[Film-Tipp] Mit seinem Werk „Law of the Journey“ richtete der Künstler Ai Weiwei den Fokus der 21. Sydney Biennale auf die Situation von Flüchtlingen. Seine Installation eines 60 Meter langen Flüchtlingsbootes, das aus dem Material echter Boote aus dem Mittelmeerraum hergestellt wurde, war im Rahmen der Biennale auf Cockatoo Island zu sehen. Ergänzend präsentierte Ai Weiwei in Sydney auch seinen Film „Human Flow“.
Auf der Flucht
Es sah ein bisschen nach einem Gedenkprojekt zum 72. Jahrestag der Landung in der Normandie aus, was der Künstler Ai Weiwei im Mai 2016 vorbereitete. Zeitlich hätte es gepasst, denn die Invasion der Alliierten an der Atlantikküste fand in der Nacht zum 6. Juni 1944 statt. Damals setzten 3.100 Boote von Großbritannien nach Frankreich über, an Bord waren rund 150.00 amerikanische, britische und französische Soldaten, die letztendlich an der Westfront des Zweiten Weltkriegs die Befreiung des von den Nationalsozialisten besetzen Frankreichs vorbereiten sollten. Als Ai Weiwei am 29. Mai 2016 auf seinem Instagram-Account also Bilder von einem mit militärisch wirkenden Menschenfiguren besetzten Boot veröffentlichte, hätte sich schon die Frage aufdrängen können, ob sich der Künstler hier dem Thema D-Day widmet.
Fast wie Soldaten reihten sich Ai Weiweis Figuren nebeneinander, ebenso aufblasbar wie das Boot in dem sie sitzen. Gesichtslos, uniform – und überlebensgroß. Bei Twitter sprach Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich damals schon von einer „Ritterrüstungsästhetik“, wohl bedingt durch die helmartigen Köpfe der Figuren. Erst aus einer anderen Perspektive auf Ai Weiweis Kunstwerk offenbarte sich, dass sich zwischen den aufrecht sitzenden Figuren in der Mitte des Boots weitere Gestalten befanden. Anhand der Einzelaufnahmen auf Ai Weiweis Instagram-Account ließ sich schließlich deren Bedeutung erkennen: Die kauernden Figuren halten kleinere Gestalten und Bündel in ihren Armen – es waren Kinder und Babys, ebenso überlebensgroß, aufblasbar und gesichtslos wie ihre aufrecht sitzenden Pendats.
Ai Weiwei verweist in seinen Installationen immer wieder auf die Situation von Flüchtlingen, denen eine sichere Einreise nach Europa verwehrt wird oder die in Auffanglagern unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen. Der Künstler besuchte mehrfach Zeltlager, etwa im griechischen Idomeni, einerseits um sich selbst mit den Geflüchteten auszutauschen, andererseits um mit seiner Anwesenheit auch das Interesse der Medien auf die unhaltbaren Zustände zu lenken, unter denen die Menschen dort ums Überleben kämpfen. Das Wegschauen vor dem Elend fällt eben schwerer, wenn der große Ai Weiwei mit Pressevertretern kommt, so vermutlich seine Hoffnung.
Kunst als Protest
Im Januar zuvor hatte der Künstler seine Ausstellung „Ruptures“ in der Faurschou Foundation in Kopenhagen vorzeitig geschlossen, als Protest gegen ein verabschiedetes Gesetz, das es dem Dänischen Staat ermöglichen sollte, den Besitz von einreisenden Flüchtlingen zu enteignen. Im Februar 2016 folgte in Prag eine eher dekorative Form des Protests, als Ai Weiwei seine Skulpturengruppe „Circle of Animals / Zodiac Heads“ (die vor kurzem auch im MKG Hamburg zu sehen war) mit Rettungsfolien umwickelte. Die zwölf Bronzestatuen, welche die chinesischen Tierkreiszeichen darstellen, wurden in Prag vor dem Messepalast, dem Sitz der Nationalgalerie, gezeigt und begleiteten die Ausstellung „Großzügigkeit: Von der Kunst des Gebens“. Ai Weiwei beschrieb seine Verhüllungsaktion vor diesem Hintergrund als Geste, die Würde von Flüchtlingen zu verteidigen.
Um Rettungsfolien ging es auch im Rahmen der „Cinema for Peace“ Spendengala, die begleitend zur 66. Berlinale im Februar 2016 stattfand. Als Ehrenpräsident der Veranstaltung bat der Künstler in seiner Ansprache das Publikum nämlich, die Folien für Flüchtlinge zu spenden – nachdem er zuvor Stars wie Charlize Theron in selbige gehüllt hatte. Auch die Säulen des Berliner Konzerthauses hatte Ai Weiwei für die Veranstaltung umhüllt, allerdings nicht mit goldener Rettungsfolie, sondern mit tausenden oranger Rettungswesten von Menschen, die nach einer Flucht übers Mittelmeer die griechische Insel Lesbos erreicht hatten. Ein Transparent in der Mitte der Installation forderte „Safe Passage“.
„Human Flow“ – Ästhetik und Kritik
Ai Weiweis Art der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Notsituation von Flüchtenden wird immer wieder kritisch diskutiert. Schon seine aufblasbaren Figuren aus dem Jahr 2016 stießen auf gemischte Reaktionen. Für einige war die Installation eine düstere Version von Jeff Koons’ „Inflatables“. Andere lobten die Fragilität der aufblasbaren Gestalten, die ein Windstoß umwerfen und nur eine kleine Beschädigung im Material schon in leere Hüllen verwandeln könnte. Doch ebenso wurde die gesichtslose Anonymität der Figuren diskutiert.
Auch im Bezug auf Ai Weiweis Dokumentarfilm „Human Flow“ (Deutschland, 2017) wird von Kritikern immer wieder der Aspekt der Anonymität angesprochen. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass der Künstler in seinem Film zwar eine Vielzahl an Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen zu Wort kommen lässt, keinen jedoch länger auf dessen Weg begleitet. Stattdessen wirft der Film einen Blick auf die Situation in 23 Ländern – von Afghanistan oder Bangladesch über Griechenland bis hin zu Deutschland oder den USA. Die kurzen Einblicke in die Schicksale von Einzelpersonen sind vom Regisseur dabei aber bewusst gewählt. Im Zentrum der Dokumentation soll für Ai Weiwei das große Ganze stehen – eine Wirklichkeit bestehend aus übergeordneten Zusammenhängen. Sein Ziel ist es, die Notwendigkeit aufzuzeigen, dass neue globale, politische und menschliche Strukturen geschaffen werden müssen.
Die Ästhetik der Ausnahmesituation
Ungewöhnlich ist nicht nur diese konzeptionelle Herangehensweise von Ai Weiwei, sondern auch die Ästhetik von „Human Flow“. Der Dokumentarfilm zeigt nicht nur Personen in Ausnahmesituationen, Leid und Verzweiflung. Viele Szenen des Films bestehen aus faszinierenden Natur- und Landschaftsaufnahmen. Ein fast unwirklicher Rahmen für das Schicksal der Menschen. Auch dies setzt Ai Weiwewi ganz bewusst ein. In einem Interview kritisierte er, dass die mediale Darstellung von Flüchtenden sonst in der Regel schockierend, fragmentarisch und sehr kurz gegriffen sei. Empathie mit dem Schicksal von Menschen braucht für ihn jedoch Kontext. Durch die Poesie der Bilder und die Schönheit der Landschaften will er mit „Human Flow“ verdeutlichen, dass die Protagonisten seines Films ihr Land wider Willen verlassen.
Sich selbst macht Ai Weiwei im Film übrigens zum Clown, wie er sagt. Als Künstler nähert er sich dem Thema auf seine Weise, wobei er keine distanzierte Haltung einnehmen wollte, wie er begleitend zu seinem Film betont: „As an artist, I always believe in humanity and I see this crisis as my crisis. I see those people coming down to the boats as my family. They could be my children, could be my parents, could be my brothers. I don’t see myself as any different from them. We may speak totally different languages and have totally different belief systems but I understand them. Like me, they are also afraid of the cold and don’t like standing in the rain or being hungry. Like me, they need a sense of security.“
Human Flow
Regie: Ai Weiwei – Deutschland, 2017
Produktion: Participant Media, A C Films, Ai Weiwei Production
Länge: 145 Minuten
Header-Bild: Angelika Schoder, 2017
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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