[Pressetermin] „Sie befinden sich in der sicheren Zone“ – so begrüßt ein kleiner Roboter, der farblich an BB-8 aus „Star Wars: The Force Awakens“ erinnert, die Protagonisten auf der Bühne. In der Oper „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa, ein Kompositionsauftrag der Staatsoper Hamburg, ist jedoch niemand sicher – weder körperlich, noch seelisch. Die Gefahr durch radioaktive Strahlung, die nach dem Tōhoku-Erdbeben im Jahr 2011 die Landschaft und sogar das Meer noch bis heute stark verseucht, tritt fast zurück hinter dem Leid, das die Menschen durch den Verlust ihrer Freunde und Familienmitglieder erfahren haben. Hosokawa übersetzt diese Mischung aus Verleugnung und Trauer nun in Musik und thematisiert in seiner Oper, warum in Japan nach der Fukushima-Katastrophe nichts mehr so sein kann, wie es zuvor war.
Die Unfähigkeit zu trauern
Zentrale Figur der Oper „Stilles Meer“ ist Claudia (Susanne Elmark), eine deutsche Balletttänzerin, die der Liebe wegen seit mutmaßlich rund zehn Jahren in Japan lebt. Sie geht ans Meer, um nach ihrem japanischen Mann Takashi Ausschau zu halten, der mit ihrem deutschen Sohn Max zum Fischen fuhr. Was sie jedoch nicht wahr haben kann: Beide sind seit dem Tsunami, der im März 2011 durch das Tōhoku-Erdbeben ausgelöst wurde, verschollen. Ihr Umfeld sorgt sich um sie; neben den Bewohnern des Dorfes versucht vor allem ihre japanische Schwägerin Haruko (Mihoko Fujimura) zu ihr durchzudringen.
Der Umgang mit Verlust
Die Fischer des Dorfes, ebenso wie Haruko, haben den Verlust ihrer Familienmitglieder und Freunde durch die Katastrophe verinnerlicht und trauern, indem sie zum Fest „Tōrō nagashi“ Laternen aufs Meer treiben lassen wollen und indem sie – ausgestattet mit Schutzkleidung – auf dem radioaktiv verstrahlen Friedhof Blumen niederlegen wollen. Nur Claudia leugnet das Geschehene und ist nicht in der Lage, insbesondere den Tod ihres Sohnes zu akzeptieren.
Als Claudia schließlich von ihrem Ex-Mann aus Deutschland, dem Vater ihres Sohnes, aufgesucht wird, der sie mit zurück nehmen will, offenbart sich, warum sie Japan nicht verlassen kann. Zum einen sei das Land zu ihrer Heimat geworden, sie schwärmt vom Obst, vom Wetter und besonders vom Meer – ohne einsehen zu wollen, dass all dies durch die radioaktive Strahlung längst zur Bedrohung geworden ist. Zum anderen könne sie wegen ihres Sohnes Max nicht zurück, schließlich spreche dieser nach all den Jahren kein Deutsch mehr, sondern nur noch Japanisch. Auch hier zeigt sich, dass der Grund, der sie an den Ort bindet, nur in ihrer Vorstellung existiert.
Ihr Ex-Mann Stephan (Bejun Mehta) sehnt sich danach, mit ihr um das gemeinsame Kind zu trauern, doch Claudia kann dies nicht zulassen: Sie berichtet, wie nach dem Tsunami alle evakuiert wurden – eine Suche nach Vermissten sei nicht möglich gewesen. Dann, als die Evakuierten wieder zurück kehren konnten, begann die Suche nach den Leichen. Diejenigen, die sofort gefunden wurden, seien noch „fast schön“ gewesen. Diejenigen, die das Meer erst nach einer Zeit anschwemmte, waren schon schwer zu identifizieren. Diejenigen, die schließlich erst nach mehreren Tagen an den Strand gespült wurden, seien verstümmelt und von Fischen zernagt gewesen und nur noch anhand ihrer Zahnarztunterlagen identifizierbar. Claudia betont: Vielen wäre es wohl lieber gewesen, man hätte ihre Angehörigen nicht gefunden, anstatt in diesem Zustand. Ihr blieb dieses Schicksal zwar erspart, die Ungewissheit um ihren Mann und ihren Sohn verhindert aber auch gleichzeitig die Möglichkeit zu trauern.
Bedrohte Natur und Natur als Bedrohung bei Toshio Hosokawa
Für den in Hiroshima geborenen Komponisten Toshio Hosokawa, der in Berlin und Freiburg studiert hat und heute als einer der bedeutendsten japanischen Komponisten zeitgenössischer Musik gilt, spielt die Natur eine zentrale Rolle. Sie ist für ihn auf eine symbolhafte Art und Weise mit Formen und Klängen verbunden, aber auch der Stille wohnt für Hosokawa eine spirituelle Bedeutung inne. Im Blog der Staatsoper Hamburg erklärt er im Bezug auf seine Oper „Stilles Meer“:
„Das Tōhoku-Erdbeben und der Tsunami im Jahr 2011 sowie die dadurch ausgelöste Atomkatastrophe ließen mich erneut über Naturgewalten und die menschliche Arroganz nachdenken. Meine Musik entsteht in tiefem Einklang mit der Natur und soll dazu anregen, einmal mehr zu reflektieren, dass die Menschheit die elementare Kraft der Natur gleichermaßen respektiert wie fürchtet, und wie sie bei dem Versuch, die Natur zu kontrollieren und zu dominieren, diese letztendlich zerstört.“
Toshio Hosokawa
Kostüm und Bühnenbild
Die Inszenierung der Oper „Stilles Meer“ in der Hamburger Staatsoper setzt Hosokawas musikalisches Naturverständnis auch optisch gelungen um. Aya Masakanes Kostüme zeigen, wie die Kultur Japans auf deutsche Mentalität trifft, aber auch wie sich Natur und Zerstörung gegenüber stehen. Im Zentrum befindet sich auch hier Claudia, die mit einem rosafarbenem Kleid wie eine Kirschblüte wirkt. Die Asymmetrie und Plissees des Kleides erinnern hier an japanische Designer wie Rei Kawakubo oder Issey Miyake und lassen Claudia farblich aus ihrem Umfeld hervorstechen, auch wenn sie in ihrem Stil als kulturell integriert erscheint.
Dieser hellen, japanisch-angelehnten Natürlichkeit steht der klassische dunkelblaue Anzug ihres Ex-Mannes gegenüber, der damit sachlich und kulturell fremd erscheint. Die weitere zentrale Figur der Oper ist Haruko, die Schwägerin von Claudia, die eher traditionell gekleidet erscheint und in blassen Erdfarben als natürlicher Ruhepol wirkt. Die Fischer aus dem Dorf spiegeln dem gegenüber schließlich zum Ende des Stücks die zerstörte Natur, denn sie tragen Schutzanzüge, die sie vor der radioaktiven Strahlung schützen sollen.
Auch das Bühnenbild von Itaru Sugiyama und v.a. das Lichtkonzept von Daniel Levy zeigt diesen Kontrast zwischen Natur und Zerstörung: Die Bühne, eine Art Steg der zum Meer führt, ist zunächst blau beleuchtet und wirkt in der „sicheren Zone“ eher natürlich – unterstrichen durch Wellenreflektionen, die in die Ränge im Zuschauerraum geleuchtet werden. Je näher die atomare Strahlung rückt, um so gelblicher scheint das Licht – von der Decke hängen Lichtröhren, die mit ihrem Glühen eher an radioaktive Brennstäbe aus dem Kernkraftwerk erinnern.
Trotz dieser gedankenvollen Inszenierung von Oriza Hirata steht Hosokawas Musik im Vordergrund – sie ist dabei nicht nur hörbar, sondern auch spürbar. Der Einsatz von Perkussion löst Vibrationen aus, die das bedrohliche Meer geradezu verkörperlichen und den Herzschlag beschleunigen. Gleichzeitig sind aber auch die ruhigen Momente von „Stilles Meer“ diejenigen, die das Bedrückende der Thematik besonders zum Ausdruck bringen.
„Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa
Staatsoper Hamburg
musermeku dankt der Staatsoper Hamburg für den freien Eintritt zur Generalprobe von „Stilles Meer“.
Header-Bild: Angelika Schoder, 2016
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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