[Pressereise] Eine amerikanische Frau in Paris, unter diesem Titel widmete das Centre Pompidou der Künstlerin Shirley Jaffe im letzten Jahr eine große Sonderausstellung. Bevor sie ab Herbst 2023 ins Musée Matisse nach Nizza weiterziehen wird, macht die Ausstellung aktuell Station im Kunstmuseum Basel. Mit „Form als Experiment“ lässt sich das farbenfrohe Werk einer Künstlerin entdecken, die im deutschsprachigen Raum bisher nur selten gezeigt wurde. Begleitet wird die Ausstellung von einem Oral-History-Projekt, das versucht einen persönlichen Blick auf die Künstlerin zu werfen, die selbst eher zurückhalten war; ganz anders als ihre Werke, die besonders in ihrem Spätwerk durchaus lautstark auf sich aufmerksam machen.
Genauigkeit und Komplexität
Nach Paris kam die 1923 in New Jersey als Shirley Sternstein geborene Künstlerin im Jahr 1949, der Liebe wegen. Die Ehe mit dem Journalisten Irving Jaffe hielt nur kurz, doch seinen Nachnamen behielt sie und auch die französische Hauptstadt blieb bis zu ihrem Tod 2016 für die meiste Zeit ihr Lebensmittelpunkt. Hier war sie zunächst mit anderen Kunstschaffenden vernetzt, die ebenfalls aus den USA emigriert waren, etwa Norman Bluhm, Sam Francis oder später auch Joan Mitchell.
Im Laufe ihres Schaffens verfolgte Shirley Jaffe immer wieder andere künstlerische Ansätze; ihre Entwicklung war dabei von mehreren, teils radikalen Brüchen geprägt. Während ihrer ersten Jahre in Paris können Jaffes Arbeiten mit ihren plakativen Farbfeldern dem abstrakten Expressionismus zugeordnet werden. Fast wie geologische Formationen oder Landschaften wirken ihre hellen Werke zu dieser Zeit. Ihre ersten Gemälde scheinen dabei stark vom Einfluss des Impressionismus geprägt zu sein, allen voran von Claude Monet, dessen Werke sie bei ihren Museumsbesuchen in Paris kennenlernte.
Das Kunstmuseum Basel thematisiert in der Ausstellung auch die Verbindungen der Künstlerin in die Schweiz, die bereits seit den 1950er Jahren bestanden. Über ihren Freund und Förderer Sam Francis, der als Maler bereits international erfolgreich und gut vernetzt war, erhielt Jaffe Kontakt zu Schweizer Kunsthändlern und Kuratoren. Insbesondere der Kunsthistorikers Arnold Rüdlinger, der sowohl Direktor der Kunsthallen Bern und später auch der Kunsthalle Basel war, interessierte sich für die Kunst der in Paris lebenden Amerikaner. So pflegte er nicht nur eine Freundschaft zu Sam Francis, sondern erhielt auch Kontakt zu Shirley Jaffe und Kimber Smith. 1958 brachte Rüdlinger ihre Werke nach Basel, im Rahmen der internationalen Wanderausstellung „Die neue amerikanische Malerei“ des Museum of Modern Art, New York. Im gleichen Jahr kuratierte er zudem Arbeiten der drei Kunstschaffenden für das Centre Culturel Américain in Paris in der Ausstellung „Sam Francis, Shirley Jaffe, Kimber Smith“. Für Rüdlinger verband die Werke ein „gänzlich uneuropäisches Raumgefühl“ ohne Perspektive oder harmonische Proportionen.
Neue Strukturen und Einflüsse
In den 1960er Jahren entfernte sich Shirley Jaffe immer weiter vom abstrakten Expressionismus. Zunächst waren ihre Arbeiten in dieser Zeit noch sehr dunkel gehalten; ein Grund dafür war ihre finanzielle Situation, denn dunkle Farben waren günstiger. Als sie dann im Jahr 1963 ein Stipendium der Ford Foundation für ein Jahr nach West-Berlin führte, änderte sie ihren Stil deutlich. Hier griff sie diverse neue Einflüsse auf. Besonders die Werke des deutschen Expressionismus beeindruckten sie. Das Stipendienprogramm war interdisziplinär angelegt; so kam Jaffe auch in Kontakt mit dem griechisch-französischen Komponisten und Musiktheoretiker Iannis Xenakis und mit Karlheinz Stockhausen. Auch die Auseinandersetzung mit Werken von Wassily Kandinsky oder Sophie Taeuber-Arp hinterließen ihre Einflüsse im Werk der Künstlerin. Doch sie fühlte sich in Berlin auch in einem Spannungsfeld; als Jüdin waren für sie die Nachwirkungen des Nationalsozialismus noch wahrnehmbar in der deutschen Nachkriegsgesellschaft verankert.
Jaffes Arbeiten wurden durch diese Einflüsse bald monochromer und geometrischer; es entwickelte sich eine neue Dynamik. Auch die finanzielle Stabilität, die ihr das Stipendium ermöglichte, hatte vermutlich einen Einfluss auf die Farbpalette, aus der sie nun schöpfen konnte.
In der Ausstellung zeigt das Kunstmuseum Basel neben Jaffes Gemälden auch ihre Arbeiten auf Papier. Schon von Beginn an arbeitete die Künstlerin mit Aquarell, Gouache, Ölkreide, Vinylfarbe und anderen Materialien. Jaffe selbst betrachtete diese Arbeiten als Möglichkeiten, sich schneller und spontaner auszudrücken und frei mit der Komposition von Farb- und Lichtverhältnissen zu experimentieren. Als Vorbereitungen für bestimmte Gemälde waren sie übrigens nicht gedacht. Dafür nutze Jaffe ihre Ateliertagebücher, in denen sie das Zusammenspiel von Farben und Formen meist akribisch plante. Die Tagebücher, die heute zum Bestand der Bibliothèque Kandinsky des Centre Pompidou gehören und die nun in der Ausstellung zu sehen sind, geben einen interessanten Einblick in die künstlerische Planung von Shirley Jaffe. Einen genauen Vergleich bietet übrigens der Ausstellungskatalog, in dem die Notizen der Künstlerin den korrespondierenden Werken gegenübergestellt werden.
Geometrische Formen und organisiertes Chaos
Ab 1968 wandte sich Shirley Jaffe auf der Suche nach einer neuen Bildsprache klaren geometrischen Formen und matten, aber immer vielfältiger werdenden Farbtönen zu. Die von Kuratorin Olga Osadtschy gewählte Formulierung einer „Mauer aus bunten Bausteinen“ vermittelt sehr gut den Eindruck, den die Werke der Künstlerin nun hervorrufen. Für Jaffe war dieser Stilwechsel, weg vom kommerziell erfolgreichen abstrakten Expressionismus, durchaus ein Wagnis. Gleichzeitig schien sie aber stilistisch nun ganz bei sich angekommen zu sein. Auch räumlich schlug Jaffe zu dieser Zeit dauerhaft Wurzeln und bezog 1969 ein kleines Atelier in der Pariser Rue Saint-Victor Nr. 8, in dem sie fast bis zu ihrem Tod 2016 malte und lebte.
In den 1980er Jahren verstärkte Jaffe den Effekt ihrer Arbeiten zunehmend mit dem Einsatz von Weiß. Ein erster Vorbote ist hier ihr Gemälde „Malibu“ (1979), das ursprünglich eine private Auftragsarbeit für ein Jugendzimmer war. Das Weiß kommt auch bei ihren späteren Arbeiten dabei allerdings nie als reine Hintergrundfarbe zum Einsatz, sondern wird immer wieder anders variiert.
Bei der Anfertigung ihrer Gemälde setzte Jaffe auf den Einsatz kleiner Pinsel für größtmögliche Präzision, selbst bei großformatigen Werken. Häufig begann sie mit verdünnter Farbe, die erst für die endgültige Form schrittweise verdichtet wurde; sie arbeitete teils aber auch mit transparenter Folie, um neue Bildelemente zu testen. In einem abschließenden Schritt kam dann oft Weiß hinzu, um die finalen Konturen zu betonen und Vorarbeiten unsichtbar zu machen. Diese genaue Planung zielte übrigens nicht darauf ab, eine besondere Schönheit oder Harmonie zu erschaffen, sondern das genaue Gegenteil: Shirley Jaffe interessierte sich mehr für überraschende Spannungsverhältnisse zwischen Formen und Farben.
Ein letztes Mal änderte Jaffe in den 1990er Jahren ihren Stil, indem sie einfarbigen Flächen nun unregelmäßige, flüchtig aufgetragene Formen gegenüberstellte. Sie selbst beschrieb ihre Bilder als „organisiertes Chaos“ oder als urbane Landschaften, als würde sie die Stimmungen und Eindrücke ihrer Heimatstadt Paris auf die Leinwand übertragen.
„Ich spürte früh den bestimmenden Wunsch nach einer gewissermaßen verschobenen Erfahrung, nach Komplexität […]. Ich habe immer versucht, etwas Eigenartiges und Unbefriedigendes, dabei aber Passendes ins Werk zu setzen.“
Aus: Merle Schipper: Shirley Jaffe, Woman’s Art Journal, 1981/82, Nr. 2, S. 46–49.
Erinnerungen an Shirley Jaffe
Shirley Jaffe galt in ihrem öffentlichen Auftreten als eher zurückhaltender Mensch. Über ihre Arbeit sprach sie nur selten in Interviews, über sich als Person verriet sie noch weniger. Um einen tieferen Einblick in das Leben der Künstlerin zu erhalten, ergänzt das Kunstmuseum Basel deshalb die Ausstellung mit einem Oral-History-Projekt. Hier kommen verschiedene Menschen aus dem persönlichen Umfeld von Jaffe zu Wort und berichten von der Zusammenarbeit mit ihr, aber auch wie man die Künstlerin im Freundes- und Bekanntenkreis erlebte.
Bei SoundCloud ist die Audio-Collage mit den Interviews auf Deutsch, Französisch oder Englisch verfügbar.
Anlässlich der Ausstellung erschien die Publikation „Shirley Jaffe. Form als Experiment“, herausgegeben von Olga Osadtschy und Frédéric Paul für das Kunstmuseum Basel im Christoph Merian Verlag (ISBN: 978-3-85616-989-3). Der zweisprachige Ausstellungskatalog in Deutsch und Englisch umfasst, neben zahlreichen farbigen Werkabbildungen, unter anderem auch eine Chronologie zur Künstlerin, eine ausgewählte Auflistung ihrer Ausstellungen sowie Texte von Svetlana Alpers, Claudine Grammont, Robert Kushner, Olga Osadtschy und Frédéric Paul sowie Molly Warnock.
Shirley Jaffe: Form als Experiment
Kunstmuseum Basel
25.03.-30.07.2023
Die Ausstellung war zuvor vom 20.04.-29.08.2022 im Centre Pompidou in Paris zu sehen und wird nach ihrer Station in Basel im Musée Matisse vom 11.10.2023-08.01.2024 in Nizza gezeigt.
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die Einladung zum Besuch des Museums und für die Übernahme der Kosten der Reise.
Bilder: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2023
Wir brauchen deine Unterstützung
Werde jetzt Mitglied im musermeku Freundeskreis: Erhalte wöchentlich News zu Kunst und Kultur direkt per E-Mail, sichere dir den Zugang zu exklusiven Inhalten und hilf uns dabei, unsere Betriebskosten für musermeku.org zu decken.
Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Linktipps
Der Newsletter zu Kunst & Kultur
In unserem kostenlosen Newsletter informieren wir einmal im Monat über aktuelle Neuigkeiten aus dem Kunst- und Kulturbereich.