit und Auflösung zeigt sich auch in Rossos Skulptur „Madame X“ (vermutlich 1896), die kaum Form erkennen lässt. Die Künstlerin Erin Shirreff setzte sich 2013 in einem Video mit dieser Figur auseinander, indem sie 132 Standbilder mit wechselndem Licht kombinierte. So greift sie Rossos Idee der sich auflösenden Form auf und macht deutlich, wie stark Licht und Zeit unsere Wahrnehmung verändern. Auch der Bildhauer Constantin Brâncuși sah Rosso als Vorbild und schätzte seine Idee, dass sich Skulpturen im Raum auflösen können. Viele weitere Kunstschaffende ließen sich davon beeinflussen, so klebte etwa David Hammons für „Rock Head“ (2000) Haarreste auf Stein, um eine abstrakte, kaum erkennbare Kopfskulptur zu schaffen, und Felix Gonzalez-Torres zeigte mit Süßigkeitenhaufen, die sich durch Mitnahme verändern, wie vergänglich und doch erneuerbar Form sein kann.

Skulptur und Raum
Medardo Rosso war davon überzeugt, dass Kunst immer im Zusammenhang mit ihrer Umgebung verstanden werden muss. Deshalb plante er genau, wie seine Werke gezeigt wurden, etwa unter speziellen Glashauben auf Holzsockeln. Diese Präsentationen waren keine bloße Verpackung, sondern bewusst gestaltete Szenen, die den Blick der Betrachtenden lenken sollten. Auch andere Kunstschaffende griffen diesen Gedanken auf, wie die Ausstellung zeigt. So verband Francesca Woodman in ihren Fotografien Körper und Raum und Paul Thek präsentiert seine Werke in Vitrinen, um Verfall und Veränderung zu betonen. Auch Marcel Duchamp baute kleine Schaukästen, die seinen künstlerischen Kosmos zeigten, etwa in „Boîte-en-valise, 1935–1941“ (1949). Es ist ein Koffer voller Miniaturkopien von Kunstwerken, eine tragbare Ausstellung, um die Grenze zwischen Original und Kopie infrage zu stellen.
Im letzten Abschnitt widmet sich die Ausstellung dem Thema der Unförmigkeit. Obwohl Medardo Rossos Skulpturen aus festem Material bestehen, scheinen sie sich der klaren Form zu entziehen. Figuren wie „Portinaia“ (1883/84) und „Madame Noblet“ (1897) sind kaum voneinander zu unterscheiden, weil Vorder- und Rückseite ähnlich unfertig wirken. Besonders das Werk „Malato all’ospedale“ (Kranker Mann im Spital, 1889) vermittelt durch den Einsatz von Wachs ein starkes Gefühl von Vergänglichkeit. Künstlerinnen wie Isa Genzken, Yayoi Kusama oder Alina Szapocznikow griffen diesen Gedanken später auf und experimentierten mit Formen, die weich, instabil oder biegsam wirkten.
Das Museum zeigt neben diesen Arbeiten auch kleinformatige Zeichnungen von Rosso, in denen es ihm weniger um genaue Darstellung als vielmehr um flüchtige Eindrücke von Orten, Figuren und Formen ging. Der Künstler skizzierte oft schemenhaft mit schnellen, zackigen Linien auf Einladungskarten, Briefumschläge oder Speisekarten. Um die Bedeutung dieser Werke für ihn hervorzuheben, fotografierte er die Skizzen zusätzlich und stellte diese aus. Daneben ist Rossos Werk „Enfant au sein“ (1890) zu sehen, ein Mutter-Kind-Motiv, das in einer unklaren Masse fast verschwindet. Der Kopf der Mutter fehlt, ob absichtlich oder durch Schaden ist heute unklar. Genau diese Lücke macht das Werk so besonders: Die Grenzen zwischen Körpern, Formen und Materialien verschwimmen und werfen Fragen zur Wahrnehmung und Bedeutung von Kunst auf.
Anlässlich der Ausstellung „Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur“ erschien 2024 die begleitende Publikation, herausgegeben von Heike Eipeldauer, im Verlag der Buchhandlung Walter und Franz König (ISBN: 978-3-7533-0612-4). Der Ausstellungskatalog mit zahlreichen farbigen Werkabbildungen beinhaltet Beiträge von u.a. Jo Applin, Georges Didi-Huberman, Heike Eipeldauer, Francesco Guzzetti, Megan R. Luke, Nina Schallenberg, Francesco Stocchi und Matthew S. Witkovsky.
Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur
Kunstmuseum Basel, Neubau
29.03.-10.08.2025
Die Ausstellung wurde zuvor vom 18.10.2014 bis 23.02.2025 im mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien gezeigt.
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Bilder: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2025
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnote
[1] Siehe: Heike Eipeldauer: Alarmingly alive – Medardo Rosso vergegenwärtigen, In: Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur, 2024, S. 15, Zitiert nach: Medardo Rosso’s Words. Interview with Luigi Ambrosini, In: La Stampa, 29.07.1923, S. 312.
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