[Rezension] Der Gropius Bau in Berlin widmet der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama aktuell eine große Retrospektive. Titelgebend ist die immersive Installation „A Bouquet of Love I Saw in the Universe“, die eigens für den Lichthof des Museums geschaffen wurde. Gigantische pinke Tentakeln ranken sich hier bis unter die Decke, verziert sind sie mit den für die Künstlerin typischen Polka Dots. Die Skulptur spiegelt Kusamas Faszination für die Idee einer Auflösung des Individuums in den Weiten den Universums. Und tatsächlich können sich die Besucher ein bisschen in einem Rausch aus Farbe und Form verlieren. Neben dieser jüngsten Arbeit zeigt der Gropius Bau zahlreiche Werke aus allen Schaffensphasen der Künstlerin, beginnend bei Zeichnungen aus ihrer Jugend bis zu der Werkserie „My Eternal Soul“, an der Yayoi Kusama bis heute arbeitet.
Yayoi Kusama. Eine Retrospektive
Es ist die erste Retrospektive der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama (*1929) in Deutschland, die aktuell im Gropius Bau in Berlin zu sehen ist. Die Ausstellung bietet einen umfangreichen Überblick über ihre künstlerische Arbeit, die einen Zeitraum von über 70 Jahren umspannt. Kusamas Werk reicht dabei von Gemälden und Skulpturen bis hin zu den immersiven Installationen, für die sie vor allem in Zeiten von Social Media verehrt wird. Die Retrospektive, ebenso wie der bei Prestel erschienene Begleitkatalog, beleuchten die Arbeit und den Einfluss der Künstlerin in den Bereichen Mode, Film, Kunst, Marketing und Publizistik. Vorgestellt werden dabei ihre wichtigsten Performances, ihre multisensorischen Spiegelräume und ihre Gemäldeserien, ebenso wie ihr literarisches Werk.
Ein interessanter Aspekt in der Ausstellung, ebenso wie im Begleitkatalog, ist der Blick auf die Ausstellungspraxis der Künstlerin, die nicht einfach nur ihre Arbeiten den Institutionen und Kuratoren überließ, sondern bereits ab den 1950er Jahren ihre eigenen Ausstellungen organisierte, plante und selbst gestaltete. Formen der Inszenierung spielen bei Kusama seit dem Beginn ihrer Karriere eine wichtige Rolle. Neben den Werken selbst war für sie immer auch die Art der Präsentation ein Teil ihrer künstlerischen Arbeit. So zeigt nicht nur die Retrospektive im Gropius Bau Rekonstruktionen zentraler Ausstellungen von Yayoi Kusama, auch im Begleitband zur Retrospektive finden sich Zeichnungen von Ausstellungsplänen. Sie sollen einen Eindruck davon vermitteln, wie die Künstlerin ihre Werke über Jahrzehnte hinweg in Ausstellungen präsentierte. Angefertigt wurden die Zeichnungen auf Basis von Texten, historischen Fotografien und Plänen. Insofern handelt es sich dabei nicht um Originalgrundrisse sondern eher um Annäherungen an Kusamas Ausstellungspraxis. Sie zeigen jedoch gut, dass die Künstlerin ihre Werke immer auch in einem Kontext betrachtet und hier auch gegenüber dem Publikum nichts dem Zufall überlässt.
Netze, Punkte und Phalli
Yayoi Kusama wurde am 22. März 1929 im japanischen Matsumoto geboren. Mit 19 Jahren zog sie nach Kyoto, um an der Kunsthandwerksschule nihonga zu erlernen, eine Form der traditionellen japanischen Malerei, die sich figurativ oder abstrakt mit der Darstellung von Tieren und Pflanzen befasst. Auch yōga gehörte zu ihrer künstlerischen Ausbildung, eine japanische Malweise im westlichen Stil, die im Kontrast zu nihonga steht. Ihre erste Einzelausstellung fand 1952 in Matsumoto statt. Hierfür fertigte sie 200 kleinformatige Zeichnungen an, die sie nicht einfach nur an den Wänden platzierte sondern mit einer eigens entwickelten Fadenhängung inszenierte. Diese Arbeitsweise, selbst darüber zu bestimmen, wie ihre Werke präsentiert werden sollen, ist bis heute für Kusama charakteristisch.
Als die Arbeiten von Yayoi Kusama im Rahmen der „International Watercolor Exhibition“ im Brooklyn Museum für Aufmerksamkeit sorgten, erhielt sie Kontakt zur amerikanischen Galeristin Zoë Dusanne. 1957 machte sich die Künstlerin auf den Weg in die USA und zeigte in Seattle ihre Werke erstmals in einer Einzelausstellung außerhalb Japans. Ein Jahr später zog sie nach New York und zeigte ihre Werke in diversen Einzel- und Gruppenausstellungen. Parallel wurde Kusama auch in Deutschland bekannt. Das Museum Schloss Morsbroich präsentierte bereits 1960 ein „Infinity Net Painting“ in der Gruppenausstellung „Monochrome Malerei“. Als Inspiration für diese Gemälde diente ihr der Pazifische Ozean, den sie einmal als sich endlos ausbreitendes Netz beschrieb. Das Netzmotiv verfolgte sie zudem seit ihrer Kindheit in traumatischen Visionen.
Die „Unendlichkeitsnetze“ wurden für einige Jahre zum zentralen Motiv in Kusamas Werk. Anfang der 1960er Jahre begann sie zudem Collagen aus Alltagsgegenständen und erste Skulpturen zu erstellen, die sogenannten „Accumulations“, bei denen Phalli aus Stoff zum zentralen Motiv wurden. Wie bei ihren „Infinity Net Paintings“, folgen auch ihre Collagen und Skulpturen dem Prinzip der seriellen Wiederholung. Sie beeinflusste damit übrigens Künstler wie Andy Warhol und Claes Oldenburg, deren Werke neben ihren 1962 in der Green Gallery gezeigt wurden. Die Gruppenausstellung gilt als erste Pop-Art-Ausstellung in den USA.
Generell war Yayoi Kusama mit einigen Künstlern ihrer Zeit gut vernetzt. So reiste sie 1965 erstmals nach Europa und vertiefte ihre Kontakte zur Künstlergruppe ZERO um Heinz Mack und Otto Piene, mit denen sie auch ihre Arbeiten im Amsterdamer Stedelijk Museum zeigte.
Endlose Spiegel und Happenings
Im Jahr 1965 wurde in Den Haag die erste europäische Einzelausstellung von Yayoi Kusama gezeigt. Kurz darauf präsentierte sie in der New Yorker Castellane Gallery mit „Infinity Mirror Room – Phalli’s Field“ ihre erste begehbare Installation mit Spiegeln. Die Arbeit vereint alle Motive, für die Yayoi Kusama heute steht: der verspiegelte Raum und mit Polka Dots versehene Formen, die in ihrem Zusammenwirken die Vorstellungskraft des Betrachters herausfordern und ein Gefühl von Endlosigkeit vermitteln. Ein Jahr später zeigte die Galerie M.E. Thelen in Essen erstmals eine Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland. Mit der Installation „Narcissus Garden“ war sie zudem auf der 33. Biennale von Venedig vertreten. Wenn ihre Teilnahme auch nur inoffiziell war, so gelang ihr mit dem Projekt, bei dem sie versuchte 1.500 Silberkugeln an Passanten zu verkaufen, der internationale Durchbruch.
Im gleichen Jahr veranstaltete Kusama in New York ihre ersten beiden öffentliche Performances. Besonders in den Niederlanden wurde sie für ihre progressiven Happenings gefeiert, bei der sie unter anderem nackte Männer mit Punkten bemalte. Diese „Naked Demonstrations“ oder „Self-Destructions“ waren als Protest gegen das Establishment zu verstehen und fanden auch in ihren Spiegelräumen statt, etwa im „Infinity Polka Dots Room“, ihrem ersten Raum mit UV-Licht. Auch in New York lud sie Ende der 1960er zu „Body Festivals“ auf öffentlichen Plätzen ein. Passanten konnten hier spontan teilnehmen und sich nackt mit großen Punkten, den Polka Dots, bemalen lassen, welche die Körper auf eine gewisse Art vereinen sollten. Kusamas Happenings waren dabei auch durchaus politisch, so veranstaltete sie 1968 in ihrer „Church of Self-Obliteration“ die erste Hochzeit zwischen Homosexuellen in den USA. Bis 1970 fanden insgesamt über 70 Performances und Happenings statt.
Parallel wurde Yayoi Kusama zur Unternehmerin. So gründete sie 1967 für ihren Experimentalfilm „Self-Obliteration“ eine Filmfirma, zudem ein Body-Painting-Studio, ein eigenes Modelabel mit Shop auf der 6th Avenue in New York und ein Kunstmagazin mit dem Titel KUSAMA orgy.
„Ein Polka Dot hat die Form der Sonne, die ein Symbol für die Energie der ganzen Welt und unseres lebendigen Wesens ist. Der Polka Dot hat auch die Form des Mondes: weich, rund, friedlich und weiblich. Polka Dots bleiben nie allein, sondern suchen wie Menschen nach Gesellschaft. Polka Dots vermehren sich und werden zu einer Bewegung für die Liebe und den Frieden.“
Yayoi Kusama: Ankündigung für ein Naked Happening in New York, 1968 [1]
Psychische Krisen und anhaltende Kreativität
Ab 1973 verschlechterte sich der psychische Gesundheitszustand der Künstlerin. Schon als Kind hatte sie Halluzinationen erlebt, diese kehrten nun zurück, begleitet von psychischen und physischen Zusammenbrüchen. Sie kehrte daraufhin nach Jahren in Europa und den USA nach Japan zurück und schuf vor allem Objekte aus Pappmaché und Ton sowie Collagen und Aquarelle. Ihre Arbeiten wurden in Ausstellungen in Tokio und Osaka gezeigt. Nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie entschied sie sich 1977 dazu, dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik in Tokio zu bleiben. In der Nähe eröffnete sie ein Atelier, in dem sie noch heute arbeitet.
Als das Kitakyushu Municipal Museum of Art Yayoi Kusama im Jahr 1987 mit einer großen Ausstellung ehrte, berichteten endlich auch die Medien in Japan erstmals positiv über das Werk der Künstlerin. Eine „Kusamania“ löste zudem ihre erste Retrospektive aus, die 1989 im Center for International Contemporary Arts in New York gezeigt wurde. 1993 wurde Kusama schließlich eingeladen, den Japanischen Pavillon der 45. Biennale in Venedig zu bespielen.
Seit Mitte der 1990er Jahre kreiert die Künstlerin umfangreiche ortsspezifische Installationen und nutzt auch verstärkt das Motiv des Kürbis. Mit zu den bekanntesten Arbeiten zählt die große Skulptur eines schwarz-gelben Kürbis auf der Kunstinsel Naoshima. Seit der Jahrtausendwende nahm die Aufmerksamkeit für Yayoi Kusamas künstlerisches Werk weiter zu. Ihre Arbeiten wurden mittlerweile in allen bedeutenden Kunstmuseen weltweit gezeigt, etwa im Los Angeles County Museum of Art, im Museum of Modern Art in New York oder 2011 im Centre Pompidou in Paris sowie in der Tate in London. Zwischen 2013 und 2016 waren große Kusama-Ausstellungen in Süd- und Mittelamerika zu sehen, 2015 tourte zudem eine Retrospektive durch Skandinavien. Ihre „Infinity Mirror Rooms“ zählen hier zu den größten Publikumsmagneten, ebenso wie ihre begehbaren Installationen „Obliteration Room“, bei denen Besucher den Raum mit Punkten selbst bekleben können und so am Kunstwerk mitwirken. 2017 eröffnete schließlich ein Kusama Museum in Tokio.
Seit 2009 arbeitet Yayoi Kusama an der Serie „My Eternal Soul“. Bis heute entstehen diese großformatigen Gemälde in leuchtenden Farben. Seit den späten 1970er Jahren ist Kusama zudem als Schriftstellerin tätig und verfasst Romane, Kurzgeschichten sowie Gedichte und Texte. Sie bringt sich ebenso bis heute kuratorisch in Ausstellungen ihrer Werke ein. Für den Lichthof des Gropius Bau in Berlin entstand so die Installation „A Bouquet of Love I Saw in the Universe“ mit über zwei Stockwerke aufragenden pinken Tentakeln, die mit ihren ikonischen Polka Dots versehen sind. Natürlich ist auch dieses Kunstwerk wieder sehr bunt, beeindruckend und einfach instagrammable. Es lohnt sich jedoch, hinter die fröhliche Fassade von Kusamas Werken zu blicken. Hierfür bietet die Publikation zur Ausstellung eine Vielzahl an Quellen, die es ermöglichen, die Arbeiten der Künstlerin aus neuen Perspektiven zu sehen.
Die Publikation „Yayoi Kusama. Eine Retrospektive“, herausgegeben von Stephanie Rosenthal, ist 2021 bei Prestel erschienen (ISBN: 978-3-7913-7828-2). Der Band, der die gleichnamige Ausstellung im Gropius Bau begleitet, enthält neben zahlreichen Abbildungen, einer Werkliste, einer biographischen Chronologie und gezeichneten Ausstellungsplänen auch Texte von Stephanie Rosenthal, Antje von Graevenitz, Romina Dümler, Lynn Zelevansky, Burcu Dogramaci, Yilmaz Dziewior, Ana Janevski, Greta Kühnast, Akira Tatehata, Marie Laurberg und Jörg Heiser.
Yayoi Kusama: Eine Retrospektive. A Bouquet of Love I Saw in the Universe
Gropius Bau, Berlin
23. April bis 15. August 2021
musermeku dankt dem Prestel Verlag für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar und dem Gropius Bau für den freien Eintritt in die Ausstellung.
Bilder: Angelika Schoder, Gropius Bau, Berlin 2021,
Header-Bild: Yayoi Kusama: A Bouquet of Love I Saw in the Universe, 2021 – Angelika Schoder, Gropius Bau, Berlin 2021
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnote
[1] Yayoi Kusama: Ankündigung eines Naked Happening im Musiktheater Fillmore East, New York 1968 – Siehe: Yayoi Kusama. Eine Retrospektive, Hg.v. Stephanie Rosentha, 2021, S. 145-193, S. 171.
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