[Online-Tipp] Das MK&G – Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg lädt dazu ein, das folgenlose Leben zu üben – zu Hause, mit einer App. Die „Schule der Folgenlosigkeit“ lässt auf dem Smartphone verschiedene Persönlichkeiten zu Wort kommen und animiert mit einer Reihe an Übungen und Aufgaben dazu, sich selbst der Folgenlosigkeit hinzugeben und über die eigenen Handlungen nachzudenken.
„Bei mir ist der Begriff Folgenlosigkeit eher negativ assoziiert. […] Man kann ihn aber normativ drehen und sagen: Keine meiner Handlungen darf Folgen haben, die ich nicht verantworten könnte“.
Sozialpsychologe Harald Welzer in der App „Schule der Folgenlosigkeit“
Ein Leben ohne Konsequenzen?
Was bedeutet Folgenlosigkeit im Leben? Und wäre Folgenlosigkeit überhaupt erstrebenswert? Kann es sogar zu einem Ideal werden, nach dem eine Gesellschaft streben sollte – ebenso wie nach Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit? Diese Fragen stellt Architekt und Designtheoretiker Friedrich von Borries in seiner „Schule der Folgenlosigkeit“, einer Ausstellung im MK&G Hamburg. Hier soll diskutiert werden, welche Auswirkungen das Streben nach Folgenlosigkeit auf die materielle und immaterielle Gestaltung unseres Alltags hätte, aber auch auf die Wirtschafts- und Sozialordnung, auf unseren Glauben und auf die Art, wie wir miteinander umgehen. Vorgestellt werden hierzu auch Vorbilder, die sich für ein solches Leben in der Geschichte und der Gegenwart finden lassen.
In der Ausstellung verknüpft von Borries verschiedene Objekte aus der Sammlung des Museums mit einem eigens im MK&G eingerichteten Selbstlernraum. Auf diese Art soll eine neue Perspektive auf Nachhaltigkeit entstehen, zudem sollen vermeintlich allgemein gültige Vorstellungen eines „richtigen Lebens“ hinterfragt werden. Besucher sollen hier im Selbstversuch Entscheidungen abgeben, ohne Konsequenzen bedenken zu müssen. Auch das Erlebnis des Nichts-Tuns gehört dazu.
„Folgenlosigkeit ist ein Urwort.“
Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy in der App „Schule der Folgenlosigkeit“
Ein Stipendium fürs Nichtstun
Schon im Vorfeld machte die Ausstellung von sich reden, als drei „Stipendien fürs Nichtstun“ ausgeschrieben wurde. Statt nach Erfolg oder Wirksamkeit zu streben, so der Aufruf zur Bewerbung, sollte man doch lieber die Folgenlosigkeit im Blick haben. Zentral ist dabei die Frage: Welche Handlungen kann ich unterlassen, damit mein Leben keine negativen Folgen für das Leben anderer hat?
Eine Bewerbung für das Stipendium umfasste folgende Fragen:
- Was wollen Sie nicht tun?
- Warum ist es wichtig, genau das nicht zu tun?
- Warum sind Sie der*die Richtige, das nicht zu tun?
Wer diese Fragen überzeugend beantworten konnte, dem winkt ein Stipendium in Höhe von 1.600 Euro – fürs Nichtstun. Wobei, wirklich nichts zu tun ist auch irgendwie Arbeit, denn eigentlich tut man ja immer etwas. Selbst wenn man nachdenkt oder schläft, sind das Prozesse, die sogar eine wichtige Funktion erfüllen.
Letztendlich haben sich über 1.700 Menschen aus aller Welt für das „Stipendium fürs Nichtstun“ beworben, etwa Demokratieaktivisten aus Hongkong, die andere Aktivisten im Fall einer Festnahme nicht verraten wollen. Auch hier könnte man diskutieren, ob das wirklich Nichtstun ist oder sogar eine sehr bedeutsame Tat. Nicht alle Bewerbungen sind jedoch so politisch relevant. Einige Bewerber wollen schlicht nicht mehr arbeiten oder wegkommen von negativen Gedanken. Immerhin: Bei den meisten Bewerbungen handelte es sich um ernst gemeinte Anliegen und um die Auseinandersetzung mit ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen.
„Folgenlosigkeit: Das ist etwas, was man total will, weil es so totale Leichtigkeit darstellt. […] Gleichzeitig müssen wir jetzt die folgenreichste aller Entscheidungen treffen. Nämlich irgendwie diesen Kapitalismus aufzuhalten.“
Klima-Aktivist Tadzio Müller in der App „Schule der Folgenlosigkeit“
Die Schule der Folgenlosigkeit als App
Mit der Folgenlosigkeit ist es in der Realität leider nicht weit her. So hat die Corona-Pandemie schwerwiegende Folgen für viele Lebensbereiche, nicht zuletzt für den Kultur- und Bildungsbereich. Und so blieb auch die Ausstellung zur „Schule der Folgenlosigkeit“ nicht davon verschont, denn das MK&G musste im November im Zuge des angeordneten Lockdown im Kulturbereich vorübergehend schließen. Was bis zur Wiedereröffnung des Museums bleibt, ist eine App zur Ausstellung, in der verschiedene Persönlichkeiten über das Thema der Folgenlosigkeit interviewt werden und die als Anleitung zu verschiedenen Übungen dienen soll.
Die App richtet sich an alle, die über den Zustand der Welt nachdenken wollen. Dabei soll hinterfragt werden, wie die eigene Lebenswirklichkeit mit dem Klimawandel, aber auch den gesellschaftlichen und politischen Strukturen verbunden ist. Insgesamt umfasst die App zwölf Handlungsfelder, jeweils versehen mit einem einführenden Tutorial. Hier geht es etwa um das Erkennen von Selbstüberschätzung, um das Abgeben von Entscheidungen, das Zerstören, den Besinnungsverlust oder um Solidarität. Denkanstöße liefern Interviews mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, etwa mit dem Soziologen Hartmut Rosa, dem Sozialpsychologen Harald Welzer, dem Schauspieler Eric Stehfest, der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy oder dem Klimaaktivisten Tadzio Müller.
Mit verschiedenen Übungen sollen App-Nutzer schließlich selbst aktiv werden – ob zu Hause oder unterwegs. Es gilt, ein Selfievideo von sich zu machen, in dem man über die Bedeutung des eigenen Lebens spricht, oder einer unbekannten Person 10 Minuten lang zu folgen und dann einen Erfahrungsbericht darüber zu verfassen. Wer mag, kann Fotos von sich mit einem anonymisierenden Filter bei Instagram oder Facebook posten oder in einem Multiple-Choice-Test das eigene Wissen zum Thema Überwachung auf die Probe stellen. Auch der Klassiker des Nichtstuns, das Warten, wird zur Aufgabe.
Neben den Übungen stellt die App auch Aufgaben, in der zur künstlerischen Intervention im öffentlichen und sozialen Raum angeregt werden soll. Sehr gut in die Corona-Zeit passt da etwa die Aufgabe, Warteschlangen zu initiieren – aber bitte mit Abstand. Auch zur „Urbanen Intervention“ wird aufgerufen, in der Nutzer etwas an einem öffentlichen Ort verbessern und dies dokumentieren sollen. Wer über seine Aktionen in Social Media berichten möchte, ist dazu eingeladen, das Hashtag #folgenlos zu nutzen und seinen Account-Status in „Mitglied im Bund der Folgenlosen“ zu ändern. Hat man alle Aufgaben und Übungen in der App absolviert, winkt am Ende übrigens sogar ein „Zertifikat der Folgenlosigkeit“.
Schule der Folgenlosigkeit. Übungen für ein anderes Leben
MK&G – Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
06.11.2020-18.07.2021
Header-Bild: Screenshots aus der App „Schule der Folgenlosigkeit“, die von Friedrich von Borries und dem Berliner Kollektiv refrakt (Alexander Govoni und Carla Streckwall) für das MK&G entwickelt wurde
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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