[City Card] Seit 2015 vergibt das Eye Filmmuseum in Amsterdam den Eye Art & Film Prize. Nun widmet das Museum der aktuellen Preisträgerin Saodat Ismailova mit „18.000 Worlds“ ihre erste große Retrospektive. In ihren Filmen setzt sich die aus Usbekistan stammenden Künstlerin mit ihrer Heimat auseinander, wobei sie aus persönlichen Erinnerungen schöpft, um auf das kollektive Gedächtnis der Region zu verweisen. Sie verbindet in ihren Arbeiten lokale Mythen mit Ereignissen aus der jüngsten Geschichte und setzt sich dabei auch mit dem spirituellen Erbe Usbekistans auseinander. Das Ergebnis sind atmosphärische Filme, die teilweise wie bewegte Gemälde wirken, und poetische Installationen, die den Betrachter in die Natur Usbekistans und in die Gedankenwelt der hier lebenden Menschen eintauchen lassen.
„Sie porträtiert den Geist Zentralasiens, den Kreuzungspunkt der Kulturen, und lässt viel Raum für Intuition, Geschichten und Musik. Ismailova verwebt Mythen, Rituale und Träume mit dem alltäglichen Leben.“
Ausstellungstext zu „Saodat Ismailova. 18.000 Worlds“
Der Eye Art & Film Prize 2022
Die 1981 in Usbekistan geborene Filmemacherin und Künstlerin Saodat Ismailova lebt zwischen Taschkent und Paris. In ihren Arbeiten konzentriert sie sich auf die Schnittstelle von Kino und bildender Kunst, wobei sie sich zwischen Spiel- und Dokumentarfilmen bewegt, aber auch das Medium der Videoinstallation nutzt. Ihre Werke, u.a. die Dokumentation „Aral, Fishing in an Invisible Sea“ (2004, zusammen mit Carlos Casas) und ihr Spielfilm „Chilla. 40 Days of Silence“ (2014), wurden bereits auf verschiedenen internationalen Festivals ausgezeichnet und im Rahmen der Biennale in Venedig sowie bei der Documenta in Kassel gezeigt.
Als Preisträgerin des Eye Art & Film Prize 2022 reiht sich Saodat Ismailova in eine Liste renommierter Kunstschaffender ein. Zu den bisherigen Ausgezeichneten zählen u.a. Hito Steyerl (2015), Wang Bing (2017) oder das Karrabing Film Collective (2021). Der jährlich vergebene Preis, der vom PJLF Arts Fund mit getragen wird, ist mit 25.000 Pfund für die Schaffung eines neuen Werks dotiert. Saodat Ismailova nutzte das Preisgeld um den Film „18.000“ (2022-2023) zu erstellen, der auch titelgebend für ihre Retrospektive im Eye Filmmuseum ist. Der Name des Werks bezieht sich auf die Auffassung einiger Mystiker, dass unsere Welt nur eine von insgesamt 18.000 Welten im Universum sei. Diverse religiöse Gedichte in Usbekistan beziehen sich auf diese Vorstellung; Ismailova ist mit dieser Idee schon seit ihrer Kindheit vertraut. Später begegnete ihr dieses Konzept wieder, und zwar im Werk des persischen Philosophen und Mystikers Shihab al-Din Yahya al-Suhrawardi aus dem 12. Jhd. Seine Texte, die sich mit Themen wie Licht und Dunkelheit befassen, wurden für die Künstlerin zu einer zentralen Quelle ihrer Inspiration.
Für „18.000“ machte sich Ismailova auf die Suche nach ungenutzten Fragmenten in ihrem eigenen Filmarchiv, das sie über Jahre aufgebaut hat. Letztendlich wählte sie für ihr Projekt Bilder aus, die von diversen Orten und aus unterschiedlichen Jahren stammen; zudem nutzte sie auch Fragmente aus der Sammlung des Eye Archivs. Wer mit den bisherigen Arbeiten von Saodat Ismailova vertraut ist – oder sich in der Retrospektive im Eye Filmmuseum damit vertraut gemacht hat – kann in „18.000“ daher auch verschiedene Welten wiedererkennen, welche die Künstlerin in früheren Arbeiten dargestellt hat. Sie alle sind, so wie in der Idee des Multiversums, miteinander verbunden. Für Ismailova ist dieser Film auch eine Art Appell: Er soll darauf aufmerksam machen, dass Menschen überall auf der Welt den Kontakt zu ihren Vorfahren verlieren, was die Gefahr des Verlustes von Wissensformen in sich birgt.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Das mit dem Eye Art & Film Prize entstandene Werk „18.000“ zeigt exemplarisch, wie sich Saodat Ismailova in ihren Filmen und Installationen immer wieder mit der komplexen, vielschichtigen Kultur ihres Heimatlandes auseinandersetzt. Sie zählt damit zu den wichtigsten Stimmen innerhalb der ersten Generation zentralasiatischer Kunstschaffender, die in der postsowjetischen Ära aufwuchsen und in ihren Arbeiten über ihr kulturelles Erbe reflektieren. Insbesondere die Tradition des sowjetischen Kinos, mit dem sie aufgewachsen ist, hat Spuren in der Arbeit von Ismailova hinterlassen. So finden sich hierin immer wieder Aufnahmen, auf die sie bei ihren umfangreichen Archivrecherchen zu historischen Filmen stieß, von ersten usbekischen Stummfilmen bis hin zu sowjetischen Filmen, welche die spätere Entwicklung des zentralasiatischen Kinos geprägt haben. Ausschnitte aus diesen Filmen nutzt die Künstlerin als Found Footage in ihren Erzählungen, um diese in einem kulturellen Bezugsrahmen zu verorten.
Generell reflektiert die Künstlerin häufig über die turbulente politische Geschichte ihres Herkunftslands, schließlich war mit den aufeinanderfolgenden Regimen immer wieder auch der Verlust von natürlichen Ressourcen, Sprachen und Traditionen in Usbekistan verbunden. Dies thematisiert die Künstlerin in ihrer Installation „What was My Name?“ (2020). Sie nutzt hier Rosshaar, das in der usbekischen Tradition zum Weben der Verschleierung von Frauen (Chachvon) verwendet wurde. Ismailova verweist in ihrer Installation darauf, dass im vergangenen Jahrhundert Zentralasien immer wieder tiefgreifende Veränderungen erfuhr, auch in der Sprache und dem genutzten Alphabet. Damit wurde auch die Grundlage destabilisiert, auf der die Menschen ihre Identität aufbauen. Anhand der Schrift lässt sich gut nachvollziehen, wie die aufeinanderfolgenden Regime versuchten, die nationale Identität immer wieder neu zu definieren. Dies führte letztendlich dazu, dass viele Geschichten und Überlieferungen zunehmend in Vergessenheit gerieten.
Hieran knüpft auch die Foto-Installation „The Letters“ (2013-2019) an. Die Künstlerin thematisiert in diesem Werk, dass im 20. Jhd. das usbekische Alphabet von Arabisch zu Lateinisch, dann zu Kyrillisch und schließlich wieder zu Lateinisch geändert wurde. Dies wirkte sich auf die Weitergabe von Wissen aus, denn die Menschen hatten aufgrund sich historisch entwickelnder Sprachbarrieren zunehmen Probleme, die von früheren Generationen erstellten schriftlichen Dokumente zu lesen. Ismailova verdeutlicht dies anhand der Geschichte ihrer eigenen Familie: In der Installation kombiniert sie Fotos mit Texten in der Handschrift der porträtierten Personen. Zu sehen ist ein Porträt der Urgroßmutter von Ismailova, die Lehrerin für persische und usbekische Poesie in Turkestan war, einer Stadt die im heutigen Kasachstan liegt. Begleitet wird das Porträt von einem handgeschriebenen Text eines Gedichts von Khodjanazar Huvaido, einem mystischen Dichter aus dem 18. Jhd.
Daneben zeigt die Künstlerin ein Foto ihres Urgroßvaters, der, so wie viele Intellektuelle aus Zentralasien, als sowjetischer Staatsfeind zur jahrelangen Haft in einem Gulag verurteilt worden war. Neben seinem Bild ist eine Kalligrafie in arabischer Schrift zu sehen. Der Text ist allerdings in drei Sprachen geschrieben: Alt-Usbekisch, Persisch und Arabisch. Ebenso in der Installation vertreten sind auch eine Großmutter der Künstlerin, die sich selbst das Schreiben beibringen musste, und ihre Mutter Tursun, die in der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik aufwuchs und nur das Schreiben in Kyrillisch lernte. Die Historikerin, die heute blind ist, schrieb für das Kunstwerk ihrer Tochter 11 Träume auf, an die sie sich am lebhaftesten erinnerte. Das Werk erzählt damit letztendlich nicht nur von Unterdrückung und vom Verlust von Wissen, sondern auch von Widerstandsfähigkeit und Hoffnung.
Von Verlust und Spiritualität
Neben der Mahnung an diese kulturellen Verluste betrachtet Saodat Ismailova auch die ökologische Zerstörung in ihrer Herkunftsregion. Im Video-Essay „The Haunted“ (2017) erinnert die Filmemacherin an den Kaspischen Tiger, den es jahrhundertelang in Zentralasien gab. Der Tiger galt in der Region als heiliges Tier, doch nach der russischen Kolonisierung wurde er nach und nach ausgerottet, bis er Mitte des 20. Jhd. als ausgestorben galt. Was blieb, ist eine Lücke im ökologischen System, in der Kultur und im Glauben der Menschen. Das Aussterben des Kaspischen Tigers und der empfundene spirituelle Verlust steht für die Künstlerin auch in engem Zusammenhang mit der politischen Geschichte der Region, in der Sprachen, Rituale und Wissen als eine direkte Folge der russischen Kolonisierung verschwanden. Im Film „The Haunted“, dessen Voice-over von Ismailova selbst gesprochen wird, geht es aber nicht nur um Verlust und Trauer, sondern auch um Hoffnung und Widerstand. Denn während ihrer Recherche entdeckte Ismailova, dass der Tiger noch immer in den Träumen der Menschen auftaucht: als Führer, Beschützer oder als Bote der Ahnen. In dieser Welt der Träume und Rituale ist der Kaspische Tiger noch immer lebendig.
Letztendlich ist das Werk von Ismailova auch geprägt von großer Schönheit und atmosphärischen Bildern, in denen die reiche spirituelle Welt Zentralasiens gefeiert wird. Dabei spielt auch die Identität und Emanzipation von Frauen als wiederkehrendes Thema eine wichtige Rolle. Es geht etwa um das Recht der Frauen, selbst zu entscheiden, ob sie sich traditionell verschleiern wollen, wie im Film „Her Right“ (2020). Es geht aber auch um die Weitergabe von Geschichten und Bräuchen von der Mutter an die Tochter, etwa in den Dokumentarfilmen „Zukhra“ (2013) oder „Chillpiq“ (2018), in denen die Künstlerin zeigt, wie kulturelles und spirituelles Erbe über Generationen vermittelt wurde und damit auch in Zukunft am Leben erhalten werden kann.
Die Ausstellung „18.000 Worlds“ im Eye Filmmuseum bietet einen umfangreichen Einblick in das Werk von Saodat Ismailova, wobei neben ihren Filmen auch Videoinstallationen, Fotografien und Installationen mit Textilien zu sehen sind. In den verdunkelten Ausstellungsräumen, die mit Sitzgelegenheiten zum längeren Verweilen und auf kurpacha, den traditionellen usbekischen Matratzen sogar zum Hinlegen einladen, kann man wie in einem großen Kinosaal ganz in die poetische Bilderwelt von Saodat Ismailova eintauchen.
Saodat Ismailova. 18.000 Worlds
21.01.-04.06.2023
Eye Filmmuseum, Amsterdam
musermeku dankt amsterdam&partners für die Bereitstellung der I amsterdam City Card, mit der ein Besuch von über 70 Museen und Sehenswürdigkeiten sowie die Nutzung des ÖPNV in Amsterdam möglich ist.
Header-Bild: Angelika Schoder – „Saodat Ismailova. 18.000 Worlds“ im Eye Filmmuseum, Amsterdam 2023
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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