Wann lösen wir uns endlich von Social-Media-Algorithmen?

Wer Inhalte für Social Media erstellt, arbeitet mittlerweile nicht mehr in oder mit den Plattformen, sondern gegen die Algorithmen. Gibt es einen Weg aus diesem problemarischen System?

Wer Inhalte für Social Media erstellt, arbeitet vor allem gegen Algorithmen. Gibt es einen Weg aus diesem problemarischen System?

[Debatte] Einige Jahre lang habe ich gegen Social-Media-Plattformen gearbeitet. Ich sage bewusst „gegen“ und nicht in oder mit, denn um die Ziele meiner Arbeit erfolgreich zu erreichen, musste ich die Algorithmen der Plattformen, auf denen ich aktiv war (hauptsächlich Facebook und Instagram), als meine Feinde verstehen. Als meine Kollegin bei musermeku.org, Angelika Schoder, kürzlich ein Statement auf dem Instagram-Account von @musermeku über ihre Entscheidung postete, die Zeit zu reduzieren, die sie dort in die Erstellung von Inhalten investieren würde, passierte etwas Ungewöhnliches: Der Beitrag bekam eine für uns bisher noch nie dagewesene Reichweite. Laut Statistik erreichte das Posting über 16.000 Accounts, die gesamte Reichweite liegt bei über 31.000. Das sind beachtliche Zahlen wenn man bedenkt, dass @musermeku nur etwas über 4.000 Follower hat und seit Monaten kaum 200-300 Accounts erreicht. Doch warum wurde ein aus Frustration geborener Post plötzlich so vielen Nutzern angezeigt? Weil der Algorithmus so funktioniert: polarisierende Inhalte werden bevorzugt.


Algorithmische Einflüsse

In Frankreich veröffentlichte eine überparteiliche Parlamentskommission im September 2025 einen Bericht, der die Gefahren von TikTok für Jugendliche darlegt und Beschränkungen für die Nutzung der Plattform durch Minderjährige empfiehlt. Mehrere französische Medien befragten daraufhin junge Nutzer über ihr Verhältnis zu TikTok im Rahmen ihrer Berichterstattung über den Parlamentsbericht. Die Aussagen der Jugendlichen, die vermutlich aufgrund einer Bestätigungsverzerrung der Redaktionen für die Berichterstattung ausgewählt wurden, bestätigen den Bericht und stellen TikTok als drogenähnliches Phänomen dar.

Meiner Erfahrung nach, ist dies ein Merkmal aller großen Social-Media-Netzwerke – was für TikTok gilt, trifft auch auf die Plattformen von Meta wie Instagram, Facebook und Threads zu, aber auch auf YouTube, Bluesky und weitere Anbieter, die Algorithmen nutzen. Es gibt immer wieder gesellschaftliche und mediale Debatten darüber, wie diese abhängig-machenden Funktionsweisen auf die Nutzer der Netzwerke wirken. Was aber nicht ausreichend diskutiert wird, ist, wie die Algorithmen die Content-Ersteller und ihre Inhalte beeinflussen.


In der inhaltlichen Abwärtsspirale

Das Hauptkonzept von Social Media ist ein Traum, der wahr geworden ist für jeden, der das Bedürfnis hat, eine Botschaft öffentlich zu kommunizieren. Aber was etwas Positives mit gesellschaftlichem Mehrwert hätte sein können, wuchs zu global mächtigen Unternehmen heran. Effizienz wurde wichtiger als Wirksamkeit und finanzieller Gewinn wurde zum wichtigsten Ziel. Eine algorithmische Hierarchie von Inhalten erschien als beste Lösung, um dies zu erreichen. Es gab bereits Social Media vor der Zeit der Algorithmen – und es war weniger schädlich für seine Nutzer, allerdings auch weniger profitabel für die Anbieter.

Jedem, der seit der Anfangszeit von Social Media Inhalte auf den Plattformen erstellt hat, wird aufgefallen sein, dass die Algorithmen die Online-Kommunikation in eine Abwärtsspirale gedrängt haben. Denn nur bestimmte Inhalte werden vom Algorithmus bevorzugt; Ersteller müssen ihren Content modifizieren, um Reichweite zu bekommen. Aber je mehr Inhalte an den Algorithmus angepasst werden, desto mehr wird das Publikum seinen Fokus darauf ausrichten. Eine längere Verweildauer der Nutzer bei Inhalten und Interaktionen mit den Postings beeinflussen den Algorithmus, dies zwingt wiederum die Ersteller, ihre Inhalte weiter anzupassen oder Geld zu investieren, um Postings zu bewerben. Aber selbst bezahlte Reichweite muss sich an den Geschmack eines vom Algorithmus beeinflussten Publikums anpassen. So entsteht ein Teufelskreis. Nicht nur reguläre Social-Media-Nutzer sind davon betroffen; die Content-Ersteller sind ebenso in diesem Strudel gefangen. Sie sind selbst Opfer des Algorithmus, egal ob sie sich nun bewusst auf dessen Dynamiken einstellen oder diese unbewusst auslösen.


Schleichendes Gift

Die Social-Media-Plattformen sind lediglich Strukturen, leere Hüllen. Sie brauchen Inhalte, um Nutzer bei der Stange und süchtig zu halten. Sie brauchen den Zugriff auf die Nutzer, um Gewinn aus Werbeeinnahmen und persönlichen Daten zu generieren. Der Algorithmus ist der Weg, diesen Zugriff zu behalten. Er wird auswählen, welche Inhalte relevanter sind, indem er die psychologischen Schwächen der Nutzer ausnutzt und empörende, emotionalisierende, radikale Botschaften priorisiert.

Wir haben unzählige Content-Ersteller gesehen, die in diesem Prozess radikalisiert wurden. Social-Media-Schaffende, die für ihren Lebensunterhalt auf Reichweite angewiesen sind, werden ihre Inhalte an die Anforderungen des Algorithmus anpassen. Diejenigen, die in der Wahrnehmung ihrer Zielgruppen relevant sein möchten, müssen dasselbe tun. Radikalisierte Inhalte radikalisieren wiederum das Publikum. Dieses Publikum wird dann immer extremere Inhalte fordern – und so weiter…

Algorithmus-basierte Plattformen funktionieren wie „schleichendes Gift“, so wurde es im französischen TikTok Report bezeichnet. Und die Plattformen zwingen indirekt die Content-Ersteller, die auf diese angewiesen sind, dazu, dieses Gift zu produzieren und die Nutzer dadurch abhängig zu halten. Social Media ist eine Branche, die aus wirtschaftlicher Sicht gut funktioniert. Doch die Konsequenz für viele Nutzer ist die Zunahme psychischer Probleme; für die Gesellschaft können die Folgen bis hin zur Erosion der Demokratie reichen.


Social-Media-Inhalte als Emotions-Trigger

Es gibt natürlich viele Content-Ersteller, die ihr Bestes geben, um gegen dieses System der großen Social-Media-Plattformen zu kämpfen. Ich habe dies beruflich so lange wie möglich gemacht. Es zeigt sich aber auch immer wieder, wie viele großartige Content-Ersteller lange versucht haben, mit ihren Inhalten gegen die Algorithmen zu bestehen – bis sie aufgrund der mangelnden Reichweite keine Motivation mehr hatten weiterzumachen. Und dies lag oft nicht am mangelnden Interesse eines bestehenden Publikums, das sich für genau die Inhalte der Creators interessiert hätte. Wenn Algorithmen entscheiden, dass dieses Publikum von den Inhalten gar nicht erreicht wird, bleiben nur noch wenige Optionen: seine Inhalte so verbiegen, dass der Algorithmus darauf anspringt, selbst wenn man sich damit von seinem persönlichen Stil verabschieden muss, seine Inhalte mit Budget bewerben und sich die Reichweite erkaufen – oder resigniert seine Social-Media-Aktivitäten einschränken oder ganz aufgeben.

Um genau dieses Einschränken ging es in dem oben erwähnten erfolgreichen Instagram-Post bei @musermeku. Interessanterweise entschied der Algorithmus diesen Beitrag zu pushen, weil es ein kontroverser Post zu einem Thema war, das für viele Menschen auf der Plattform emotional ansprechend ist. Die Schlussfolgerung könnte nun sein, dass wir mit @musermeku auf Algorithmus-basierten Social-Media-Plattformen mit den Emotionen unserer Zielgruppe spielen und Empörung triggern müssten. Doch jeder, der unsere Inhalte bei musermeku.org und in Social Media in den letzten Jahren verfolgt hat, weiß, dass wir so nicht arbeiten. Wir werden uns nicht daran beteiligen, schleichendes Gift zu produzieren. Die im Instagram-Post erwähnte Entscheidung bleibt bestehen: statt unsere Inhalte dem Algorithmus anzupassen, werden wir uns treu bleiben und lieber unsere Inhalte bei Instagram reduzieren. Von anderen Meta-Plattformen haben wir uns sogar bereits ganz verabschiedet: so haben wir unsere Seite bei Facebook ebenso wie unseren Account bei Threads vollkommen stillgelegt. Auch von Twitter/X haben wir uns schon vor Jahren verabschiedet. Gegen die Algorithem kamen unsere Inhalte hier irgendwann nicht mehr an – wir haben daraus die Konsequenzen gezogen.

Immer mehr Menschen leiden bereits an Social-Media-Fatigue, sie reduzieren ihre Nutzung deutlich oder löschen sogar die Apps der Plattformen und schließen ihre Accounts. Andere fordern eine Anpassung der Algorithmen, damit diese nicht mehr psychisch schädliche, hasserfüllte oder sogar demokratiegefährdende Inhalte pushen. Während die erste Option für einige zum Selbstschutz eine gute Idee sein kann, wäre die zweite keine nachhaltige Lösung für alle, die in Social Media weiterhin aktiv sein wollen oder dies beruflich müssen. Denn statt Plattformen mit „besseren“ Algorithmen zu fordern, sollten wir uns für Social-Media-Plattformen ganz ohne Algorithmen einsetzen.


Header-Bild: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2025


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Damián Morán Dauchez

Bei musermeku schreibt Damián Morán Dauchez über Geschichtsthemen, Ausstellungs- und Museumsdesign sowie über Erinnerungskultur.

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