[Werbung] Was wäre, wenn Blinde und Sehbehinderte Ausstellungen ertasten könnten? Was wäre, wenn mobilitätseingeschränkte Menschen sich problemlos in Museen bewegen könnten? Und was wäre, wenn auch Museumsbesucher mit kognitiven Einschränkungen komplexe Inhalte ganz leicht verstehen könnten? Kultur lässt sich mit allen Sinnen erlebbar machen – und zwar für alle Besucher. Barrierefreiheit im Museum umfasst dabei viele Ebenen und stellt Museen und Kulturinstitutionen vor besondere Herausforderungen.
Das Öffnen von Kulturräumen
Kulturelle Teilhabe stellt Museen und andere Kulturinstitutionen vor zwei Herausforderungen: Zum einen geht es um barrierefreie Zugänglichkeit, zum anderen um Inklusion in kulturelle Prozesse. Die Barrierefreiheit bildet hier die Grundlage. Sie ermöglicht es, dass u.a. Menschen mit physischen und kognitiven Einschränkungen am kulturellen Leben teilnehmen können. Darauf kann dann das Konzept der Inklusion aufbauen. Denn sobald kulturelle Angebote zugänglich gemacht wurden, geht es im zweiten Schritt darum, diese so zu gestalten, dass sie für die entsprechende Zielgruppe auch attraktiv wirken.
Eine offene Gesellschaft braucht also zunächst barrierefreie Kulturräume. Barrierefreiheit im Museum und in anderen Kultureintrichtungen schafft die Basis, um nicht nur integrativ, sondern auch inklusiv arbeiten zu können. Denn jedes Mitglied der Gesellschaft hat ein Recht darauf, am kulturellen Leben teilzuhaben. Hiervon profitieren letztendlich nicht nur Einzelne, da eine inklusive Kultur auch einen gesellschaftlichen Mehrwert für alle bedeuten kann. Und schließlich führt ein breiteres Publikum auch zu mehr Nachfrage nach kulturellen Angeboten – und damit können wiederum die Angebote weiter ausgebaut werden.
Anfassen, hören, riechen, sehen
Seit Oktober 2017 können in der Berlinischen Galerie Blinde und Sehbehinderte in der aktuellen Sammlungspräsentation „Kunst in Berlin 1880–1980“ Werke der Ausstellung ertasten. Das Angebot hatte sich in Sonderausstellungen des Museums seit 2013 bewährt. Laut eigener Aussage ist die Berlinische Galerie damit das erste Kunstmuseum in Deutschland, das seine Dauerausstellung mit diesem Angebot ausstattet. Daneben lassen sich übrigens auch weiterhin in den Sonderausstellungen des Museums Werke auf diese Weise erleben, zum Beispiel in der Schau über die Berliner Malerin Jeanne Mammen, in der etwa die „Revuegirls“ von 1928/29 erfühlt werden können.
Das smac, das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz, hat es sich im Zuge seiner Erneuerung direkt zum Ziel gesetzt, ein „Museum für Alle“ zu sein und die Teilhabe aller Menschen am musealen Erlebnis zu ermöglichen. In seiner Dauerausstellung präsentiert das Museum auf drei Etagen die Geschichte und die Entwicklung Sachsens, vom Leben und den Werkzeugen der ersten Jäger und Sammler bis zur frühen Industrialisierung. Zugänglichkeit steht bei der Präsentation der Funde und archäologischen Überreste dabei an erster Stelle. Jeder Besucher erlebt die Ausstellung mit mehreren Sinnen und kann sich so zum Beispiel über Stationen mit Geruch ins Mittelalter hineindenken.
Offen für alle Besucher zeigt sich auch die Bundeskunsthalle in Bonn mit der Ausstellung „Wetterbericht. Über Wetterkultur und Klimawissenschaft“ (07.10.2017 – 04.03.2018). Das Museum wählte einen interdisziplinären Zugang zum Thema, um unterschiedliche Perspektiven künstlerischer Positionen, der Kulturgeschichte und der Naturwissenschaften zu vereinen. Barrierefrei, gleichzeitig aber auch für alle Besucher ein Erlebnis, ist dabei der Kontakt mit Wetterphänomenen. Die Komplexität einer Schneeflocke kann hier ertastet werden oder Wind kann durch eine interaktive Station spielerisch verstanden werden. Über die ganze Ausstellung erstrecken sich multisensorische und multiperspektivische inklusive Stationen.
Interview mit Tactile Studio
Alle hier genannten Museen haben eines gemeinsam: Sie arbeiteten für ihre barrierefreien und inklusiven Angebote mit dem aus Frankreich stammenden Designunternehmen und Handwerksatelier Tactile Studio zusammen. Das Team aus Spezialisten unterstützt nicht nur Museen in Deutschland, sondern war in Frankreich auch bereits für das Musée du Louvre, für das Musée du quai Branly – Jacques Chirac oder für das Musée d’Orsay tätig.
Seit 2009 befasst sich Tactile Studio mit der Frage, wie kulturelle Teilhabe in Museen und Ausstellungen besser ermöglicht werden kann. In Deutschland kooperiert das Team u.a. mit blista und der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) für Fragen der Blindenschrift, oder mit Vereinen wie dem Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein (ABSV) und Anderes Sehen e.V., aber auch mit weiteren Initiativen und Organisationen, welche die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung genau kennen.
Wir sprachen jetzt mit Alexandra Verdeil, der Projektleiterin in Deutschland, über mögliche praktische Ansätze für mehr Barrierefreiheit in Museen und Kultureinrichtungen.
Barrierefreiheit im Museum
Es gibt viele Barrieren, die ein potenzielles Publikum davon abhalten, Zugang zu kulturellen Inhalten und Themen zu erlangen. Welche Barrieren stellen seitens der Museen und Kultureinrichtungen oft die größten Hürden für Besucher dar?
Alexandra Verdeil: „Um Barrierefreiheit herzustellen, ist in Museen noch immer oft von Behinderungsarten und alternativen Angeboten die Rede. Da stellt sich doch die Frage, ob dies eine Besucherorientierung ist, die wirklich mit dem Respekt vor den Besuchenden zu tun hat. Als ob Barrierefreiheit im Museum bedeuten würde, dass Besucher sortiert werden und je nach Bedürfnis alternative Angebot geschaffen werden müssten. Alternativ zu was? Alternativ zu einem Angebot, von dem man denkt, dass es einem Normalbesucher entspricht? Welche Bedürfnisse unterscheiden denn den ‚Normalbesucher‘ von dem ‚Besucher mit Behinderung‘?
Menschen kommen ins Museum mit dem Wunsch, hier eine angenehme Zeit zu verbringen. Da sind wir alle gleich, ob mit oder ohne Behinderung. Die größte Hürde im Museum ist demnach tatsächlich die Haltung vieler Museumsmacher: Dass die barrierefreie Gestaltung ein zusätzliches Angebot oder Wohlwollen von Seiten des Museums sei, welche nachträglich eingeführt werden muss und für die es dann auch meistens leider keine finanziellen Mittel mehr gibt.“
Die meisten Museen stehen vor der Herausforderung, Hintergründe und Zusammenhänge anhand von ausgestellten Objekten zu präsentieren. Oft sind es auch die Objekte selbst, die ihre Wirkung auf den Besucher entfalten sollen, etwa Kunstwerke wie Skulpturen und Gemälde. Wie können Museen dies barrierefrei und inklusiv gestalten?
Alexandra Verdeil: „Die Idee, man müsse die Objekte für sich sprechen lassen und man dürfe sie nicht durch zu viel pädagogische Aktivität überfremden, ist tatsächlich „behindernd“. Wenn man den Ansatz des „für-sich-sprechen-lassens“ hinterfragt, stellt man fest, dass hier stillschweigend davon ausgegangen wird, dass andere Menschen die Dinge im Wesentlichen gleich sehen wie man selbst. Das ist ein großer Irrtum. Es ist nicht möglich, dass ein Objekt für sich selbst spricht, es vermag aber anzuregen. Welche Anregung, welche Bedeutung und welche Auffassung daraus entsteht, kann nicht vorhergesehen werden.
Hier setzt unser ‚Design for All‘-Ansatz an. Er bietet Museen die Möglichkeit, Informationen für alle, die das Objekt betrachten, eindeutig darzustellen. Als Designer entwickeln wir daher in erster Linie Hilfsmittel, die Informationen und Inhalte deutlich machen – für alle, unabhängig von Vorwissen, Sprachkentnissen, körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten. Es sind haptische, akustische und optische, manchmal sogar olfaktorische Angebote, die im Museum (bestenfalls mit ausreichend Bewegungsraum) leicht erreichbar und mit Ruhemöglichkeiten zu finden sind. So wird alles für den Besucher anschaulich, begreiflich und verständlich. Das Erleben von Wissen und die Vermittlung von Inhalten kann damit wirklich Spaß machen und begeistern.“
Zugänglichkeit auf vielen Ebenen
Wie können Museen ganz konkret den Zugang für Menschen mit physischen oder kognitiven Einschränkungen erleichtern?
Alexandra Verdeil: „Ein Museumsbesuch beginnt für Menschen mit Behinderung oft nicht erst an der Museumskasse oder beim Online-Ticketkauf im Vorfeld. Für sie beginnt ein Museumsbesuch viel früher, und zwar mit der Internetrecherche. Auf der Webseite eines Museums informiert sich der Besucher genau: Gibt es eine Wegbeschreibung? Falls taktile Leitlinien zu finden sind, erfahre ich das auf der Website? Ist der Eintritt für Blindenführhunde speziell erwähnt? Wenn es andere Angebote für Menschen mit Behinderung gibt, sind diese im Onlineauftritt aufgelistet? Gibt es Texte in leichter Sprache? Sind Angebote für gehörlose Menschen vorhanden? Es kann daher nur immer wieder betont werden, wie wichtig der barrierefreie Internetauftritt für Museen ist.
Ein ganz wichtiger Schritt in Richtung barrierefreies Museum ist außerdem die Sensibilisierung des Museumspersonals. Die Unkenntnis des Personals an der Kasse, das nicht weiß, wo Taststationen in der Ausstellung zu finden sind oder ob Blindenführhunde im Museum erlaubt sind oder nicht, kann bereits das erste entmutigende Erlebnis für die Besucher im Museum sein. Oft sind die Mitarbeiter auch unsicher, was sich in unklaren Verwendungen von Begrifflichkeiten und der gewählten Sprache über Menschen mit Behinderung widerspiegelt. Da hilft ein aufklärender Workshop und die Bestimmung eines zuständigen Mitarbeiters, der beispielsweise neue Kollegen informiert.“
Das sind wichtige Aspekte, die den Ausstellungsbesuch vorbereiten. Aber was können Museen direkt in ihren Ausstellungen tun, um Barrieren abzubauen und Inhalte leichter zugänglich zu machen?
Alexandra Verdeil: „Im Museum selbst entstehen viele Barrieren zum Beispiel durch unzureichende Orientierungshinweise, etwa kleine, kaum lesbare oder komplexe Beschriftungstafeln. Das entmutigt den Besucher. Vieles wird in Museen auch hinter Vitrinen präsentiert, oft sind die Lichtverhältnisse sehr dunkel. Hinzu kommen fehlende Sitzmöglichkeiten, Stützen, Griffe und dergleichen mehr. Dabei sind Hilfen wie Lupen oder einfache stabile Stühle, die bereitgehalten werden, oft schnell beschafft und bewirken viel.
Daneben gibt es auch Barrieren, die eine Nutzung der Inhalte des Museums blockieren. Wenn zum Beispiel der antike Globus mit den Himmelsdarstellungen im Museum hinter Glas steht, kann niemand die kleinen Zeichnungen auf dem Globus erkennen. Ein taktiles Modell mit einem entsprechenden Begleitbuch hingegen bietet Sehenden und Nicht-Sehenden zugleich Zugang zum Exponat. Das wäre ein Beispiel für das ‚Design for All‘, das uns bei Tactile Studio besonders interessiert. Hierbei ist es wichtig, einerseits von den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen aller Menschen auszugehen. Andererseits muss dafür gesorgt werden, dass möglichst oft verschiedene Gruppen gemeinsam an der kulturellen Bildung teilnehmen können.“
Ein „Design for All“, also die barrierefreie Konzeption und Umsetzung von Ausstellungen, ist keine leichte Aufgabe. Auf welche Kriterien sollten Institutionen aus dem Kulturbereich hier besonders achten?
Alexandra Verdeil: „Die wichtigsten Kriterien sind eine leichte Verständlichkeit von Inhalten und der Respekt für die Autonomie des Besuchers. Jeder Besucher sollte selbst entscheiden können, was, wann, wie oft und wie lange er im Museum etwas lernen und erleben möchte. Zur Autonomie tragen ein taktiles Leitsystem, taktile Stationen, ein Audioguide mit verständlicher Objektbeschreibung und permanent installierte Hilfsmittel bei.
Ein gutes Beispiel hier ist das smac mit seinem Konzept eines ‚Museums für Alle‘. Um bei Besuchern verschiedene Sinne anzusprechen, befinden sich neben den in Vitrinen ausgestellten Funden und archäologischen Überresten auch taktile Repliken. Reliefstationen gehen im Museum der Geschichte der Dörfer, der archäologischen Fundstücke und der Urbanisierung von Chemnitz und seiner Umgebung nach. Tactile Studio hat hierfür die taktilen Orientierungspläne auf jeder Etage des Museums entworfen und umgesetzt. Für das smac konnten wir auch die taktilen Stationen und die Beschriftungstafeln in Braille und in Pyramidenschrift realisieren, ebenso wie zwei interaktive, multisensorische Stationen.“
Inklusion als kulturelle Chance
Bei barrierefreien und inklusiven Angeboten im Museums- und Ausstellungsbereich geht es zunehmend um die Verschränkung von analogen und digitalen Medien. Wie wichtig ist es, hier eine Balance zu neuen technischen Möglichkeiten wie Apps oder Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR) zu finden?
Alexandra Verdeil: „Neue Technik bietet Anlass für Innovationen, doch es ist ebenso wichtig, ein Gleichgewicht zu finden. Damit alle Besucher profitieren, sollte es nicht nur Videos, Touch Screens oder Apps geben. Objekte zum anfassen und in die Hand nehmen spielen weiterhin eine wichtige Rolle, denn sie sprechen neben dem Sehen und Hören eben auch den Tastsinn an.
Darum haben wir beispielsweise ein interaktives taktiles Wind-Spiel für die aktuell laufende Ausstellung „Wetterbericht“ in der Bundeskunsthalle in Bonn konzipiert. An einer Taststation mit dem 3D-Modell einer Schneeflocke wird taktil nachvollziehbar, wie komplex der Aufbau einer Schneeflocke ist. Wind und Schnee anfassen, um im wahrsten Sinne des Wortes etwas zu begreifen – eine App oder ein Video kann das nicht ermöglichen.“
Inhalte im Museum auf diese Weise zu erleben, klingt eigentlich für alle spannend. Ob Kinder oder Senioren, ob Menschen mit oder ohne Behinderung – eine Ausstellung mit mehreren Sinnen zu erleben ist doch für jeden Besucher etwas Positives, oder?
Alexandra Verdeil: „Natürlich! Und da komme ich nochmal auf die beiden von uns gestalteten Stationen im smac zu sprechen: Wer kennt ihn nicht, den intensiven Geruch von verbranntem Holz? Hier entwarfen wir eine Station, die den Besucher mit auf die Reise ins Mittelalter nimmt, hinein in das von Feuer umzingelte Dorf. Andere Riechstationen lassen den Geruch von Kerzen oder sogar von den Latrinen dieser Zeit entdecken. An einer weiteren barrierefreien Mitmach-Station kann das Gewicht eines Kettenhemdes ausprobiert werden – eine Attraktion für alle großen und kleinen Ritter im Museum.
Das zeigt: Der Museumsbesuch mit allen Sinnen macht allen Besuchern Spaß und insbesondere Kinder profitieren davon. Dass diese Stationen außerdem barrierefrei sind, das heißt mit besonderer Rücksicht auf die Ergonomie und die optimale Wissensvermittlung bei körperlicher Beeinträchtigung wie die Blindheit konzipiert wurden, ist dabei ein Aspekt, der anderen Besuchern nicht auffällt. Das ist das Ziel des „Design for All“: Ein Erlebnis im Museum für alle schaffen, das sich harmonisch in den Ausstellungskontext einfügt.“
Vielen Dank für das Interview.
Fazit zu Barrierefreiheit im Museum
Die Konzeption und Umsetzung barrierefreier und inklusiver Angenbote in Museen lässt sich realisieren, wenn vielfältige Besucherbedürfnisse berücksichtigt werden. Dabei können letztendlich alle davon profitieren, denn leicht verständliche Inhalte, spielerische und spannende Herangehensweisen und das Erleben mit vielen Sinnen spricht jeden an. Eine vollständige Barrierefreiheit in allen Aspekten wird in Museen zwar kaum möglich sein. Aber spezialisierte Designer wie das Team von Tactile Studio können Museen darin unterstützen, für alle Besucher etwas anzubieten, was für diese unkompliziert zugänglich ist, ansprechend wirkt und Spaß macht.
Innovation im Museum kann gelingen, wenn Neuerungen bei der Herstellung von Hilfsmitteln kontinuierlich geprüft werden und neue Verschränkungsmöglichkeiten mit anderen Medien gesucht werden. Vor allem auch der direkte Austausch mit Menschen mit Behinderung spielt dabei eine wichtige Rolle, um gemeinsam Ideen zu entwickeln, Lösungen zu finden und kulturelle Angebote zugänglich zu machen.
Dieser Beitrag entstand im Auftrag von Tactile Studio.
Header-Bild: Angelika Schoder – Altonaer Museum, 2023
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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