Objekte der Begierde: Surrealismus trifft Design und Popkultur

Das Vitra Design Museum zeigt mit „Objekte der Begierde“ die Einflüsse des Surrealismus auf die Popkultur in Design, Mode und Film.

Das Vitra Design Museum zeigt mit "Objekte der Begierde" die Einflüsse des Surrealismus auf die Popkultur in Design, Mode und Film.

[Pressereise] Die Einflüsse des Surrealismus zeigen sich nicht nur in der Literatur oder der bildenden Kunst, im Film oder in der Fotografie. Auch auf das Design der letzen 100 Jahre hatte die Bewegung einen starken Einfluss. Das Vitra Design Museum widmet diesem Thema nun eine Sonderausstellung und untersucht in der begleitend erschienenen Publikation „Objekte der Begierde. Surrealismus und Design“, wie die Werke von René Magritte, Salvador Dalí, Marcel Duchamp oder Meret Oppenheim bis heute von Möbeldesignern, Modeschöpfern oder Filmemachern zitiert und in ihren Ideen weiterentwickelt werden. So finden sich Einflüsse des Surrealismus etwa in der Bildsprache der Musikerin Björk, in den Entwürfen von Rei Kawakubo für Comme Des Garçons oder im Design der Architektin Gae Aulenti. Der Surrealismus ist damit auch nach fast einem Jahrhundert noch immer in unserer Alltagskultur präsent.


Der surreale Alltag

Die Kunstbewegung des Surrealismus ist für absurde und (alb)traumhafte Bildwelten bekannt. Auffällig ist, dass in vielen surrealistischen Filmen, Gemälden oder Fotografien ausgerechnet Alltagsgegenstände eine zentrale Rolle spielen. Diese Gegenstände, zu denen fast jeder Betrachter einen Bezug aus dem eigenen Leben hat, wurden von den Künstlern verfremdet, in einen abwegigen Kontext platziert oder zu verwirrenden Hybriden neu kombiniert. Bekannte Beispiele sind Marcel Duchamps „Roue de bicyclette“ (1931), das „Fahrrad-Rad“, das auf einem Hocker montiert ist, oder Salvador Dalís „Téléphone-homard ou Téléphone aphrodisiaque“ (1936), das „Hummer-Telefon“, bei dem der Telefonhörer durch ein Schalentier ersetzt wurde.

Doch nicht nur der Surrealismus bediente sich in seinen Motiven bei den Gegenständen des Alltags. Zunehmend wurde auch das Design von alltäglichen Objekten durch die Ideen und Konzepte der Surrealisten beeinflusst. Das Vitra Design Museum untersucht diese Einflüsse, sowohl in einer aktuellen Ausstellung als auch im parallel dazu erschienenen Begleitband. Es werden Werke des Surrealismus und Designobjekte späterer Jahrzehnte einander gegenübergestellt, um damit Leitmotive zu verdeutlichen. Betrachtet werden dabei ganz verschiedene Bereiche: Möbeldesign und Innenarchitektur, aber auch Film, Mode und Grafik. Ersichtlich werden soll, dass es hier im Design nicht nur um Funktion und Technik geht, sondern auch „um die versteckte Realität hinter den Dingen, um die dahinter verborgenen Träume, Mythen und Obsessionen“. [1]


Objekte der Begierde

Das Jahr 1924 gilt als Geburtsstunde des Surrealismus. In diesem Jahr erschien André Bretons „Manifeste du „. Doch eigentlich begann alles mit der „unvermuteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, eine Metapher aus „Les chants de Maldoror“ des französischen Schriftstellers Comte de Lautréamont aus dem Jahr 1868/69. Dieses sprachliche Bild fasste bereits im 19. Jhd. das surrealistische Gestaltungsideal zusammen. Im Zentrum der Idee stehen ganz normale Alltagsgegenstände, die überraschend aufeinandertreffen.

Anfang der 1930er Jahre weiteten André Breton (1896-1966) und verschiedene andere Mitstreiter des Surrealismus ihre Ideen auf Malerei und Design-Objekte aus. Alles Mögliche traf hier aufeinander, ob bürgerliches Inventar des letzten Jahrhunderts oder moderne Industrieprodukte. Breton besann sich auf Lautréamont zurück und schrieb:

„Eine abgesicherte Realität, deren naiver Zweck für alle geklärt zu sein schien (der Regenschirm), findet sich auf einmal in der Gegenwart einer anderen, weit entfernten und nicht weniger absurden Realität wieder (die Nähmaschine), an einem Ort, an dem sich beide heimatlos fühlen (dem Seziertisch), und entkommt auf diese Weise ihrer Bestimmung und ihrer Identität; sie geht aus der Falschheit, über neue Bezüge, in etwas absolut Neues über, poetisch und wahr.“ [2]

André Breton

Surrealismus trifft Popkultur

Ab Mitte der 1930er Jahre übte der Surrealismus immer mehr Einfluss auf modernes Design aus und in den 1940er und ’50er Jahren wurde er sogar zum großen Trend in der Alltagskultur. Allen voran war hier Salvador Dalí (1904-1989) einer der wichtigsten Akteure. Er entwarf alles, was sich verkaufen ließ und trennte Kunst schon lange nicht mehr von Kommerz. Ob Stoff-Kollektionen oder Werbe-Anzeigen, Filmsets für Hollywood oder Auftritte als Gesicht für verschiedene Produkte – Dalí trug dazu bei, dass der Surrealismus in der Populärkultur ankam. Das wurde nicht von jedem positiv aufgenommen. So bezeichnete Theodor W. Adorno (1903-1969) diese Transformation von Kunst zu Popkultur als „falsches Nachleben des Surrealismus“. [3] Diese Auffassung spiegeln auch viele Ausstellungen zum Surrealismus bis heute wieder, denn sie enden oft in den 1960er Jahren, ohne den Einfluss der Kunstströmung auf die Alltagskultur zu berücksichtigen.

Wie das Vitra Design Museum in der Ausstellung und Publikation „Objekte der Begierde“ zeigt, ist der Einfluss des Surrealismus auf die Alltagskultur jedoch der Beginn einer Erfolgsgeschichte. Wie wichtig die Impulse waren und bis heute noch sind, zeigt sich etwa an den Werken der Designer Charles und Ray Eames oder bei Carlo Mollino (1905-1973) [4], der in seiner Innenarchitektur vom Surrealismus beeinflusst wurde und dessen Arbeiten wiederum den Modedesigner Jeremy Scott (*1975) unlängst für seine Herbst/Winter Kollektion 2018/19 für Moschino inspirierten.

Neben der Mode zeigen sich Ideen des Surrealismus auch in Musikvideos, etwa bei der isländischen Künstlerin Björk (*1965). In ihrem Video „Hidden Place“ (2010) erinnern die Tränen an Man Rays Fotografie „Les Larmes“ (1932). Und die Arbeit von Andrew Thomas Huang für Björks Video zu „Mutual Core“ (2011) ähnelt dem Bild „An einer Kirche“ (1949-54) von Richard Oelze oder verweist auch auf die Bildwelt von Max Ernst.

Bis heute gibt es zudem surrealistische Filmemacher, wie etwa den tschechischen Künstler Jan Švankmajer (*1934), der Einzelbild-Animation mit Stegreif-Aktion zu absurden Szenen verbindet, beispielsweise in seinem Film „Surviving Life“ (2010). Und auch aktuelle Projekte des Critical Design greifen surrealistische Ideen auf, etwa wenn hier neue Technologien oder Geschlechterrollen hinterfragt werden. Ein Beispiel sind dunne & raby mit „Designs for an overpopulated planet: Foragers“ (2009).


Realität jenseits des Sichtbaren

Moderne Designgeschichte wird oft nur hinsichtlich des Strebens nach technischer Innovation und Funktionalität betrachtet. Bestenfalls wird noch darauf verwiesen, dass es bei Gebrauchsgegenständen im 20. Jhd. zunehmend auch darum ging, dass die Objekte nicht nur nützlich, sondern auch schön sein sollten – etwa, wenn es um die Entwürfe des Bauhaus geht. Doch die Untersuchung des Einflusses des Surrealismus auf das Alltagsdesign zeigt, dass es auch um das Erwecken von Emotionen geht, um die Anstiftung zu Fantasie und um die Suche nach einer „Realität jenseits des Sichtbaren, für die es keinen treffenderen Ausdruck als das Sur-Reale gibt.“ [4]


Der Begleitband zur Ausstellung „Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute“, herausgegeben von Mateo Kries und Tanja Cunz im Auftrag des Vitra Design Museum, ist 2019 im Verlag des Museums erschienen (ISBN: 978-3-945852-32-3). Der Band enthält, neben zahlreichen Werk-Abbildungen und einer Auswahlbibliografie, Texte von Mateo Kries, Krzysztof Fijalkowski, Claudia Mareis, Vera Sacchetti, Napoleone Ferrari, Tanja Cunz und Alex Coles.


Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute

Vitra Design Museum
28.09.2019 – 19.01.2020

musermeku dankt dem Vitra Design Museum für die kostenfreie Überlassung des Ausstellungskatalogs als Rezensions-Exemplar und der Fondation Beyeler für die Übernahme der Kosten der Reise.


Header-Bild: Angelika Schoder, 2019


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Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Mateo Kries und Marc Zehntner: Vorwort, In: Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute. Hg.v. Mateo Kries und Tanja Cunz, Vitra Design Museum 2019, S. 6

[2] André Breton: Situation surréaliste de l’object. Situation de l’objecte surréaliste. In: Œuvre complètes, Bd. II, Hg.v. Margerite Bonnet,1987-1999, S. 478; Zitiert nach: Mateo Kries: Objekte der Begierde. Eine kurze Designgeschichte des Surrealismus. In: Ebd., S. 10

[3] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Hg.v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, 1970, S. 339f; Zitiert nach: Ebd., S. 11

[4] Dazu: Napoleone Ferrari: Notizen zu Carlo Mollino und Surrealismus. In. Ebd., S. 322-327

[4] Mateo Kries: Objekte der Begierde. Eine kurze Designgeschichte des Surrealismus. In: Ebd., S. 11


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