Gesellschaftskritik hinter Gittern: Luther und die Avantgarde

Die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ zeigt zum 500. Reformationsjubiläum 70 Arbeiten von Künstlern in Wittenberg, Berlin und Kassel.

Die Ausstellung "Luther und die Avantgarde" zeigt zum 500. Reformationsjubiläum 70 Arbeiten von Künstlern in Wittenberg, Berlin und Kassel.

[Pressereise] Im 500. Jubiläumsjahr der Reformation zeigen 66 Künstlerinnen und Künstler in der Wittenberger Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ eher gesellschafts- als religionskritische Werke. Die Ideen und Positionen des Reformators dienen dabei ebenso als kreative Impulse wie der Ausstellungsort selbst.


Kunst im Gefängnis

Künstler wie Song Dong oder Erwin Wurm setzen sich in der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ mit den Ideen des Reformators auseinander, ebenso wie mit aktuellen sozialen und kulturellen Fragen. Insbesondere in den Arbeiten, die extra für die Ausstellung entstanden sind, spiegelt sich aber vor allem auch eine Faszination für den Ort wieder, an dem die Werke gezeigt werden. Dieser ist nämlich keine sterile Kunsthalle oder ein historischer Musentempel, sondern ein Amtsgerichtsgefängnis, Baujahr 1906.

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Gebäude in Wittenberg bis 1965 als Untersuchungsghaftanstalt. Anschließend wurde der Bau als Lagerstätte und als Sitz des Grundbuchamtes genutzt. Über zehn Jahre stand das Gebäude danach leer, bis Kurator Walter Smerling es auf der Suche nach einer Ausstellungsfläche zufällig entdeckte. Eigens für das Projekt „Luther und die Avantgarde“ wurde der zwischenzeitlich heruntergekommene Bau gereinigt und jetzt wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.


Luther als Impulsgeber

Die Gedanken sind frei, auch hinter Gittern. Im Hof des früheren DDR-Gefängnisses, an der Fassade des Gebäudes, in den Treppenhäusern und Fluren sowie in 38 Haftzellen, sind zahlreiche Kunstwerke zu sehen, die sich mal mit Edward Snowden befassen und mal mit Jesus. Auch auf Luthers Ideen wird häufig Bezug genommen, wenn auch nicht ganz so kritisch, wie es angesichts des Personenkults eigentlich notwendig und angebracht gewesen wäre. Statt dessen dient der Reformator als „Ideengeber und soziokultureller Avantgardist seiner Zeit“, wie es in der Ausstellungsankündigung heißt.

„Es geht bei Luther darum aufzustehen für seine eigenen Rechte, kritisch zu denken und Gewissensfragen mit sich auszumachen und nicht mit einer Institution – das sind Themen, die auch heute noch präsent sind“, so Ines Hansla von den Hamburger Kirchenkreisen. Sie findet es wichtig, dass sich nicht nur Theologen und kirchlich nahe Akteure mit dem Reformator auseinandersetzen, sondern auch Künstler. „Luther hat auch bewusst provoziert, hat sich den Mund nicht verbieten lassen und ist auch in die Konfrontation gegangen mit Hierarchien und Institutionen. Insofern zeigen sich Parallelen zu aktuellen Künstlern, die sich mit gesellschaftlichen Fragen und Strukturen auseinandersetzen.“


Die Zelle von Ai Weiwei

Neben dem Wirken Luthers war auch der Ausstellungsort selbst signifikanter Ideengeber für die Künstlerinnen und Künstler. Dies zeigt sich etwa in den Werken von Xu Bing, Thomas Huber oder Marzia Miglioria, die in ihren Arbeiten die Räume des Gefängnisses reflektieren.

Auch der chinesische Künstler Ai Weiwei ließ sich für sein Werk stark vom Schauplatz der Ausstellung beeinflussen. Für „man in a cube“ ließ er die Zellentür extra ausmessen, damit seine Arbeit – zwei massive Betonblock-Hälften – als Maßanfertigung durch den Rahmen der Zellentür passen. Inmitten des Betonblocks ist der Abguss einer menschlichen Figur zu sehen. Es handelt sich um die Gestalt des Künstlers im Jahr 2011, als er für 81 Tage inhaftiert war. Eingesperrt in einer Zelle verdeutlicht das Kunstwerk, wie man als Individuum seine eigene Existenz durch Kunst erweitern kann – sobald eine Idee und eine Sprache vorhanden sind.


Jonathan Meeses Parsifal im Gefängnis

Auch Jonathan Meese spielt in seinem Werk mit dem Ausstellungsort in Wittenberg. Schon beim ersten Betreten des Gefängnisses und der zukünftigen Ausstellungszelle bezeichnete er das Setting als „sehr geeignet“. Seine „95 Kunstthesen des Teufels(Babies)“ füllen den kleinen Raum, quellen über den Türsturz hinaus bis in den Flur. Es ist „Parsifal’s Kunstzelle“, die Thesen bezieht er dabei auf das Hier und Heute.

Parsifal zieht sich durch das aktuelle Werk Meeses wie ein roter Faden, obwohl oder vielleicht weil seine Inszenierung in Bayreuth einst vorzeitig scheiterte. Zu den Wiener Festwochen 2017 gibt es jetzt immerhin den „Mondparsifal“. Das Kunsthistorische Museum Wien zeigt begleitend Parsifal-Arbeiten, in denen Meese sich mit klassischen Kunstmythen auseinandersetzt. Auch „Luther und die Avantgarde“ präsentiert eine Auseinandersetzung Meeses mit einem Mythos – Luthers Kämpfe gegen den Satan. Es geht um die Bedrängnis durch Emotionen, Gewalt, Krankheit und Tod – wobei der Teufel bei Meese eine Art „einbunkernde Mutter“ ist.


70 Künstlerinnen und Künstler in drei Städten

Die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ zeigt 66 Positionen von Künstlerinnen und Künstlern in Wittenberg sowie Einzelpräsentationen in der St. Matthäus-Kirche in Berlin sowie in der Karlskirche in Kassel. In Berlin sind Werke von Gilbert & George aus der Serie „Scapegoating Pictures“ zu sehen, in Kassel werden Arbeiten von Shilpa Gupta sowie von Thomas Klipper und Massimo Ricciardo gezeigt.


Luther und die Avantgarde

Zeitgenössische Kunst in Wittenberg, Berlin und Kassel
19. Mai bis 17. September 2017

musermeku dankt den Veranstaltern der Ausstellung für die Übernahme der Kosten der Reise.


Header-Bild: Angelika Schoder – Luther und die Avantgarde, Wittenberg 2017


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Angelika Schoder

Über die Autorin

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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