[Pressereise] Das Kunstmuseum Basel bietet seit einigen Jahren immer wieder die Gelegenheit, sich in großen Einzelausstellungen mit dem Werk zeitgenössischer Künstlerinnen auseinanderzusetzen. Nach Leiko Ikemura im Jahr 2019, Kara Walker im Jahr 2021 oder Louise Bourgeois und Jenny Holzer im Jahr 2022, erobert nun die deutsche Künstlerin Andrea Büttner (*1972) das Basler Kunstmuseum, vom Standort für Gegenwartskunst über den Neubau des Museums bis in die Sammlung der Alten Meister hinein. Mit Holzschnitten, Radierungen, Glasobjekten oder Projektionen entwickelt sie raumgreifende Installationen und kleine Details, die sich entweder zu großen Erzählungen ausbreiten oder neue thematische Perspektiven zu historischen Motiven eröffnen.
Hans Herbst/Hans Holbein d.J.: Das letzte Abendmahl (1510 – 1543), Kunstmuseum Basel – gemeinfrei
Brot und Armut
Beginnt man im Hauptbau des Kunstmuseum Basel, begegnet man den Werken von Andrea Büttner zunächst in den Räumen zur Sammlung des 15. bis 19. Jhd. Wie schon 2022 bei Louise Bourgeois, treffen hier aktuelle Werke der Künstlerin auf Gemälde der Alten Meister. Bei Büttner ist es eine Auswahl von Arbeiten aus der Reihe „Bread Paintings“ (2011–2016). Wie der Name schon erahnen lässt, zeigen die kleinformatigen Werke Brote, Brötchen oder Kuchen. Platziert sind Büttners Arbeiten neben historischen Gemälden wie dem „Frühstück“ von Willem Van Aelst oder dem „Letzten Abendmahl“ von Hans Herbst und Hans Holbein d.J. Durch die Nähe zu Büttners Werken wird hier plötzlich der Blick auf das Gebäck in den Kunstwerken gelenkt, das als Teil eines Stillebens, als Symbol für den Ritus der Eucharistie oder als Almosen dargestellt wird. In Anlehnung an den Ausstellungstitel „Der Kern der Verhältnisse“ stellt sich hier die Frage, welche Bedeutung dem Brot in den jeweiligen Werken zukommt. In jedem Fall zeigen Büttners „Bread Paintings“ die Faszination der Künstlerin für das Einfache und für das Potenzial, das sich dahinter verbergen kann.
Im Verbindungstrakt zwischen dem historischen Hauptbau und dem Neubau des Museums findet sich die nächste Intervention der Künstlerin. Der Durchgang ist mit graugrünem Seiden-Samt ausgekleidet; der wertvolle Stoff steht im Kontrast zu dem Thema, das die Künstlerin in diesem Raum aufgreift: Armut und konkret das Thema der Bettelei. Zunächst zeigt Andrea Büttner hier eine Ausgabe des „Liber Vagatorum“ (Der Bettlerorden). Dieses Buch war im Europa der Reformationszeit weit verbreitet und warnte vor den Tricks von „falschen“ Bettelnden. Für die Künstlerin markiert das „Liber Vagatorum“ einen Wendepunkt weg von mittelalterlichen Vorstellungen von Nächstenliebe hin zum Konzept einer protestantischen Arbeitsethik. Gleichzeitig wird eine Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Armut sowie zwischen einheimischen und ausländischen Armen eingeführt – ein Thema, das bis heute gesellschaftliche Brisanz besitzt.
An einer Seite des Ausstellungsraumes ist Büttners Holzschnittserie „Beggars“ (2015) mit Darstellungen von verschleierten Bettelnden zu sehen. Hier hinterfragt sie die Beziehung zwischen Armut und Scham, wobei die Drucke für sie auch als Bilder von Kunstschaffenden vor ihrem Publikum gesehen werden könnten. An der Stirnseite des Raumes, in Anlehnung an traditionelle kunsthistorische Diavorträge, ist die Arbeit „Shepherds and Kings“ (2017) platziert. Die Künstlerin zeigt hier Details aus historischen Darstellungen der Geburt Christi, wobei die Hirten und Könige der Weihnachtsszene im Mittelpunkt stehen – als Vertreter von Armut und Reichtum, die aufeinandertreffen.
In der Mitte des Raumes sind ergänzend Drucke platziert, welche die Künstlerin zwischen 2015 und 2017 in der Fotografischen Sammlung des Londoner Aby Warburg Institut recherchierte, als sie sich mit der Ikonografie von Bettelnden beschäftigte. Viele Bilder in der Sammlung wurden aus Auktionskatalogen ausgeschnitten, oft mit Verkaufsinformationen auf der Rückseite. Andrea Büttner weist damit auf die Widersprüche zwischen den Bildinhalten und dem Kunstmarkt hin; hier trifft das Thema der Armut auf einen Prozess, der mit Reichtum in Verbindung steht. In diesem Zusammenhang zeigt die Künstlerin auch Reproduktionen von Notizen zur Vorbereitung von Vorlesungen der amerikanischen Wissenschaftlerin Linda Nochlin, die eine Kunstgeschichte der Armut erarbeitete. Ergänzt wird die Zusammenstellung durch Bettel-Darstellungen von Rembrandt van Rijn aus der Sammlung des Kupferstichkabinetts des Kunstmuseum Basel.
Rembrandt Harmensz. van Rijn: Bettler auf der Bank (1630) / Der Bettler mit dem Holzbein (um 1630) – Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett – gemeinfrei
Vom Strecken und Bücken
Was Andrea Büttner umtreibt, ist die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zusammenhängen und sozialen Fragen, immer wieder auch mit einem Bezug zum christlichen Glauben. Während man sich als Museumsbesucher im Hauptbau des Kunstmuseum Basel dem Werk der Künstlerin über punktuelle Interventionen nähern kann, bietet sich im Gebäude für Gegenwartskunst die Gelegenheit, komplett in die Ideenwelt von Büttner einzutauchen. Auf zwei Etagen, im Erdgeschoss und im zweiten Obergeschoss, entwickelt die Künstlerin hier ihre Konzepte, die oft historische Perspektiven mit aktuellen Fragestellungen verbinden.
Im ersten Ausstellungsraum ist Büttners „Brown Wall Painting“ (2006) zu sehen, die Bemalung der Wand mit brauner Farbe, die bis zu der Höhe geht, die die Künstlerin mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte. Die angebrachte Farbe bildet eine Art Rahmen für die hier gezeigten Bilder, sie dient aber auch als Kontrast zu einer hier platzierten Diaprojektion. Denn während sich die Künstlerin für das Anbringen der Farbe strecken musste, zeigt die Projektion das genaue Gegenteil: eine „Kunstgeschichte des Bückens“ (2021) mit historischen Darstellungen von Tätigkeiten wie Ernten, Kinderbetreuung oder Waschen.
Um das Bücken geht es auch in einer anderen Arbeit von Andrea Büttner, die sich im Obergeschoss des Museumsbaus findet. Hier richtet die Künstlerin den Fokus auf die Spargelernte, ein Prozess, der selbst während der Covid-19-Pandemie so wichtig erschien, dass ohne Rücksicht auf gesundheitliche Risiken Saisonkräfte weiterhin zur Ernte herangezogen wurden. Auch hier geht es also wieder um den Kontrast von Armut und Reichtum – wer bückt sich und wer profitiert davon? Neben Holzschnitten von Arbeitenden bei der Spargelernte greift Büttner das Thema hier auch durch Skulpturen auf, einmal als Tonskulptur in Anlehnung an die Furchen eines Spargelfeldes und einmal in Form von 143 aus Holz geschnitzten Spargelstangen, die von der Künstlerin bei einer Schnitzschule in Auftrag gegeben wurden. Diese Gegenüberstellung provoziert die Frage, warum in unserer Gesellschaft Handarbeit so unterschiedlich bewertet wird: Auf der einen Seite der Prozess der Feldarbeit, auf der anderen Seite die Produktion von Kunstwerken. Beides ist Handarbeit, doch dem einen wird eine deutlich geringere gesellschaftliche Bedeutung beigemessen als dem anderen.
Historische Bilder und digitale Prozesse
Neben bekannten Arbeiten, wie dem mehrteiligen Werk „Images in Kant’s Critique of the Power Judgment“ (2014), das Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ in Bezug zu diversen historischen Bildern bis hin zu Netzfundstücken setzt, zeigt Andrea Büttner im Kunstmuseum Basel auch das neue Werk „Schamstrafen“ (2022–2023), das eigens für die Ausstellung realisiert wurde. Ein Wandfries aus Siebdrucken in weißer Farbe verdeutlicht hier, wie die historische Abschreckungsmethode der Schaustrafen nun im Zeitalter der digitalen Bilderflut im 21. Jhd. fortlebt, in Form des „Shaming“, dem Mobbing in Sozialen Netzwerken. Es ist Büttners jüngste Arbeit zur Auseinandersetzung mit dem Thema des öffentlichen Beschämens bzw. der Scham, ein Thema zu dem sie bereits seit den 1990er Jahren arbeitet und zu dem sie auch am Royal College of Art in London promovierte.
Um die Verbindung zwischen historischen Prozessen und Phänomenen der digitalen Welt geht es auch bei der Serie „Phone Etchings“ (2015). Die Farbradierungen entstanden auf der Grundlage von Spuren, welche die Künstlerin mit ihren Fingern auf einem Smartphone-Display hinterließ. Die großformatigen Werke haben zugleich einen analogen und einen digitalen Ursprung, da sie zwar aus der „zeichnenden“ Bewegung einer Hand heraus entstanden, aber auch die Nutzung eines digitalen Geräts durch die Künstlerin dokumentieren. Eine Arbeit aus der Reihe ist aktuell übrigens auch im Hauptbau des Kunstmuseum Basel in der Ausstellung „The Acid Lab. Säure in der Druckgrafik von Albrecht Dürer bis William Kentridge“ zu sehen.
Im Dialog mit Nonnen
Immer wieder setzt sich Andrea Büttner in ihrer künstlerischen Arbeit auch mit Menschen in stark regulierten Systemen auseinander, die mitunter auch aus vorgegebenen Mustern ausbrechen. Einige Arbeiten in der Ausstellung „Der Kern der Verhältnisse“ zeigt dabei die besondere Faszination der Künstlerin für das Leben von Nonnen, etwa im Holzschnitt „Dancing Nuns“ (2007) oder in der Videoinstallation „Little Sisters: Lunapark Ostia“ (2012). Büttner dokumentierte dafür Gespräche mit zwei Nonnen einer Ordensgemeinschaft, die einen Stand in einem Freizeitpark bei Rom betreiben. Sie zeigt, wie sich die Schwestern damit stets zwischen der Welt des Glaubens und der Welt der profanen Vergnügungen bewegen. In der Diaschau mit dem Titel „The Archive of the Lives of the Little Sisters of Jesus with Circuses and Fun Fairs, Tre Fontane, Rome“ (2012) zeigt die Künstlerin ergänzend Bildmaterial aus dem Fotoarchiv der Ordensgemeinschaft, deren Mitglieder in Vergnügungsparks leben.
Auch für ihre Videoarbeit „Karmel Dachau“ (2019/2022–2023) sprach Andrea Büttner mit Nonnen. Ihre Gesprächspartnerinnen gehören zum 1964 gegründetes Karmeliterinnenkloster „Heilig Blut“, das sich neben der KZ-Gedenkstätte Dachau befindet. Das Gespräch dreht sich auch um Fragen nach Verbrechen und Vergebung und um Erinnerung und Verdrängung. Ergänzt wird das Video durch die Fotoserie „Former plant beds from the plantation and ‚herbal garden,‘ used by the SS for biodynamic agricultural research, at the Dachau Concentration Camp“ (2019–2020). Andrea Büttner zeigt hier, vor dem Hintergrund ihrer fast den gesamten Ausstellungsraum umspannenden Wandmalerei „Grid“ (2021), die heute überwucherten Pflanzenbeete auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau, wo die Nationalsozialisten einst „biodynamische Agrarforschung“ betrieben und zahlreiche Lagerinsassen zu Tode kamen.
Das Motiv des Karmeliterinnenkloster in Dachau greift die Künstlerin schließlich auch noch einmal in Form eines Holztisches auf. Ein Tisch aus der Werkgruppe „Untitled (Wood Table)“ (2021) wurden denen des Speisesaals im Kloster nachempfunden und ist Ausdruck von Büttners Wertschätzung für die klösterliche Ästhetik. In der Ausstellung dient einer dieser Tische zur Präsentation der Glasobjekte „Vase“ (2021–2022). So entsteht ein Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Arbeiten der Künstlerin, die sich in ihren Motiven teils miteinander verweben, teils aber auch in Kontrast zueinander stehen.
Andrea Büttner: Der Kern der Verhältnisse
Kunstmuseum Basel | Gegenwart
22.04.–01.10.2023
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die Einladung zum Besuch des Museums und für die Übernahme der Kosten der Reise.
Bilder: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2023
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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