[Rezension] Das Unvorhersehbare als Methode hat in der Kunst eine lange Tradition. Besonders im 20. Jahrhundert öffneten sich zahlreiche Künstler dem Prinzip des Zufalls, wie das Kunstmuseum Stuttgart in seiner aktuellen Ausstellung „[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls“ zeigt. Das Museum wirft einen Blick auf die unterschiedlichen methodischen Ansätze, die bestimmt werden von Materialien, der Mathematik oder philosophischen Aspekten. Verdeutlicht wird das Prinzip des Zufalls dabei anhand von 140 Werken, etwa von Hans Arp, John Cage, Niki de Saint-Phalle, Marcel Duchamp, Gerhard Richter oder Ben Vautier.
Das Unerwartete in Zeiten des Umbruchs
Ausgangspunkt der Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart ist die Theorie, dass dem Zufall besonders in Zeiten des Umbruchs eine große Bedeutung in bildender Kunst, Literatur oder Musik eingeräumt wird. Dies kann die Zeit eines persönlichen Umbruchs sein, wie etwa im Fall des französischen Dichters Victor Hugo, der während seines Exils auf den Kanalinseln Mitte des 19. Jahrhunderts sogenannte „Klecksografien“ schuf, von Flüssigkeiten geschaffene zufällige Formen, die er mit fantasievollen Titeln versah.
Doch auch politische Umbrüche, etwa die beiden Weltkriege, riefen bei Künstlern das Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit dem Zufall hervor. Als Beispiel tritt in der Ausstellung Hans Arp in Erscheinung, der in den 30er und 40er Jahren Collagen „nach den Gesetzen des Zufalls geordnet“ schuf. Auch der Surrealist Max Ernst bediente sich in seinen Werken des Zufalls, etwa mithilfe der Décalcomanie, einer Technik des Farbabzugs.
Der computerbasierte Zufall
Dem Würfel kommt in der zufallsbasierten Kunst eine besondere Bedeutung zu, vereint er doch die Prinzipien von Ordnung und Chaos, da er für Wiederholung, aber auch für Unberechenbarkeit steht. Die englische Künstlergruppe Troika (bestehend aus Eva Rucki, Conny Feyer und Sebastian Noel) gestaltete mithilfe von Würfeln etwa Flächen, welche durch die Augen von Würfeln bestimmt werden. Festgelegt wurde die Anordnung der Augen durch einen Zellulären Automaten, eine Art Computer. Auch die Mathematiker Frieder Nake und George Nees nutzen Compter für ihre Werke. So schrieben sie etwa in den 60er Jahren, basierend auf Zufallszahlen, Programme für das automatische Zeichengerät „Zuse Z 64“.
Der Zufall als Komponist
Im Jahr 1951 folgte der amerikanische Komponist John Cage bei dem Stück „Music of Changes“ der Aleatorik und machte sich das Zufallsprinzip zunutze. Als Grundlage nutze er das „Buch der Wandlungen“, das chinesische „I Ging“, und bestimmte durch Münzwürfe die Lautstärke, die Dauer sowie Höhe und Länge von Tönen. Diese Methode zeigte, dass der Zufall hier allerdings weiterhin an bestimmten Regeln orientiert war. Aus diesem Grund schuf Cage im Laufe der 50er Jahre zunehmend Partituren, bei denen Teile offen gehalten waren. Bei der Aufführung war es somit dem Musiker überlassen, das Stück zu vervollständigen – der reine Zufall also, der sich nicht durch Cage als Komponisten beeinflussen ließ. Auch Cages Schüler experimentierten in ihren Kompositionen mit dem Einfluss des Zufalls, etwa Dick Higgins in seinen Partituren mit Einschusslöchern von 1967. [1]
Die Rolle des Zufalls im Film
Der Begleitband zur Ausstellung greift in erster Linie die Inhalte der Ausstellung auf, nur wenige ergänzende Themen werden hier angesprochen, wie etwa die Rolle des Zufalls im Spielfilm. Explizit geht es, neben Michael Hanekes „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ (1994), um Tom Tykwers „Lola rennt“ (1998). Der Zufall wird in diesen Filmen als Einfluss auf das alltägliche Leben bestimmter Menschen dargestellt, wobei es um Aspekte wie Freiheit und Fremdbestimmung geht. „Lola rennt“ wird hier als Beispiel für einen sogenannten „Entweder-Oder-Film“ diskutiert, der drei Versionen einer Geschichte verfolgt. Jede Begegnung von Lola mit einer Person bestimmt den weiteren Verlauf der Handlung – bewusste Entscheidungen wirken sich ebenso aus, wie Zufälle, die Lola nicht beeinflussen kann. In seinem Text beschreibt Medienwissenschaftler Florian Mundhenke den Film als „Appell zum Ausbruch aus der Diktatur der Zeitlichkeit“, welcher es den Figuren ermöglicht ihr Schicksal wiederzufinden, das durch nicht erklärbare Zufälle abhandengekommen war. [2] – Leider werden die im Katalog angesprochenen Filme übrigens nicht im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung gezeigt, auch wenn sich dies angeboten hätte.
Der Begleitband zur Ausstellung „[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls“, herausgegeben von Ulrike Groos und Eva-Martina Froitzheim, ist 2016 im Wienand Verlag erschienen (ISBN: 978-3-86832-341-2). Der Band enthält, neben zahlreichen Werk-Abbildungen und einem vollständigen Objektverzeichnis, Texte u.a. von Stefan Klein, Dietmar Guiderian, Bettina Thiers, von der Kuratorin Eva-Marina Froitzheim oder von Florian Mundhenke.
[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls
Kunstmuseum Stuttgart
24.09.2016 – 19.02.2017
musermeku dankt dem Kunstmuseum Stuttgart für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: Angelika Schoder – Kunstmuseum Stuttgart, 2016
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Dazu: Anna-Maria Drago Jekal: Zwischen geplant und unvorhersehbar: John Cage und der Zufall in der Musik, In: [un]erwartet. Die Kunst des Zufalls, Hg.v. Ulrike Groos und Eva-Martina Froitzheim, Wienand Verlag 2016, S. 56-59
[2] Florian Mundhenke: Konstruierte und zerstörte Wirklichkeit bei Tom Tykwer und Michael Haneke: Über die Rolle des Zufalls im Spielfilm, In: Ebd., S. 128-134, hier S. 131
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