[Rezension] Wie hat der Surrealismus die Kunst der letzten 100 Jahre bis heute beeinflusst? Dieser Frage geht die Ausstellung „Surrealismus. Welten im Dialog“ nun auf den Grund, indem sie die Werke zentraler surrealistischer Akteure wie Max Ernst, Salvador Dalí, René Magritte oder Claude Cahun den Arbeiten aktueller Kunstschaffender gegenüberstellt, etwa Cindy Sherman, Sarah Lucas oder David Cronenberg. Anhand von rund 120 Gemälden, Grafiken, Filmstills und Filmausschnitten sowie AR-Installationen zeigt die Ausstellung, wie die Themen und künstlerischen Methoden des Surrealismus bis heute unseren Zeitgeist treffen. Die begleitend zur Ausstellung erschienene Publikation betrachtet vertiefend den Einfluss des Surrealismus auf aktuelle Kunstakteure, die sich etwa mit Fragen zu Identität und Geschlecht auseinandersetzen, mit dem Einfluss moderner Technologien auf unser Leben oder mit Fragen zur psychischen Gesundheit.
„Es gibt nichts, das surrealer ist, als die Realität selbst.“ [1]
Philippe Soupault (1897-1990)
Surrealistische Kunst, von den Anfängen bis heute
Vor genau 100 Jahren, im Jahr 1924, entstand mit dem „Manifeste du Surréalisme“ eine neue künstlerische Bewegung, die die Kunst und unsere Gesellschaft bis heute prägt. Die Surrealisten, maßgeblich beeinflusst von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, wollten die Welt neu denken. Sie lehnten traditionelle und logische Denkmuster ab und suchten nach einem radikalen Bruch mit einer von Chaos und Unsinn bestimmten Gesellschaft. Dabei stützten sie sich auf die Ideen Sigmund Freuds zur Psychoanalyse und Traumdeutung, um das Unbewusste und Irrationale zu erforschen. Auch im 21. Jahrhundert finden die Ideen des Surrealismus Anklang und werden in unserer technisierten und digitalisierten Welt noch einmal neu gedacht.
Vor diesem Hintergrund lädt die Ausstellung „Surrealismus: Welten im Dialog“ dazu ein, die surrealistischen Ideen und ihre Einflüsse über die letzten 100 Jahre hinweg zu entdecken. Hierzu werden Kunstwerke des klassischen Surrealismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Werken späterer Generationen surrealistischer Kunstschaffender gegenüber gestellt. So wird deutlich, dass der Surrealismus keine abgeschlossene Epoche ist, sondern sich ständig weiterentwickelt hat – bis in das 21. Jahrhundert hinein. Durch die Gegenüberstellung früher surrealistischer Werke mit zeitgenössischen Positionen zeigt sich, dass Fragen nach Identität, Sexualität oder Ängsten unsere Gesellschaft bis heute prägen. [2]
„[Surrealismus ist so] schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und einem Regenschirm auf einem Seziertisch“. [3]
Comte de Lautréamont (1846-1870)
Das Unbewusste und Irrationale in der Kunst
Für die Surrealisten wurden Träume, in denen das Unbewusste mit der Realität verschmilzt, zu einer zentralen Inspirationsquelle. Im ersten Abschnitt widmet sich die Ausstellung daher dem Einfluss, den die Psychoanalyse und die Traumdeutung auf die Bewegung des Surrealismus hatten. So setzten sich die Kunstschaffenden in surrealistischen Zeitschriften und Publikationen immer wieder mit Träumen auseinander. Zentralen Figuren wie André Breton, Giorgio de Chirico und Antonin Artaud fertigten sogar Traumprotokolle an, um das innere Selbst authentisch auszudrücken und auch die Eindrücke des Ersten Weltkriegs zu verarbeiten. In Bretons Pariser Atelier fanden zudem gemeinsame Séancen statt, bei denen die Teilnehmenden versuchten, das Unbewusste zu erforschen und traumähnliche Zustände zu erzeugen.
Ziel der Surrealisten war es, über den Alltag hinauszugehen, logische Zusammenhänge zu sprengen und diese Grenzerfahrungen in die Kunst einzubringen. Aus der Analyse und Interpretation ihrer Träume entwickelten die Kunstschaffenden eine völlig neue Bildsprache, etwa surreale Landschaften, die ungewöhnliche und gegensätzliche Elemente miteinander kombinierten. Ein Beispiel sind die menschenleeren, endlosen Weiten in den Gemälden von Yves Tanguy und Salvador Dalí, die bis heute diverse Kunstakteure beeinflussen, etwa den Regisseur Tarsem Singh für seinen surrealistischen Thriller „The Cell“ (2000). [4]
Der zweite Ausstellungsabschnitt widmet sich dem Irrationalen in der surrealistischen Kunst. Das Ziel der Surrealisten war es, ihr künstlerisches Schaffen von rationaler Kontrolle zu befreien, um zu einer tiefergehenden und „wahrhaftigeren“ Realität vorzudringen. Dabei experimentierten sie mit neuen Methoden, die die schöpferische Kraft des Unbewussten erschließen und gleichzeitig traditionelle ästhetische Normen, gesellschaftliche Moralvorstellungen und kulturelle Zwänge hinter sich lassen sollten. Statt akademischer Kunst bevorzugten die Surrealisten spontane, intuitive Ansätze. Literarisch zeigte sich dies in der écriture automatique (Automatisches Schreiben) oder in der bildenden Kunst in Techniken wie der Frottage (Reibetechnik) und der Fumage (Verwendung von Kerzenrauch). All diese Ansätze verbindet das Element des Zufalls, das neue visuelle Motive entstehen lässt. Auch in der Fotografie und im Film setzten die Surrealisten auf innovative Techniken wie das Fotogramm, Überblendungen und Montagen, die neue und überraschende Perspektiven eröffneten. Ein Beispiel ist Alfred Hitchcocks Film „Spellbound“ (1945, dt.: Ich kämpfe um dich), für den Salvador Dalí eine surrealistische Traumsequenz entwarf.
Zufallstechniken wie halbautomatisches Zeichnen und Malen waren ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der surrealistischen Techniken. Diese Ansätze bereiteten später den Weg für Bewegungen wie den Abstrakten Expressionismus, wie etwa Jackson Pollocks Drip Paintings. Eine andere Art der Zufallstechnik ist das Spiel der Cadavre Exquis („exquisiter Leichnam“): Hierbei falteten mehrere Spieler ein Papier und setzten eine Zeichnungen von anderen Spielern fort, ohne die vorherigen Abschnitte zu sehen. So entstanden bizarre und rätselhafte Kombinationen. Auch die Technik der Collage wurde von den Surrealisten genutzt, um widersprüchliche Elemente zusammenzuführen und neue Zusammenhänge zu schaffen. Diese surrealistischen Prinzipien, die Kombination ursprünglich unzusammenhängender Elemente und die Verschiebung von Kontexten, sind auch heute allgegenwärtig und zeigen sich bei Memes oder in den Ergebnissen von KI-Bildgeneratoren. [5]
„Kein Objekt ist so unwiderruflich mit seinem Namen verbunden, dass sich kein anderer dafür finden lässt, der besser passt.“ [6]
René Magritte (1898-1967)
Metamorphosen und erotische Visionen
Im dritten Ausstellungsabschnitt geht es um die Metamorphose als zentrales Motiv surrealistischer Kunst. Wie der fließende Übergang und die Verschmelzung scheinbar gegensätzlicher Elemente visuell fesseln und zum Nachdenken anregen können, zeigen etwa die Werke von René Magritte. Der Künstler nutzte die Metamorphose, um in seinen Gemälden über die bloße Zusammenstellung verschiedener Elemente hinauszugehen und durch das Prinzip der Verschmelzung neue Räume der Interpretation zu eröffnen. Ein bekanntes Beispiel sind Magrittes Darstellungen einer Taube, deren Umrisse gleichzeitig einen bewölkten Himmel zeigen. Diese nahtlose Verbindung von Vertrautem und Unbekanntem hat ein subversives Potenzial: Sie fordert die Betrachtenden auf, traditionelle Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen und neue Perspektiven einzunehmen.
Das Prinzip der Metamorphose erlaubte es den Surrealisten auch, gesellschaftliche Normen zu dekonstruieren und die Suche nach der eigenen Identität foranzutreiben. Ein Beispiel hierfür sind die Arbeiten von Claude Cahun, die in fotografischen Selbstporträts die Grenzen zwischen den Geschlechtern bewusst auflöste. Bis heute verbinden Kunstschaffende Vertrautes mit dem Unbekannten, um Stereotype zu hinterfragen und neue Formen des Ausdrucks zu finden, etwa Renate Bertlmann mit ihrer Serie „Zärtliche Pantomime I-II-III-IV“ (1976-2012) oder David Cronenberg in zahlreichen seiner Filme, wie etwa „Naked Lunch“ (1991). [7]
Im letzten Ausstellungsabschnitt geht es um das Zusammenspiel von Lust und traumhaftem Verlangen in den Werken der Surrealisten. Mit der offenen Darstellung von Sexualität stellten sie die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft bewusst infrage. Häufig dominierte dabei der männliche Blick auf die Frau als Objekt. Bekannte Beispiele sind etwa „Le Violon d’Ingres“ (1924) von Man Ray, die Fotografie eines Frauenrückens, auf den f-förmige Öffnungen gemalt sind die an eine Geige erinnern, oder Hans Bellmers Puppenskulpturen „Le Poupée“ aus den 1930er Jahren, die eine fetischisierte Darstellung des Weiblichen zeigen. Bis heute nehmen Künstlerinnen wie Cindy Sherman in ihren Arbeiten direkten Bezug auf Bellmers Ästhetik, etwa in ihrer Fotoserie „Untitled“ mit deformierten medizinischen Plastikpuppen.
Sexuelle Offenheit und die Auflösung konventioneller Geschlechterrollen wurde auch in den Werken von Toyen, Claude Cahun oder Pierre Molinier thematisiert. Auf die Werke dieser Surrealisten beziehen sich heute Künstlerinnen wie Penny Slinger oder Renate Bertlmann und erweitern die historischen Perspektiven durch neue feministische Ansätze. [8]
Anlässlich der Ausstellung „Surrealismus: Welten im Dialog“ erschien die englischsprachige Publikation „Surrealism. Worlds in Dialogue“, herausgegeben von Maximilian Letze für das Institut für Kulturaustausch, Tübingen, 2024 im Hirmer Verlag (ISBN: 978-3-7774-4407-9). Der Ausstellungskatalog mit zahlreichen farbigen Werkabbildungen beinhaltet Texte von u.a. Patricia Allmer, Kristina Jaspers, Barbara Martin und Carolin Wurzbacher.
Surrealismus. Welten im Dialog
Kunsthalle Vogelmann, Heilbronn
31.08.2024-05.01.2025
musermeku dankt dem Hirmer Verlag für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: Grete Kolliner: Die Tänzerin Ellinor Tordis (um 1930) – Wien Museum – CC0 – bearbeitet
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Zitiert nach: Surrealism. Worlds in Dialogue, Hg.v. Maximilian Letze, Institut für Kulturaustausch, 2024, S. 9. (übersetzt von der Autorin)
[2] Dazu: Vorwort, Ebd., S. 7f.
[3] Zitiert nach: S. 75. (übersetzt von der Autorin)
[4] Dazu: Carolin Wurzbacher: The Collective Dream, In: Ebd., S. 53.
[5] Dazu: Dies.: The Playful Irrational, In: Ebd., S. 77.
[6] Zitiert nach: S. 141. (übersetzt von der Autorin)
[7] Dazu: Carolin Wurzbacher: The Boundless Matamorphosis, In: Ebd., S. 113.
[8] Dazu: Dies.: The Desired Object, In: Ebd., S. 143.
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