Turner in der Tate Britain: Wegbereiter der Moderne

In der Sammlungspräsentation „JMW TURNER“ zeigt die Tate Britain in London den englischen Maler Joseph Mallord William Turner als Vater der Modernen Kunst.

In der Sammlungspräsentation "JMW TURNER" zeigt die Tate Britain in London den Maler William Turner als Vater der Modernen Kunst.

[Ausstellung] Mit seiner minimalistischen und teils fast schon abstrakt wirkenden Malweise stellte Joseph Mallord William Turner (1775-1851) die künstlerischen Konventionen seiner Zeit infrage. Heute gilt er als zentraler Wegbereiter der Moderne und beeinflusste Kunstschaffende wie Mark Rothko, David Hockney oder Tracey Emin. Am bekanntesten sind Turners Seestücke und Landschaftsgemälde, die sich heute in vielen bedeutenden Kunstsammlungen weltweit befinden. In einer aktuellen Sammlungspräsentation zeigt die Tate Britain in London nun jedoch, dass Turners Werk viel mehr umfasst als nur Sonnenuntergänge und Meer. Die Ausstellung „JMW TURNER“ bietet einen umfangreichen Überblick über die Vielfalt von William Turners Schaffen, in dem er auch Kriegsszenen darstellte oder die Folgen der Industrialisierung. Daneben stellt das Museum auch eine Verbindung zu Turners Zeitgenossen John Constable her und bezieht auch die Werke des irischen Multimedia-Künstlers Yuri Pattison mit ein, der sich, ebenso wie Turner, in einem Werk mit dem Sonnenuntergang befasst.


Joseph Mallord William Turner: The Lake of Zug (1843)
Joseph Mallord William Turner: The Lake of Zug (1843) – Metropolitan Museum of Art – Public Domain – bearbeitet

Turners Experimente mit Materialien

Turner wurde im Londoner Stadtteil Covent Garden als Sohn eines Barbiers geboren und begann bereits im Alter von 14 Jahren ein Studium an der Royal Academy. Schon in seiner Jugend feierte er Erfolge mit seinen Aquarellen und Ölgemälden, in denen er oft die Natur in innovativen Kompositionen und mit dramatischen Effekten darstellte. Neben stilistischen Experimenten testete er auch immer wieder neue Materialien, Techniken und Farben, um seine Motive darzustellen. Besonders Papier spielte für ihn eine zentrale Rolle; sein bevorzugtes Farbpapier aus Leinenfasern wurde in einer Mühle in der Nähe von Bath im Südwesten Englands hergestellt.

Einige seiner frühesten Zeichnungen fertigte Turner auf blauem Papier an, vielleicht um sich in eine lange Tradition europäischer Künstler einzureihen, die auf blauem Papier zeichneten, wie die Ausstellung „JMW TURNER“ nahelegt. Später nutzte Turner für seine Werke Papier, das er in lebhaften Farben wie Blau, Grau, Braun und Grün grundierte. Dieses Papier kombinierte er dann mit schnell trocknenden und undurchsichtigen Gouache-Farben, einer mit weißem Pigment verdickten Aquarellfarbe. Bei seinen Reisen kaufte er außerdem lokale Materialien, etwa dunkelblaues Papier in der Mosel-Region in Deutschland oder braunes Papier in Venedig.


Joseph Mallord William Turner: Venice, from the Porch of Madonna della Salute (1835)
Joseph Mallord William Turner: Venice, from the Porch of Madonna della Salute (1835) – Metropolitan Museum of Art – Public Domain – bearbeitet

Gemalte Empfindungen

Seine Werke zeigte Turner in diversen Ausstellungen, etwa an der Royal Academy in London oder in Galerien in Rom. Hierfür hatte er bereits im Alter von 29 Jahren eine eigene Galerie in London gegründet, die ihm die Kontrolle über die Ausstellung seiner Werke gab. Bei den so organisierten Schauen ließ Turner seine Gemälde gern in den Dialog mit den Bildern anderer Künstler treten, etwa mit denen des Landschaftsmalers John Constable. Dieser glaube sogar, dass es Turner auf eine direkte Konkurrenz zu ihm abgesehen hatte. Constable wird dazu in der Ausstellung der Tate mit den Worten zitiert, Turner habe „eine Waffe abgefeuert“, indem er eines seiner Gemälde so verändert hätte, dass es mit dem gegenübergestellten Werk von Constable in Wettstreit trat. Turner nutzte dafür die sogenannten „Varnishing Days“, bei denen er seine Gemälde in der Öffentlichkeit fertigstellte. Dies brachte ihm auch den Ruf ein, in kürzester Zeit Meisterwerke erstellen zu können.

Doch neben viel Anerkennung seitens der Presse und Öffentlichkeit gab es auch Kritik. Turners Verwendung heller Farben und seine skizzenhafte Pinselführung traf nicht immer den Geschmack; auch seine minimalistischen Motive waren vielleicht schon zu fortschrittlich für den Geschmack einiger seiner Zeitgenossen. Über seine verschwommenen Landschaften schrieb ein Kritiker damals, um Turner gerecht zu werden, sollte man sich stets vor Augen halten, dass er nicht der Maler von Reflexionen, sondern von unmittelbaren Empfindungen sei.

Als Turner starb, vermachte er dem britischen Staat eine große Anzahl seiner Gemälde. Nach seinem Tod im Jahr 1851 wurde der gesamte Inhalt seines Ateliers und seiner Galerie – bekannt als „The Turner Bequest“ – in staatliche Sammlungen aufgenommen. Darunter waren zahlreiche, oft noch unvollendete Werke, die zu seinen Lebzeiten unbekannt waren, die aber heute als prägend für seinen Stil gelten. Eine Ausstellung mit einigen dieser unvollendeten Gemälde wurde 1966 im Museum of Modern Art in New York gezeigt. Dies führte zu einer neuen Welle des Interesses an Turners Werk. Auch die Tate Britain zeigt in ihrer Sammlungspräsentation nun einige dieser unvollendeten Werke, die von einem Spiel aus Licht und leuchtenden Farben geprägt sind, mit unscharfen Kanten und fließenden Übergängen.


Joseph Mallord William Turner: Whalers (ca. 1845)
Joseph Mallord William Turner: Whalers (ca. 1845) – Metropolitan Museum of Art – Public Domain – bearbeitet

Turner und das Meer

Immer wieder malte Turner die furchterregende, aber auch die faszinierende Atmosphäre auf See, von dramatischen Seeschlachten im stürmischen Meer über Schiffswracks und Fischerboote zwischen den Wellen bis hin zu Sonnenuntergängen über den Weiten des Ozeans. Insbesondere in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens widmete er sich diesen Motiven; viele der Werke blieben unvollendet. Insbesondere seine Gemälde von Dampfschiffen und Waljagden dokumentieren dabei auch Aspekte der modernen Technik und der maritimen Industrie im frühen 19. Jahrhundert. Seine Eindrücke sammelte Turner in dieser Zeit vor allem an der Küste von Kent, insbesondere im Badeort Margate oder in Marinehäfen, wo er sich von Berichten von Seeleuten inspirieren ließ.

Neben Seestücken hielt Turner auch zahlreiche Landschaften und Impressionen aus verschiedenen europäischen Städten fest, die er während seinen Reisen besuchte. Lange Zeit waren Auslandsreisen für den Künstler nicht möglich, aufgrund der Revolutions- und Napoleonischen Kriege (1793-1815). Nur während einer kurzen Friedensperiode im Jahr 1802 konnte er Frankreich und die Schweiz besuchen. Erst ab 1817 konnte Turner dann zu größeren Europareisen aufbrechen, etwa nach Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland, Luxemburg, Dänemark, Böhmen, in die Schweiz und vor allem nach Italien. Hier ließ er sich unter anderem in Rom, Neapel und Venedig nieder. Während dieser Reisen füllte der Künstler zahlreiche Skizzenbücher mit Zeichnungen, Notizen und neuen Ideen für spätere Gemälde. Seine letzte Auslandsreise unternahm Turner 1845 mit einem Dampfschiff nach Nordfrankreich.


Joseph Mallord William Turner: The Fort of L'Esseillon, Val de la Maurienne, France (1835-36)
Joseph Mallord William Turner: The Fort of L’Esseillon, Val de la Maurienne, France (1835-36) – Metropolitan Museum of Art – Public Domain – bearbeitet

Landschaften und Sonnenuntergänge

Neben den Werken von Turner zeigt die Tate Britain in der Sammlungsausstellung auch Gemälde seines Wegbegleiters John Constable (1776-1837), der mit seinen Landschaftsdarstellungen die romantische Vorstellung des ländlichen Lebens im England des frühen 19. Jahrhundert prägte. Schon damals waren Constables Werke stark nostalgisch angelegt, denn sie zeigten das idyllische Landleben, fern ab von prekärer Arbeit und der zunehmenden Industrialisierung in den Städten. Ebenso wie Turner versuchte auch Constable flüchtige Lichteffekte der Natur einzufangen. Wegen dieser stilistischen Nähe wurden die Werke beider Künstler in Ausstellungen auch gemeinsam gezeigt.

Ein weiterer Künstler, der von der Tate Britain in die Ausstellung „JMW TURNER“ mit einbezogen wird, ist Yuri Pattison (*1986). Auch wenn den Maler aus dem 18. Jahrhundert und den Multimedia-Künstler rund 200 Jahre trennen, verbindet beide das Interesse für ein bestimmtes Motiv: den Sonnenuntergang. In der Installation „sun[set] provisioning“ (2019) visualisiert Pattison digital einen sich endlos verändernden Sonnenuntergang im Meer in einer Struktur aus einem industriellen Stahlregalsystem. Die Bilder auf dem Bildschirm werden dabei in Echtzeit aus Daten über die atmosphärischen Bedingungen im Raum generiert. Ein Überwachungssystem sammelt dafür Informationen über Kohlendioxid, Schadstoffpartikel, Ozon, Formaldehyd, Temperatur und Luftfeuchtigkeit, woraus eine Software dann Sonnenuntergänge erzeugt. Die Arbeit ist ein Kommentar zum Phänomen spektakulärer Sonnenuntergänge, die durch hohe Schadstoffmengen in der lokalen Atmosphäre verursacht werden. Die Sonnenuntergänge werden dabei intensiver und farbenprächtiger, je höher die Luftverschmutzung ist.

Pattinsons Arbeit steht damit, trotz des gleichen Motivs, in direktem Kontrast zu Turners Sonnenuntergängen. Im Ausstellungsraum zeigt das Museum hier eine Gruppe von Aquarellen, die Turner über einen Zeitraum von 25 Jahren gemalt hat. Hier widmete er sich den visuellen Effekten von Licht, Luft, Wasser und den damit verbundenen Naturphänomenen wie Nebel, Sturm und Wolken.


JMW TURNER

Tate Britain, Clore Gallery


Header-Bild: Angelika Schoder – Tate Britain, London 2023


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Angelika Schoder

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