Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne

Okkultismus und Magie waren wichtige Einflüsse für den Surrealismus. Dies zeigt nun eine Ausstellung und die begleitende Publikation.

Okkultismus und Magie waren wichtige Einflüsse für den Surrealismus. Dies zeigt nun eine Ausstellung und die begleitende Publikation.

[Rezension] Ob Traumwelten, das Unbewusste und Irrationale oder magische Ideen: Zahlreiche Kunstschaffende des Surrealismus wendeten sich in ihren Werken phantastischen Themen zu. Die Ausstellung „Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne“, die zunächst in der Peggy Guggenheim Collection in Venedig zu sehen war und nun an das Museums Barberini nach Potsdam kommt, befasst sich als erste umfangreiche Werkschau mit dem Interesse der Surrealisten an Magie und Mythen. Der begleitende Ausstellungskatalog zeigt, ausgehend von der „metaphysischen Malerei“ von Giorgio de Chirico über Max Ernsts ikonisches Gemälde „Die Einkleidung der Braut“ bis hin zu den Bildwelten im Spätwerk von Leonora Carrington und Remedios Varo, welche Rolle okkulte Symbole in vielen surrealistischen Arbeiten spielen und wie unter den Akteuren oft das Selbstbild als Magier, Hexe oder Alchemist gepflegt wurde.


Salomon Trismosin: A moon above a queen dressed in blue, and a sun above a king dressed in red
In ihrer Zeitschrift „Médium“ griffen die Surrealisten die Vorlesungen zu Alchemie und Okkultismus von René Alleau auf, die dieser 1952/53 in Paris gab. In der Zeitschrift wurden dabei auch Bilder aus dem alchemistischen Werk „Splendor solis“ abgebildet. Als Idee sexuellen Verlangens griffen die Surrealisten u.a. das alchemistische Motiv der „Königlichen Hochzeit“ auf: die Vereinigung einer weißen Königin und eines roten Königs, begleitet durch ihre Symbole, den Mond und die Sonne.

Salomon Trismosin: A moon above a queen dressed in blue, and a sun above a king dressed in red; representing two alchemical principles, In: Splendor solis – Wellcome CollectionPublic Domain (beschnitten)

„Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“

André Breton: Manifest des Surrealismus (1924) [1]

Die Feier des Irrationalen und Unbewussten

Der Surrealismus, der nach dem Ersten Weltkrieg in Paris entstand und in den folgenden Jahren von Kunstschaffenden in verschiedenen Ländern weltweit aufgegriffen wurde, war mehr als eine literarische und künstlerische Strömung. Die Avantgarde-Bewegung stand auch für eine bestimmte Lebensphilosophie. Die Surrealisten sprachen sich gegen einen Kult der Vernunft aus und plädierten für eine Auseinandersetzung mit Träumen, indem sie in ihren Werken das Irrationale und Unbewusste in den Mittelpunkt rückten. Den konzeptionellen Rahmen der Kunstbewegung bildeten zwei Manifeste des französischen Schriftstellers André Breton, die er 1924 und 1929 veröffentlichte. In seinem ersten Manifest definierte Breton den Surrealismus als die Suche nach einem Zustand, in dem die scheinbar widersprüchlichen Konzepte von Traum und Wirklichkeit miteinander verschmolzen werden sollten.

Zum einen verortete Breton den Surrealismus in einer Tradition des phantastischen Schreibens mit literarischen Vorläufern wie Edgar Allan Poe oder Arthur Rimbaud. Zum anderen orientiert sich der Surrealismus auch stark an den Theorien des Wiener Psychoanalytikers Sigmund Freud, dessen Erforschung der symbolischen Sprache der Träume zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die Kunstbewegung wurde. Freud sah Träume als verschlüsselte Erzählungen an, in denen der unbewusste Teil der Psyche verborgene Wünsche und Sehnsüchte projiziert. Was die Surrealisten besonders faszinierte, ist der verwirrende, teils verstörende Charakter von Träumen. Sie sind irrational und von der herkömmlichen räumlichen und zeitlichen Logik befreit. Ganz ähnlich sind auch die Kunstwerke des Surrealismus häufig von rätselhaften, traumähnlichen Symbolen und Themen bestimmt.

Wie die Ausstellung „Surrealismus und Magie“ zeigt, ist der Surrealismus, anders als zeitlich naheliegende Bewegungen wie der Impressionismus oder der Kubismus, nicht durch einen bestimmten Stil gekennzeichnet. Stattdessen verbindet die Werke die Idee, sich mit dem Unbewussten, mit Ängsten oder mit Sehnsüchten auseinanderzusetzen und das Reich des Irrationalen zu ergründen. Der Betrachter soll in eine „surreale Welt“ eintauchen und die Bedeutung der Werke für sich hinterfragen. Das Auslösen eines Gefühls der „Entfremdung von der Realität“ ist dabei durchaus erwünscht. [2]


Albrecht Dürer: Die Hexen
In seiner Studie „L’Art magique“ nutzte André Breton Bilder von Albrecht Dürer und Hans Baldung Grien und setzte sich mit der Hexenverfolgung in Europa auseinander. Viele Künstlerinnen des Surrealismus sahen Hexen als feministische Ikonen an, die Kreativität und sexuelle Selbstbestimmung verkörperten.

Albrecht Dürer: Die Hexen (1498-1502) – Rijksmuseum, Objektnummer: RP-P-OB-1229 – Public Domain (beschnitten)

Künstlerische Faszination für Magie und Okkultismus

Im 19. Jhd. war Paris das Zentrum von technischem und industriellem Fortschritt. Doch parallel zu diesen Modernisierungsprozessen entwickelte sich auch eine Faszination für das Irrationale: In gewissen gesellschaftlichen Kreisen stieg das Interesse an Magie und Okkultismus. Dies spiegelt sich auch in der Idee des Surrealismus wider; das Okkulte dient hier als Kritik am „seelenlosen Materialismus einer rationalisierten Moderne“. [3] Bereits Freud hatte die Magie als einen mit den Ursprüngen der Menschheit verbundenen Impuls definiert. Es sei eine ursprüngliche Praxis, die auf der Vorstellung beruhe, dass Ereignisse in der Realität durch die Kraft des Geistes beeinflusst werden können. Freud bezeichnete dies als die „Allmacht der Gedanken“. [4]

Die Surrealisten waren von diesem Konzept fasziniert. Magie wurde für sie zu einer Metapher für das schwer fassbare Reich des Irrationalen, in dem Realität und Traum zu einer neuen, absoluten Wirklichkeit verschmelzen. In Anlehnung an diese Vorstellung von Magie wendeten sich zahlreiche Kunstschaffende des Surrealismus auch dem Okkultismus zu, einem Denksystem, das auf dem Glauben an die Existenz von höheren Kräften beruht, die das Universum durchdringen. Für die Surrealisten stellte das Okkulte ein Spiegelbild des Unbewussten dar, dessen tiefste Abgründe es künstlerisch zu erforschen galt. Als wichtige Inspirationsquelle diente vielen das Buch „Das Museum der Hexer, Magier und Alchemisten“ von Émile-Jules Grillot de Givrys aus dem Jahr 1929, das die Verbindung zwischen Kunst und Magie untersuchte und eine Reihe von Kunstwerken von Albrecht Dürer, Hans Baldung Grien oder Hieronymus Bosch hinsichtlich ihrer okkulten Symbolik betrachtete. [5]

Am Okkultismus faszinierte die Kunstschaffenden neben den symbolischen auch die philosophischen Aspekte, insbesondere das Konzept geheimnisvoller, unsichtbar wirkender Kräfte, die das Universum beeinflussen und sich einer rationalen, wissenschaftlichen Untersuchung entziehen. Daher stammt auch der lateinische Ursprung occultus, das „versteckt“ oder „verborgen“ bedeutet. In seinem zweiten Manifest forderte André Breton entsprechend die „Okkultisierung“ der Kunstbewegung und beschrieb den Surrealismus als „den schwindelnden Abstieg in uns selbst, die systematische Erhellung verborgener Orte und die progressive Verfinsterung anderer, ein ständiges Wandeln auf streng verbotenem Terrain“. [6]


Pamela Colman Smith: Rider-Waite Tarot Deck
Im späten 18. Jhd. entstanden Tarot-Karten mit okkulten und magischen Symbolen. Viele Surrealisten befassten sich mit Tarot und griffen in ihren Werken die Ikonographie der Karten auf, etwa Leonora Carringtons „Porträt von Max Ernst“, das an den „Eremit“ angelehnt ist. Die Karte „Der Stern“ diente in ihrer Bedeutung der Erneuerung als Inspiration für André Bretons Erzählung „Arcanum 17“.

Pamela Colman Smith: Rider-Waite Tarot Deck (1909) – The Hermit / The Star – Wikimedia Commons – Public Domain (beschnitten)

Alchemistische und magische Symbole

Grundsätzlich sahen die Surrealisten eine Parallele zwischen der künstlerischen Schöpfung und der Zauberei, da beide die Erschaffung neuer Scheinwelten zum Ziel haben. In ihrem Selbstverständnis betrachteten sie sich als moderne Zauberkünstler und Magier und inszenierten sich häufig als phantastische Gestalten mit okkulter Symbolik. In seiner Studie „L’Art magique“ von 1957 definierte Breton den Surrealismus entsprechend als die „Wiederentdeckung der Magie“ in einer entzauberten und rationalisierten Moderne. [7] Der Surrealismus steht damit nicht nur in einer Tradition des phantastischen Schreibens, wie Breton in seinem ersten Manifest betont; er steht nach seinem zweiten Manifest auch in der Tradition der „magischen Kunst“, zu dessen Vorläufern etwa Hieronymus Bosch gehört. Viele Surrealisten ließen sich von dessen fantastischer Ikonographie inspirieren und traten durch ihre Werke in einen Dialog mit ihren kunsthistorischen Vorbildern.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wuchs das Interesse der Surrealisten am Okkultismus. Sie wendeten sich der Magie als einer symbolischen Sprache zu, mit der sie ihre Hoffnungen auf eine Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg ausdrücken konnten. Eine Idee der Kunstbewegung war es, dass ein umfassender sozialer und kultureller Wandel nur möglich sei, wenn die Menschen gemeinsam die Bedeutung des Irrationalen und der Phantasie neu bewerten würden. Um dies anzustoßen, griffen die Surrealisten in den 1940er Jahren vermehrt auf die phantastische Symbolik der Alchemie zurück, eine okkulte Lehre, die sich mit dem Konzept der Transmutation und Regeneration beschäftigt. Diese Ideen der magischen Erneuerung lagen auch Bretons okkulter Erzählung „Arcanum 17“ aus dem Jahr 1945 zugrunde, benannt nach der Karte „Der Stern“ des traditionellen Tarotdecks, welche Hoffnung und Wiedergeburt symbolisiert.

Viele Kunstakteure des Surrealismus teilten Bretons Interesse an Magie und Okkultismus, darunter Victor Brauner, Leonora Carrington, Max Ernst, Leonor Fini, Wifredo Lam, Kurt Seligmann und Remedios Varo. So wurde Max Ernst im April 1942 in einer Sonderausgabe der Surrealismus-nahen Zeitschrift View als der Alchimist und Magier der surrealistischen Bewegung gepriesen. [8] Der Künstler Kurt Seligmann wurde sogar selbst zum Experten für Magie und veröffentlichte 1948 den okkulten Klassiker „The Mirror of Magic: A History of Magic in the Western World“. Die Ausstellung „Le Surréalisme en 1947“ in der Galerie Maeght in Paris markierte schließlich eine „Initiation“ der Surrealisten in eine betont magische Weltanschauung, die von diesem Zeitpunkt an das Wesen des Surrealismus als vielschichtige internationale Bewegung prägte.


Gustave Moreau: Oedipus and the Sphinx
Die Sphinx war als Verkörperung naturgebundener, irrationaler Weiblichkeit ein häufiges Motiv in den Werken von Gustave Moreau und den Symbolisten. Auch bei den Surrealisten ist die Sphinx ein wiederkehrendes Motiv. Für Leonor Fini wurde die Figur zu einem künstlerischen Alter Ego, das sie mit weiblicher Stärke und Selbstbestimmung assoziierte.

Gustave Moreau: Oedipus and the Sphinx (1864) – Metropolitan Museum of ArtPublic Domain (beschnitten)

Neue Perspektiven auf den Surrealismus

Anhand von mehr als 90 Leihgaben aus rund 50 internationalen Museen befasst sich die Ausstellung „Surrealismus und Magie“ mit dem Einfluss, den okkultistische Lehren, alchemistische Ideen und magische Vorstellungen auf die Kunst der Surrealisten hatten. Ausgangspunkt sind Werke aus der Peggy Guggenheim Collection, die den Dialog der Surrealisten mit der okkulten Tradition widerspiegeln, etwa Victor Brauners „Der Surrealist“, Leonora Carringtons „Oink (They Shall Behold Thine Eyes)“, Paul Delvauxs „Der Anbruch des Tages“, Max Ernsts „Die Einkleidung der Braut“, Leonor Finis „Die Schäferin der Sphinxe“ und „Die Sonne in ihrem Schmuckkästchen“ von Yves Tanguy. Neben den bedeutenden Akteuren des Surrealismus werden auch Werke von weniger bekannten Kunstschaffenden beleuchtet, darunter Wilhelm Freddie, Jacques Hérold, Wifredo Lam, Wolfgang Paalen und Roland Penrose. Einer der Schwerpunkte ist die feministische Auseinandersetzung mit Alchemie, Hexerei und einem weiblichen göttlichen Prinzip in den Werken von Künstlerinnen wie Leonora Carrington, Leonor Fini, Dorothea Tanning und Remedios Varo.

Während der Surrealismus in der Kunstgeschichte lange eher aus einer psychoanalytischen Perspektive betrachtet wurde, wird nun zunehmend erforscht, wie die Auseinandersetzung mit Magie und Okkultismus zu den wesentlichen thematischen und philosophischen Anliegen der Avantgarde-Bewegung beitrug. Die Publikation „Surrealismus und Magie“, die begleitend zur Ausstellung in der Peggy Guggenheim Collection und im Museum Barberini erschienen ist, gibt nun vertiefte Einblicke in den aktuellen Forschungsstand zu diesem Aspekt des Surrealismus und ermöglicht eine neue Perspektive auf diese Kunstbewegung.


Anlässlich der Ausstellung „Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne“ erschien 2022 der begleitende Ausstellungskatalog im Prestel Verlag (ISBN: 978-3-7913-7814-5 auf Englisch bzw. ISBN: 978-3-7913-8 auf Deutsch). Die von Grazia Subelyte und Daniel Zamani herausgegebene Publikation beinhaltet, neben den Abbildungen der Werke aus der Ausstellung, einem Glossar und einer Auswahlbibliographie, Beiträge von Susan Aberth, Will Atkin, Victoria Ferentinou, Alyce Mahon, Kristoffer Noheden, Gavin Parkinson, Grazina Subelyte und Daniel Zamani.


Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne

22.10.2022 – 29.01.2023
Museums Barberini

musermeku dankt dem Prestel Verlag für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.


Header-Bild: Gustave Moreau: Oedipus and the Sphinx (1864) – Metropolitan Museum of ArtPublic Domain (beschnitten und bearbeitet)


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Angelika Schoder

Über die Autorin

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Siehe: Richard Armstrong, Karole P.B. Vail, Ortrud Westheider: Vorwort, In: Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne, Hg.v. Grazia Subelyte, Daniel Zamani. 2022, S. 7.

[2] Dazu: S. 8.

[3] Siehe: Ebd.

[4] Dazu: Daniel Zamani: Wunderbare Welten. André Breton und die „Okkultation des Surrealismus“, In: Ebd., S. 20.

[5] Siehe: Ebd., S. 19.

[6] Zitiert nach: Vorwort, In: Ebd., S. 9.

[7] Dazu: Zamani: Wunderbare Welten, In: Ebd., S. 20.

[8] Mehr zur Rolle von Max Ernst siehe: Ebd., S. 20ff.


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