Sean Scully: Geschichten aus einem Künstlerleben

Anlässlich seines 80. Geburtstags widmet das Bucerius Kunst Forum in Hamburg dem Künstler Sean Scully eine umfassende Retrospektive. Die hier gezeigten Werke aus mehr als sechs Jahrzehnten stellt er in eigenen Worten vor.

Zum 80. Geburtstag widmet das Bucerius Kunst Forum in Hamburg Sean Scully eine Ausstellung, in der der Künstler auch selbst zu Wort kommt.

[Ausstellung] Betrachtet man abstrakte oder ungegenständliche Kunst, fragt man sich vielleicht manchmal: Was hat sich der Künstler nur dabei gedacht? Auch bei den Werken des in Irland geborenen Malers und Bildhauers Sean Scully (*1945) kann diese Frage aufkommen. Seine meterhohen Gemälde mit bunten Farbflächen, feinen Linien und breiten Streifen verraten auf den ersten Blick nicht, welche Geschichten sich hinter ihrer Entstehung verbergen. Auch Scullys minimalistische Skulpturen wirken zunächst rätselhaft. Während in der Regel Objekttexte Aufschluss über die Hintergründe zu den Werken geben, geht das Bucerius Kunst Forum in Hamburg nun einen anderen Weg. In der Ausstellung „Sean Scully. Stories“ lässt das Museum den Künstler selbst zu Wort kommen. Mit seinen persönlichen Geschichten – und einer Playlist – führt Scully durch eine Retrospektive, die rund 60 Werke aus mehr als sechs Jahrzehnten seines Schaffens umfasst, von seinen monumentalen Gemälden über Arbeiten auf Papier bis hin zu Fotografien und Skulpturen. 


Eigens zur Ausstellung hat Sean Scully eine Playlist mit Songs erstellt, die für ihn mit seinen Werken in Verbindung stehen.
Eigens zur Ausstellung hat Sean Scully eine Playlist mit Songs erstellt, die für ihn mit seinen Werken in Verbindung stehen. Die Songs reichen von Bob Dylan bis Taylor Swift.

„Meine Malerei ist sehr bodenständig und ich lasse nie zu, dass sie zu kompliziert wird, denn ich finde, darin liegt etwas Dekadentes, und das mag ich nicht. Also packe ich alle Emotion in die Art und Weise, wie das Bild gemalt ist und wie die Teile zusammengefügt sind.“ [1]

Sean Scully


Was macht das Werk von Sean Scully aus?

Wer Sean Scullys Werk besser verstehen will, kommt nicht an Armin Zweites Essay „To humanize abstract painting. Reflections on Sean Scully’s Stone Light“ vorbei. Die begleitend zur Ausstellung erschienene Publikation macht dieses Essay nun erstmals auf Deutsch zugänglich. Zweite beschreibt in seinem Text Scully als Künstler, der europäische Traditionen mit amerikanischen Erfahrungen, insbesondere aus New York, verbindet. Diese doppelte Verankerung macht sein Werk schwer einzuordnen: Für manche wirkt es nicht radikal genug, für andere zu hermetisch. Zweite betont, dass gerade diese Spannung typisch für Scully ist. In seinen Arbeiten vollzieht sich eine Reflexion der Moderne über ihre eigenen Grundlagen – die Abstraktion wird hinterfragt und mit neuen, emotionaleren Qualitäten aufgeladen.

Scullys Bildsprache ist dabei sehr reduziert: Sie besteht fast ausschließlich aus horizontalen und vertikalen Streifen, selten ergänzt durch Diagonalen. Doch anstatt kalt und perfekt zu wirken, erscheinen seine Bilder durch sichtbare Farbschichten, brüchige Kanten und handwerklich raue Oberflächen bewusst unvollkommen. Diese gewollte Unperfektheit bringt emotionale Perspektiven mit ein. So entsteht eine paradoxe Wirkung: Die geometrische Strenge schafft Distanz, während die malerische Lebendigkeit Nähe erzeugt. Scully gelingt damit eine Balance zwischen rationaler Ordnung und emotionaler Wärme. Insofern zeigen Scullys Bilder nicht nur abstrakte Formen, sondern verweisen, laut Zweite, auch indirekt auf die Realität von Stadt, Natur, Individuum und Gesellschaft.

Anhand von Bildern wie „Stone Light“ (1990-92) und „Gabriel“ (1993) erläutert Zweite die formale Struktur von Scullys Gemälden. Diese Werke wirken auf den ersten Blick streng und reduziert, entfalten bei genauer Betrachtung aber komplexe Variationen, Spiegelungen und subtile Farbdifferenzen. Oft entstehen Triptychen oder modulare Kompositionen, die zwischen Stabilität und Bewegung schwanken. Ein zentraler Punkt bei Sean Scullys Arbeiten ist für Armin Zweite dabei der bewusst unvollkommene Farbauftrag, um Spontaneität und Unverfälschtheit in die Malerei einzubringen. Damit stellt der Künstler sich bewusst gegen die glatte Perfektion der Hard-Edge-Kunst oder der Minimal Art. Gleichzeitig bezieht Scully sich auf historische Vorbilder wie El Greco, Velázquez oder van Gogh, die ihn durch die „physische Dringlichkeit“ und die Materialität ihres Malens faszinieren. [2]


Der Audioguide zur Ausstellung wird übrigens Guido Maria Kretschmer gesprochen.
Der Audioguide zur Ausstellung wird übrigens Guido Maria Kretschmer gesprochen. Der Designer ist selbst Kunstsammler und Fan von Sean Scully.

„Etwas nach etwas aussehen zu lassen, was schon da ist, leuchtet mir nicht ein. Besonders, wenn man auch ein Foto machen kann. Jedenfalls bewegte ich mich gleich zur Farbe hin, sobald ich mit dem Malen anfing.“ [3]

Sean Scully


Der Blickwinkel des Künstlers

Zu fast jedem Werk in der Ausstellung teilt Sean Scully seine „Stories“, seine persönlichen Geschichten, angefangen bei dem Bild „Chancery Rents“ (1962), das er im Alter von 17 Jahren malte. Es zeigt eine „düstere, klaustrophobische Gasse“ in London, in der der Künstler eine Ausbildung als Grafikdesigner absolvierte – und die er, ebenso wie seine erste Ausbildung in einer Druckerei, vorzeitig abbrach. Zum Bild schreibt der Künstler: „Interessant sind für mich die bildnerischen Lösungen, auf die ich gekommen bin: Gitter, überall. Offenkundig lebte ich in einer Gitterwelt, denn im Grunde bewegte ich mich ja in einer Welt von Fabriken.“ [4]

Neben solchen frühen Werken zeigt die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum auch Scullys zentrale Arbeiten, etwa „Stone Light“ (1990-92), um das es in Armin Zweites wichtigem Essay geht. Der Titel des Gemäldes ist einem Artikel des australischen Kunstschriftstellers Robert Hughes entnommen: „Hughes hat meinen Bildern die Erhabenheit von Licht in Halbedelsteinen nachgesagt“, erklärt Scully. „Mir gefällt dieser Gedanke, weil Halbedelsteine weder kostbar noch glamourös sind und ein etwas anderes, hartes Licht in sich tragen, das man selbst herauslösen muss.“ Für Scully erinnert das Bild auch an einen Altar, ein „Triptychon von großer Strenge“. Die obere Ecke rechts bezieht sich für den Künstler auf den menschlichen Körper, menschliches Blut und die Natur. Trotz des schlichten schwarz-weißen Gefüges sieht Scully in der Gestaltung der Ränder eine komplexe und letztlich dadurch auch experimentelle Angelegenheit. Für den Künstler trifft hier die Substanz der Malfarbe, die für ihn an Halbedelsteinen erinnert, auf Licht, das ihnen entströmen kann. „Mein Gemälde birgt etwas Strenges und Vornehmes und bereitet nicht nur Genuss“, so Scully. [5]

Ergänzt werden die Gemälde in der Ausstellung durch Fotografien und Skulpturen. Zur Fotoserie „Aran“ (2005) verweist Sean Scully auf sein keltisches Erbe und bezeichnet die Bilder als „eine Art psychologisches Fundament“. Die Fotos zeigen die Strukturen von historischen Steinmauern, Scully erinnern diese an Zeichnungen. Für den Künstler zeigt sich in diesen Bauwerken Persönlichkeit und eine Signatur, die er in seinen Fotografien festhielt. „Ich neige stark dazu, aus der Figuration in diese Form abstrakter Wiederholung hineinzuspringen. Das heißt, diese Arbeiten stehen eindeutig in Verbindung mit meinem Werk und meiner Seele“, betont Scully. [6]

Zu den beeindruckendsten Skulpturen in der Ausstellung zählt „Air Cage“ (2024), einmal als kleinere Version im Bucerius Kunst Forum aus hellem Edelstahl und einmal als meterhohe Skulptur vor dem Gebäude aus rostigem Cortenstahl. Für Scully sieht die Struktur aus Horizontalen und Vertikalen, die nicht streng systematisch sondern intuitiv aufgebaut ist, nach einem Geist aus. Die intuitive Gitterstruktur entstand aus dem Stegreif und verwehr sich für Scully so allen Versuchen der Entschlüsselung. [7]


Am Alten Wall ist vor dem Bucerius Kunst Forum Scullys Skulptur "Air Cage 2" (2024) platziert.
Am Alten Wall ist vor dem Bucerius Kunst Forum Scullys Skulptur „Air Cage 2“ (2024) platziert. Das Werk ist Teil einer Serie, zwei weitere Skulpturen stehen in England und Frankreich.

„Ich schließe mich keiner Ordnung an, es sei denn im Sinne einer lebendigen, kontinuierlich atmenden Ordnung, einer Ordnung, die Ungewissheit atmet. Und die Ungewissheit hängt natürlich sehr stark von der Farbe ab. Mein Werk ist subversiv. Ich bin gegen alle Formen von Autorität.“ [8]

Sean Scully


Sean Scullys Playlist

Begleitend zur Ausstellung hat Sean Scully eine Playlist mit Songs erstellt, die für ihn mit seinen Werken in Verbindung stehen. So verbindet er „Hammering“ (1990), ein Gemälde aus weißen und schwarzen Flächen, mit dem Lied „Chimes of Freedom“ von Bob Dylan; U2’s Hit „With or Without You“ wird von Scully seinem Gemälde „Passenger Red White“ (1999) zugeordnet; und seine Fotoserie „Aran“ (2005), die die Steinformationen von historischen Mauern zeigt, verbindet der Künstler mit dem Song „The Partien Glass“ des irischen Musikers Hozier. Unerwarteten Musikgeschmack beweist der 80-jährige Maler bei seiner Auswahl für das Gemälde „Margarita“ (2008) mit dunklen Farbflächen und für seine geometrische Bleistiftzeichnung „8.24.23“ (2023) – den Werken weist er nämlich jeweils den Song „Epiphany“ von Taylor Swift und „Summertime Sadness“ von Lana Del Rey zu. Doch auch Frank Ocean ist in Scullys Playlist mit „Moon River“ vertreten, ebenso wie Rhianna mit „Redemption Song“. Die Lieder werden jeweils den Gemälden „Wall of Light Blue Block“ (2007) und „Tower“ (2024) zugeordnet.


Anlässlich der Ausstellung „Sean Scully. Stories“ ist 2025 eine gleichnamige Publikation im Hirmer Verlag erschienen, herausgegeben von Kathrin Baumstark (ISBN: 978-3-7774-4499-4). Der Ausstellungskatalog mit zahlreichen farbigen Werkabbildungen, einer Biografie und einer ausgewählten Bibliografie beinhaltet auch Sean Scullys Playlist sowie ein Interview mit dem Künstler und einen Essay von Armin Zweite.


Sean Scully. Stories

Bucerius Kunst Forum
27.06.-02.11.2025


Header-Bild: Angelika Schoder – Sean Scully: Air Cage 2 (2024) , Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 2025


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Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Kathrin Baumstark: Sean Scully im Gespräch, In: Sean Scully. Stories, 2025, S. 29.

[2] Armin Zweite: To Humanize Abstract Painting. Einige Bemerkungen zu Sean Scullys Stone Light, In: Ebd., S. 10-23.

[3] Sean Scully im Gespräch, In: Ebd., S. 30.

[4] Sean Scully über „Chancery Rents“ (1962), In: Ebd., S. 40.

[5] Sean Scully über „Stone Light“ (1990-92), In: Ebd., S. 76.

[6] Sean Scully über „Aran“ (2005) In: Ebd., S. 136.

[7] Sean Scully über „Air Cage“ (2024) In: Ebd., S. 150.

[8] Sean Scully im Gespräch, In: Ebd., S. 34.


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