[Rezension] Die Kunstströmung des Dadaismus wollte Anfang des 20. Jahrhunderts alles infrage stellen, ins Absurde rücken und mit gesellschaftlichen und künstlerischen Normen brechen. Auch die „Ordnung der Geschlechter“ stand auf dem Prüfstand, insbesondere die traditionellen Rollenbilder. Im Zuge der Emanzipation mischten sich in der Dada-Bewegung auch Künstlerinnen mit ihren Perspektiven ein und prägten verschiedene künstlerische Ausdrucksformen. Frauen wie Sophie Taeuber-Arp, Hannah Höch, Gabrielle Buffet-Picabia und viele weitere Akteurinnen stehen nun im Arp Museum Bahnhof Rolandseck im Mittelpunkt. In der aktuellen Ausstellung „der die DADA. Unordnung der Geschlechter“ sowie im gleichnamigen Ausstellungskatalog wird ein umfangreicher Blick auf die Kunstformen des Dadaismus geworfen, mit rund 200 Gemälden, Papierarbeiten, Fotografien, Filmen und Texten.
„Dada ermöglichte durch die gelebte Pluralität, die Auflösung von Grenzen und die Vervielfachung künstlerischer Ausdrucksformen einen erweiterten Kunstbegriff, der für das 20. und 21. Jahrhundert sehr einflussreich wurde.“ [1]
Julia Wallner, Direktorin des Arp Museum Bahnhof Rolandseck
Der weibliche Dadaismus
Die Ausstellung „der die DADA“ verdeutlicht, wie die Kunstschaffenden der Dada-Bewegung Geschlechterkonstrukte infrage stellten und sich damit gegen gesellschaftliche Normen auflehnten. Dies war Anfang des 20. Jahrhunderts ein revolutionärer Akt, immerhin wurde zu dieser Zeit Homosexualität strafrechtlich verfolgt und Frauen waren aus vielen öffentlichen Bereichen der Gesellschaft noch ausgeschlossen. Es herrschte also keinesfalls Geschlechtergerechtigkeit und die Gesellschaft war von strengen Rollenbildern geprägt. Die Künstlerinnen und Künstler des Dadaismus forderten dieses Gefüge heraus und stellen in ihren Arbeiten die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auf den Kopf, ließen sie verschmelzen oder verkehrten sie in ihr Gegenteil.
Um so mehr überrascht es, dass bisher die Rolle der Künstlerinnen im Dadaismus in der wissenschaftlichen Forschung und musealen Repräsentation eher vernachlässigt wurde. Dies ändern nun die Ausstellung im Arp Museum und die begleitende Publikation. Endlich stehen hier wichtige Dadaistinnen im Fokus, etwa Beatrice Wood, Angelika Hoerle, Luise Straus-Ernst, Marta Hegemann, Marietta di Monaco, Valeska Gert, Elsa von Freytag-Loringhoven, Emmy Hennings, Suzanne Duchamp, Hannah Höch und Sonia Delaunay. Diese Künstlerinnen prägten die Bewegung entscheidend mit, und zwar in allen Zentren des Dadaismus, von Zürich über Köln und Berlin bis hin zu Paris und New York. Es ist Zeit, die Frauen aus dem Schatten ihrer männlichen Kollegen heraustreten zu lassen, etwa Sophie Taeuber-Arp, deren Werk lange nur im Zusammenhang mit ihrem Ehemann Hans Arp betrachtet wurde. Ein weiteres Beispiel für die lange vorherrschende systematische Ausblendung weiblicher Beiträge ist Gabrielle Buffet-Picabia, die in Paris ein dadaistisches Manifest veröffentlichte. Auch ihr Einfluss auf den Dadaismus wird in „der die DADA“ betrachtet.
„Frauen, wenn ihr Euch verwirklichen wollt – Ihr seid am Vorabend einer verheerenden psychologischen Umwälzung – all Eure kleinen Illusionen müssen entlarvt werden – die Lügen von Jahrhunderten müssen verschwinden – seid Ihr bereit für den großen Ruck-? Es gibt keine halben Maßnahmen – Kein bloßes Kratzen an der Oberfläche des vermüllten Haufens von Tradition wird eine Reform bringen, der einzige Weg ist die Absolute Zerstörung.“ [2]
Mina Loy, Feministisches Manifest (1914)
DADA als künstlerischer Einfluss
Besonders spannend ist, wie in „der die DADA“ herausgearbeitet wird, dass die dadaistische Avantgarde die Kunstwelt im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Noch bis heute sind die Einflüsse sichtbar, insbesondere die performativen Elemente des Dadaismus – von provokanten Soiréen und grotesken Maskeraden bis zu grenzüberschreitenden Kunstaktionen. Vieles aus dem Dadaismus klingt in späteren Kunstaktionen nach, insbesondere im Bereich der Happenings und Performance-Kunst. Als Vorbilder können zum Beispiel die legendären Soiréen und Tanzabende der in New York lebenden Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven gesehen werden. Sie nimmt bei „der die DADA“ eine besondere Position ein und ziert sowohl das Plakat zur Ausstellung als auch den Einband des Ausstellungskatalogs.
Die Aktionen der sogenannten „Baroness des Dada“, die häufig von der subversiven Kraft des Dilettantismus geprägt waren und zu einer poetisch-veränderten Sicht auf die Welt aufriefen, ließen die Kunst im Alltag sichtbar werden. Häufig forderten sie darüber hinaus auch zu einer bis dahin ungewohnten Offenheit im Umgang mit der (weiblichen) Sexualität heraus. In diesen Aspekten überschnitten sich die Ideen des Dadaismus beispielsweise auch mit der damals aufkommenden Frauenbewegung und der Lebensreformbewegung. Auch Emmy Hennings, Gründungsmitglied des Zürcher Dada-Kreises, reflektierte intensiv über Geschlechterfragen und Feminismus in ihren literarischen Werken.
Trotz dieser revolutionären Erweiterung des Kunstbegriffs, der den Dadaistinnen anfänglich Sichtbarkeit verschaffte, führte die oft flüchtige Natur vieler Dada-Aktionen dazu, dass ihre Werke im Laufe der Zeit in Vergessenheit gerieten. Wie die Kunsthistorikerin Agathe Mareuge es auch im Begleitband zur Ausstellung formuliert, fielen insbesondere die Dada-Frauen der „Dada-Falle“ zum Opfer: Ihre Performances und temporären Werke entzogen sich der Kanonisierung, was dazu führte, dass ihre Beiträge oft nur retrospektiv oder in literarischen Erzählungen bewahrt blieben. Mit der Neubewertung der Rolle von Frauen in der Dada-Bewegung in „der die DADA“ wird diese Lücke nun geschlossen. Es wird gezeigt, dass viele Künstlerinnen nicht nur gleichberechtigte Teilnehmerinnen der Bewegung waren, sondern auch die Grundlage für eine Erweiterung des künstlerischen und gesellschaftlichen Diskurses legten, der bis in die Gegenwart hineinwirkt.
„[…] ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zuviele Leute entzückt davon. Es war nichts Rares und nichts Bares, weder Fisch noch Fleisch und die Dadaisten haben ja selbst zuerst nicht gewusst, was es ist. Das ist ein Kompliment.“ [3]
Emmy Hennings, Rebellen und Bekenner (1929)
Die Diversität von DADA
Die Ausstellung „der die DADA“ beleuchtet die Vielfalt der Dada-Bewegung in allen künstlerischen Medien und Facetten. Im Mittelpunkt steht dabei die Fluidität und Diversität von Geschlechterrollen und Sexualität in der Avantgarde – ein Thema, dem durch künstlerische und gesellschaftliche Diskurse aktuell wieder eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. In einen zeitgenössischen Kontext wird der performative Charakter der Dada-Bewegung dabei von Kunstschaffenden wie Susan Philipsz, Barbara Visser, Nora Gomringer und Dirk von Lowtzow eingeordnet. Brygida Ochaim, Tanzwissenschaftlerin und Performerin, befasst sich in einer Performance zudem mit der Figur Musidora/Irma Vep, einer feministischen Ikone des frühen Stummfilms. Barbara Visser und Simone Gehr widmen sich darüber hinaus der Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven, deren Beitrag zur Skulptur „Fountain“ von Marcel Duchamp und ihr Einfluss auf das Readymade untersucht wird.
Ergänzend zur Ausstellung ermöglicht es der im Hirmer Verlag erschienene Katalog, noch tiefer in das Thema einzutauchen. Hier beleuchtet Talia Kwartler, Expertin für das Werk von Suzanne Duchamp, die New Yorker Dada-Frauen und die Rolle von Zeitschriften im transatlantischen Dada-Netzwerk. Isabel Schulz, Leiterin des Kurt Schwitters Archivs, geht der Figur der Anna Blume nach, dem weiblichen Alter Ego des Künstlers Kurt Schwitters, und beleuchtet die hannoversche Dada-Strömung. Astrid von Asten betrachtet in ihren Beiträgen die Bedeutung der Netzwerke und Koproduktionen innerhalb der Dada-Bewegung, insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Hans und Sophie Arp sowie Tristan Tzara und Sonia Delaunay. Und schließlich hinterfragt Ursula Ströbele in ihrem Text lineare Erzählmuster der Dada-Geschichte und plädiert mit dem Begriff der „Elastizität“ für eine flexiblere Geschichtsbetrachtung, die es ermöglicht, das dynamische Wesen der Bewegung besser zu erfassen.
Der Begleitband zur Ausstellung „der die DADA. Unordnung der Geschlechter“, herausgegeben von Julia Wallner für das Arp Museum Bahnhof Rolandseck, ist 2024 im Hirmer Verlag erschienen (ISBN: 978-3-7774-4443-7). Die Publikation umfasst neben einem Werkteil mit farbigen Abbildungen auch Texte von u.a. Astrid von Asten, Christa Baumberger, Ina Boesch, Simone Gehr, Nora Gomringer, Talia Kwartler, Agathe Mareuge, Brygida Ochaim, Helene von Saldern, Isabel Schulz, Ursula Ströbele, Julia Wallner und Joëlle Warmbrunn.
der die DADA. Unordnung der Geschlechter
Arp Museum Bahnhof Rolandseck
07.07.2024-12.01.2025
musermeku dankt dem Hirmer Verlag für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: Bain News Service: Elsa von Freytag-Loringhoven (1922) – Library of Congress, George Grantham Bain Collection (LC-B2- 5677-2 P&P) – gemeinfrei (bearbeitet)
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Julia Wallner: der die DADA, In: der die DADA. Unordnung der Geschlechter, Hg.v. dies., 2024, S. 22-31, hier S. 30.
[2] Mina Loy: Feministisches Manifest (1914), In: Ebd., S. 17.
[3] Emmy Hennings: Rebellen und Bekenner (1929), In: Ebd. S. 142.
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