Boris Lurie im Jüdischen Museum Berlin

Das Jüdische Museum Berlin stellt in der Publikation „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“ das Werk des Künstlers vor.

Das Jüdische Museum Berlin stellt in der Publikation "Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie" das Werk des Künstlers vor.

[Rezension] Politische Relevanz, das ist es, was Boris Lurie mit seinem kompromisslosen Werk von der Kunst und dem Kunsthandel forderte. In einer Retrospektive zeigt das Jüdische Museum Berlin jetzt vom 26. Februar bis 31. Juli 2016 die oft provokativen und umstrittenen Collagen, Zeichnungen und Gemälde des Künstlers, der durch die Gegenüberstellung von Werbung, Alltagsbanalitäten und Zeugnissen des Holocaust die Gesellschaft dazu ermahnte, die Auseinandersetzung mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.


Boris Lurie und der Kampf verschiedener Lebensrealitäten

Der 1924 in Leningrad geborene Boris Lurie wuchs im lettischen Riga auf. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 1. Juli 1941 wurde Luries jüdische Familie zur Umsiedlung in das Rigaer Ghetto gezwungen. Dort überlebten nur er und sein Vater den Massenmord, der im Rahmen der so genannten „Großen Aktionen“ am 30. November und am 8. Dezember 1941 an rund 28.000 jüdische Männern, Frauen und Kindern begangen wurde – unter ihnen seine Mutter, seine Großmutter, seine jüngere Schwester und eine Freundin. Gemeinsam mit seinem Vater durchlief Lurie von 1941 bis 1945 mehrere Konzentrationslager, bis er im April 1945 durch die Ankunft amerikanischer Truppen in Magdeburg befreit wurde.

Danach arbeitete Boris Lurie kurzzeitig für den amerikanischen Geheimdienst Counter Intelligence Corps (CIC) als Dolmetscher und in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Babenhausen. Im Juni 1946 emigrierte er schließlich zusammen mit seinem Vater nach New York.

Was folgte, war ein künstlerischer Kampf gegen eine Gesellschaft, die besonders in den Nachkriegsjahren die Konfrontation mit der Erinnerung an den Holocaust scheute und den Opfern kaum Gehör schenkte. Während die Sprache, die Boris Lurie in seinen Texten nutzte, heute nunmehr wie „Textbausteine eines diffusen Betroffenheitspathos“ wirken, wie Cilly Kugelmann im Ausstellungskatalog feststellt, hat die Sprache von Luries Kunst nichts von ihrer radikalen Provokation verloren. [1] Das Leitmotiv des 2008 in New York verstorbenen Künstlers war der Kampf verschiedener Lebensrealitäten – das Aufeinandertreffen der Überlebenden des Holocaust mit der banalen Realität einer Gesellschaft, die sich für deren Schicksal nicht zu interessieren schien.


„Wir wollten das Vulgäre in uns genauso darstellen, anprangern, unterstreichen, wie das Vulgäre um uns herum. Wir wollten das ‚Gemeine’ um uns herum aufnehmen, wollten es hervorheben, wollten es bewußt machen, wollten unsere Exorzitien damit betreiben.“

Boris Lurie, 1970 [2]

Pin-Ups und Konzentrationslager

Als Abgrenzung zum Expressionismus und zur Pop Art gründete Boris Lurie gemeinsam mit zwei befreundeten Künstlern, Stanley Fisher und Sam Goodman, die NO!art-Bewegung. Zentrale Themen waren für sie neben politischen Konflikten auch Sexualität und Puritanismus und letztendlich auch die Kritik am Kunstbetrieb. Besonders Lurie nutzte dabei die Gegenüberstellung von Sexualität und Tod, von Werbe-Erotik und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um zu provozieren. Die Kunstwelt reagierte hierauf mit starker Ablehnung, was letztendlich auch dazu führte, dass der Künstler sich und seine Werke dem Kunstmarkt entzog. [3]

Volkhard Knigge sieht Luries Arbeiten als „Schlag ins Gesicht“, als Vermittlung traumatischer Erfahrungen im Rohzustand. Wer sich auf dessen Kunst einlasse, dem werde abverlangt, „sich mit dem Nationalsozialismus als einer zwar überwundenen aber unabgeschlossenen und unabgegoltenen Geschichte auseinanderzusetzen und sich mit einer Welt zu konfrontieren, in der Gewalt Gewalt, Zynismus Zynismus, Schmerz Schmerz, Schmutz Schmutz, Leid Leid und Lüge Lüge blieb.“ [4] Luries Kunst ist vor allem Intervention des banalen Alltags, Hinterfragen der Oberflächlichkeit und Selbstbehauptung gegenüber den Mechanismen des Kunstmarktes.


„Stets auf des Messers Schneide, jonglierend im Minenfeld voyeuristischer Lust und puren Entsetzens. In Kunst und Leben kapitulierte Lurie weder vor dem einen noch vor dem anderen.“

Rudi Bergmann, 2016 [5]

Die Schönen und die Nackten, die Vergasten und die Entkommenen

Das Jüdische Museum Berlin zeigt u.a. Luries Skizzen, seine „War Series“, die unmittelbar nach dem Krieg um 1946 entstanden und die ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Mit Bleistift, Tusche oder Kreide hielt der Künstler Portraits von Frauen, Exekutionsszenen, KZ-Ansichten und ausgemergelten Lagerinsassen fest. Ergänzend sind Luries ab 1946 entstandene Ölgemälde zu sehen, die düster-symbolhaft anonymisierte Häftlingsgruppen zeigen. Einen radikalen Bruch zeigen Boris Luries „Readymades“, etwa eine Lithografie mit dem Titel „Flatcar, Assemblage, 1945“ aus dem Jahr 1961. Zu sehen ist ein Berg menschlicher toter Körper in einem Konzentrationslager; als Urheber gibt der Künstler zynisch „by Adolf Hitler“ an. Auch Luries Collagen aus den frühen 60er Jahren sind in der Ausstellung zu sehen, in denen er Fotografien aus Konzentrationslagern mit Erotik- und Pornobildern kombiniert, etwa in seinem „Saturation Painting (Buchenwald)“ von 1959-64.

Der Publizist Elie Wiesel zeigte sich von diesen Werken Luries im Vorfeld der Ausstellung „Mirroring Evil“ im Jüdischen Museum New York im Jahr 2002 erschüttert: „Eine in der Geschichte nie dagewesene Tragödie in eine groteske Karikatur umzuwandeln heißt nicht nur, sie ihrer Bedeutung zu berauben, sondern auch, sie in eine Lüge zu verwandeln.“ Für Wiesel beging der Holocaust-Überlebende Boris Lurie damit schlichtweg Verrat. [6] Auch wenn Wiesels Abwehrhaltung verständlich erscheint, muss ebenso Luries Absicht hinter diesen Werken berücksichtigt werden.

Durch die Verknüpfung von Marketing und Voyeurismus, von Schaulust und Entsetzen versuche der Künstler, „der Abstumpfung am Grauen durch den Fortgang des Grauens in der Geschichte, durch die unablässige Verkettung der Bilder des Grauens entgegenzuwirken“, wie Volkhard Knigge im Katalog zur Ausstellung betont. [7] Knigge schließt neben der intendierten Rezeptionskritik zwar auch eine „Sehnsucht nach Zärtlichkeit“ im Werk Luries nicht aus, doch ob man dieser Lesart folgen möchte, sollte wohl jeder Ausstellungsbesucher für sich selbst entscheiden.


Der Katalog zur Ausstellung „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“, herausgegeben von Cilly Kugelmann im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin, ist im Februar 2016 im Kerber Verlag erschienen (ISBN: 978-3-7356-0195-7). Neben einem Verzeichnis und Abbildungen der ausgestellten Werke sowie Gedichten von Boris Lurie enthält der Ausstellungskatalog auch 7 Essays, u.a. von Cilly Kugelmann, Mirjam Wenzel, Matthias Reichert und Volkhard Knigge.


Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie

Jüdisches Museum Berlin
26. Februar bis 31. Juli 2016

musermeku dankt dem Kerber Verlag für die kostenfreie Überlassung des Rezensions-Exemplars.


Header-Bild: Detail aus: Ausschnitt aus einem unbekannten Kinofilm, anonym (ca. 1965) – Rijksmuseum, RP-F-F00305Public Domain


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Angelika Schoder

Über die Autorin

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Cilly Kugelmann: „Ich hätte gerne angenehmere Bilder gemacht…“, In: „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“, Hg.v. Cilly Kugelmann, Jüdisches Museums Berlin, Kerber Verlag 2015, S. 115f

[2] Boris Lurie: Scheiss Nein (1970), In: NO!art. Pin-Ups, Excrement, Protest, Jew-Art, Berlin 1988, Hg.v. Boris Lurie, Seymour Krim, Armin Hundertmark, S. 66 – Zitiert nach: Volkhard Knigge: „Scherz beiseite. Kunst ist wirkliches Dasein.“, In: „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“, Hg.v. Cilly Kugelmann, Jüdisches Museums Berlin, Kerber Verlag 2015, S. 119

[3] Kugelmann: „Ich hätte gerne angenehmere Bilder gemacht…“, S. 116

[4] Knigge: „Scherz beiseite. Kunst ist wirkliches Dasein.“, S. 119

[5] Rudij Bergmann: Boris Lurie & ich, In: Blogerim – Blog des JM Berlin, 18.03.2016 

[6] Elie Wiesel: Holocaust Exhibit Betrays History, In: Newsday, 31.01.2002 – Zitiert nach: Knigge: „Scherz beiseite. Kunst ist wirkliches Dasein.“, S. 124

[7] Ebd.


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