[Rezension] Frauen, oder besser gesagt ihre Körper, sind in der Kunst zentrale Objekte. Besonders im Surrealismus, wo es oft um Begierde und Sexualität geht, spielen Frauen als Motiv eine zentrale Rolle. Doch tatsächlich ist es hier nicht immer nur der männliche Blick, der dominiert. Zahlreiche Künstlerinnen haben ihre Perspektive auf den eigenen Körper, aber auch auf andere Frauen, in Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen, Filmen und Fotografien festgehalten. Die Publikation „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ rückt jetzt berühmte, aber auch bisher weniger bekannte Künstlerinnen des Surrealismus in den Fokus.
Surrealismus im Fokus
Ausstellungen zum Surrealismus scheinen hierzulande gerade im Trend zu sein. Das Vitra Design Museum befasste sich 2019 mit surrealistischem Design in der Ausstellung „Objekte der Begierde“ und die Hamburger Kunsthalle lud 2016 zu „Surrealen Begegnungen“. In beiden Ausstellungen standen nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ im Mittelpunkt wie Salvador Dalí, Yves Tanguy oder André Breton. Auch surrealistische Künstlerinnen wie Leonora Carrington (1917-2011), Meret Oppenheim (1913-1985) oder Claude Cahun (1894-1954) fanden hier ihren Platz.
Mit Einzelausstellungen zu Künstlerinnen hält man sich in Deutschland jedoch weiterhin zurück. Während die Tate Modern in London vor kurzem noch eine Retrospektive zu Dora Maar (1907-1997) zeigte und wenige Monate zuvor Dorothea Tanning (1910-2012) in den Fokus gerückt hatte, konzentriert man sich in Deutschland bisher weiterhin eher auf die Kunst der männlichen Surrealisten: 2017 widmete die Schirn Kunsthalle Frankfurt etwa René Magritte eine große Einzelausstellung; 2018 stand in der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg der Surrealist Max Ernst im Fokus. Immerhin: Die Schirn Kunsthalle und das Louisiana Museum of Modern Art fokussieren sich jetzt in einer gemeinsamen Überblicksausstellung zum Surrealismus allein auf weibliche Akteure: Es sind 36 Künstlerinnen aus elf Ländern, die mit rund 260 Werken in der Ausstellung „Fantastische Frauen“ präsentiert werden. Begleitend dazu erschien die Publikation „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“.
Das Spiel mit Rollenbildern und Machtverhältnissen
Als sich die surrealistische Bewegung um André Breton in den 1920er Jahren zusammenfand, zählten zunächst vor allem Männer zur Gruppe. Gemeinsam diskutierte und publizierte man. Schließlich stießen auch Frauen zum Kreis dieser Männer hinzu – nicht nur als Partnerinnen, Modelle und Musen, sondern auch als eigenständige Künstlerinnen. Ihre Werke kreisen ebenso um die selben Themen des Surrealismus: Es geht um Mythen, das Unbewusste, Träume, das Zufällige und Metamorphosen. Hintergründig geht es aber auch häufig um Sexualität und damit auch um das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Machtverhältnisse, ebenso wie Rollenverhältnisse, werden diskutiert – und das eben nicht nur von den männlichen, sondern auch von den weiblichen Künstlern. Neben biologischer Geschlechtlichkeit geht es in den Werken dieser auch um soziale Gender-Fragen und immer wieder um Selbstironie und die spielerische Umkehr von Perspektiven.
Die Publikation „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ konzentriert sich auf die weiblichen Akteure des Surrealismus und betrachtet dabei nicht nur die Künstlerinnen des Pariser Zirkel, sondern stellt auch Vertreterinnen aus England, Belgien, Tschechien, der Schweiz sowie aus Skandinavien, den USA und Mexiko vor. So zeigen sich Einflüsse, Parallelen, aber auch Unterschiede in den Werken der Surrealistinnen.
Ihren Weg verfolgten diese entgegen der Widerstände ihrer männlichen Kollegen in der Bewegung der Surrealisten. So formulierte Max Ernst 1936 abwertend: „Das Weib ist ein mit weißem Marmor belegtes Brötchen.“ Im gleichen Jahr feierte das Museum of Modern Art, New York die „Pelztasse“ der erst 22-jährigen Künstlerin Meret Oppenheim als Innbegriff des Surrealismus in der Ausstellung „Fantastic Art, Dada, Surrealism“. Es war das Werk einer Frau – und nicht das eines männlichen Begründers des Surrealismus – das die Grundprinzipien der Kunstbewegung am besten verdeutlichte. Besonders Max Ernst konnte das schwer verkraften, immerhin war Oppenheim über zwanzig Jahre jünger als er, der etablierte Künstler. Zudem hatte sie ihn nach einer kurzen Beziehung verlassen. Zu ihrer ersten Einzelausstellung in Basel schrieb er 1936 spöttisch: „Wer überzieht die Suppenlöffel mit kostbarem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns über den Kopf gewachsen? Das Meretlein“. [1] Die Künstlerinnen waren den männlichen Surrealisten also nicht nur ebenbürtig – sie waren ihnen teils eben sogar „über den Kopf gewachsen“.
Vom passiven Objekt zum aktiven Subjekt
Viele surrealistische Künstlerinnen waren häufig von ihren männlichen Zeitgenossen portraitiert worden, etwa Meret Oppenheim in Man Rays „Érotique voilée“ (1933) als Akt an der Druckmaschine oder Unica Zürn (1916-1970) als zusammengeschnürte Puppe in den Werken von Hans Bellmer. Durch ihre eigene künstlerische Tätigkeit wurden diese Frauen aber schließlich vom passiven Objekt zum agierenden Subjekt. [2] Die meisten Surrealistinnen stellten sich daher in ihren Werken selbst dar, und zwar ironisch, spielerisch oder provokativ. Häufig spielten dabei Tiere oder mythische Wesen eine wichtige Rolle, etwa die Melusine, eine Mischung aus Frau und Meereswesen, oder die Sphinx, eine Mischung aus Frau und geflügeltem Löwen. Frida Kahlo (1907-1954) zeigt sich etwa als „Kleiner Hirsch“ (1946) und Leonor Fini (1907-1996) wird zur Sphinx-ähnlichen „Erdgottheit“ (1946).
In ihren Werken beweisen die Künstlerinnen, dass der Surrealismus auch Raum für sehr viele fortschrittliche Aspekte zum Thema Körper, Sexualität und Geschlecht bietet. Vorreiterinnen sind hier sicherlich Claude Cahun [3] und Meret Oppenheim [4], die sich in ihren Werken mit den Themen Androgyität und fluider Geschlechtlichkeit auseinandersetzen. Auch andere aktuelle Themen werden von den Surrealistinnen schon früh aufgegriffen, etwa die Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Mit diesen Fragen beschäftigt sich etwa Leonora Carrington. Die Publikation „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ gibt hier einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Surrealistinnen, die häufig weit über die Themenwelt ihrer männlichen Kollegen hinausgehen.
Der Aufstieg der Surrealistinnen
Lange würdigten Museen in Ausstellungen zum Surrealismus fast ausschließlich die männlichen Vertreter der Bewegung. Erst in den 1980er Jahren wurden immer mehr weibliche Akteure von der Kunstwelt „entdeckt“. Frida Kahlo etwa blieb lange außerhalb ihrer mexikanischen Heimat weitestgehend unbekannt. Heute hingegen gilt sie als gefeierte Ikone, wie die Ausstellung „Frida Kahlo: Making Her Self Up“ im Victoria and Albert Museum in London bewies. Die Schau von 2018 avancierte zum Blockbuster mit ausgebuchten Tickets. Ähnlich verhält es sich mit Leonora Carrington, Dora Maar oder Dorothea Tanning. Auch sie wurden vor wenigen Jahren wieder entdeckt und erst jetzt durch internationale Einzelausstellungen geehrt. Andere Künstlerinnen des Surrealismus sind hingegen noch immer kaum bekannt, etwa Maya Deren (1917-1961), Remedios Varo (1908-1963) oder Emila Medková (1928-1985).
Ein Grund für die jahrelange Vernachlässigung der weiblichen Surrealisten war vermutlich, dass der klassische Surrealismus in der Kunstgeschichte häufig nur bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges betrachtet wurde. [5] Viele Künstlerinnen hatten aber erst später ihre Schaffensphasen, etwa Greta Knutson (1899-1983), Bridget Tichenor (1917-1990) oder Louise Bourgeois (1911-2010). Obwohl sie in ihren Werken sehr stark vom Surrealismus beeinflusst wurden, werden diese Künstlerinnen erst jetzt auch als Surrealistinnen anerkannt.
Bedenkenswert ist allerdings, dass einige Künstlerinnen, etwa Oppenheim, Carrington oder Tanning, bewusst zu ihren Lebzeiten nicht als „Surrealisten“ klassifiziert werden wollten. Es war ihnen wichtig, in ihrem Werk als eigenständig wahrgenommen zu werden. [6] In der Publikation „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ werden diese Künstlerinnen nun aber dennoch in die Bewegung der Surrealisten eingereiht. Gemeint ist es als Kompliment, denn diese Frauen greifen die gleichen Themen und Motive wie die männlichen Gründer des Surrealismus auf, erweitern diese aber durch eigene Perspektiven. Der Surrealismus als Kunstströmung kann durch diese Einordnung nur noch weiter an Komplexität gewinnen.
Der Begleitband zur Ausstellung „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, herausgegeben von Ingrid Pfeiffer, ist 2020 im Hirmer Verlag erschienen (ISBN: 978-3-7774-3413-1). Der Band enthält, neben zahlreichen Werk-Abbildungen, Künstlerbiografien und einer Auswahlbibliografie, Texte von u.a. Heike Eipeldauer, Patricia Allmer, Rebecca Herlemann, Silvano Levy, Laura Neve, Annabelle Görgen-Lammers, Alyce Mahon, Gabriel Weisz Carrington, Tere Arcq, Karoline Hille und Christiane Meyer-Thoss.
Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo
Schirn Kunsthalle Frankfurt
13.02.-05.07.2020 (verlängert)
Louisiana Museum of Modern Art
Humlebæk, Dänemark
25.07.-08.11.2020
musermeku dankt dem Hirmer Verlag für die kostenfreie Überlassung des Ausstellungskatalogs als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: Detail aus: Francesco del Cossa: Santa Lucia (um 1473/74) – National Gallery of Art, Washington – Open Access
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Ingrid Pfeiffer: Fantastische Frauen in Europa, den USA und Mexiko. In: Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo, Hg.v. Ders., 2020, S. 25-37, hier S. 25. Zitiert nach: Josef Helfenstein: Meret Oppenheim und der Surrealismus, 1993, S. 39
[2] Dazu: Ebd., S. 33
[3] Dazu: Patricia Allmer: Fantastische Visionen. Fotografinnen und Surrealismus. In: Ebd., S. 99-104
[4] Dazu: Heike Eipeldauer: „Grosse Kunst ist immer männlich-weiblich“. Meret Oppenheim und die Utopie von Androgynität. In: Ebd., S. 67-73
[5] Dazu: Pfeiffer: Fantastische Frauen, S. 26f
[6] Dazu: Ebd., S. 37
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