Jason Wilsher-Mills: Erinnerungen an Viren und Daleks

Mit der Ausstellung „Jason and the Adventure of 254“ begibt sich der britische Künstler Jason Wilsher-Mills in der Londoner Wellcome Collection auf eine Reise durch seinen Körper und in die Erinnerungen seiner Kindheit.

Mit einer Ausstellung in der Wellcome Collection begibt sich der Künstler Jason Wilsher-Mills auf eine Reise durch seinen behinderten Körper.

[Ausstellung] Wie fühlt es sich an, wenn man die Kontrolle über seinen eigenen Körper verliert? Davon erzählt der britische Künstler Jason Wilsher-Mills (*1969) in der Ausstellung „Jason and the Adventure of 254“. Die Erzählung beginnt mit dem 1. August 1980 um 14:54 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt wurde den Eltern des damals erst 11-jährigen Jason im Pinderfields Hospital in Wakefield mitgeteilt, dass bei ihrem Sohn eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert wurde, die ihn vom Hals abwärts lähmen und wahrscheinlich auch jung versterben lassen würde.

Wie ging es dem Jungen von damals in dieser Situation? Jason Wilsher-Mills nimmt die Ausstellungsbesucher in der Londoner Wellcome Collection mit auf eine Zeitreise in die 1980er Jahre. Es ist eine Reise in Erinnerungen an seine Familie, zu seiner Lieblingsmusik und den Filmen und TV-Serien seiner Kindheit, aber auch ein Einblick in seinen Körper, der krankheitsbedingt nicht mehr so funktionierte, wie er es eigentlich sollte. Dies alles verwandelt der Künstler in fröhliche Skulpturen, in bunte Illustrationen und aktivierbare Dioramen, die kulturelle und gesellschaftliche Vorstellungen von Behinderung, von Medizin und vom menschlichen Körper hinterfragen.


Als zentrale Skulptur zeigt Jason Wilsher-Mills in der Ausstellung eine überlebensgroße Figur in einem Bett.
Als zentrale Skulptur zeigt Jason Wilsher-Mills in der Ausstellung eine überlebensgroße Figur in einem Bett. Über einen Button können Besucher hier Lampen aktivieren, die die unkoordinierten Nervensignale im kranken Körper darstellen.

„Im Grunde genommen habe ich diese Arbeit in den letzten 40 Jahren geschaffen. An meiner Studiowand hängt zum Beispiel ein digitales Bild von einer Figur in einem Krankenhausbett. Das habe ich vor 15 Jahren gemalt, ein weiteres vor 30 Jahren und ein weiteres vor 40 Jahren. Dieses Bild hat sich also in mir festgebrannt, ist aufgetaucht und hat sich in mich hineingefressen und versucht, herauszukommen, und schließlich kann man sehen, was in den letzten 40 Jahren in meinem Kopf war.“ [1]

Jason Wilsher-Mills, 2024


Jason und die Abenteuer von 254

Eine riesige menschliche Figur liegt in einem Bett, ihre Nerven und Organe sind sichtbar, ähnlich wie bei den historischen anatomischen Zeichnungen, die zum Beispiel im Londoner Hunterian Museum, aber auch in der Wellcome Collection zu sehen sind. Die Figur stellt Jason Wilsher-Mills’ Erinnerung an das dar, was mit seinem Körper in der Kindheit geschah, mit riesigen geschwollenen Füßen, die seinen Schmerz symbolisieren, und blinkenden Lichtsignalen, die die gestörten neurologischen Bahnen zwischen seinem Gehirn und seinem Körper darstellen. Der Zeitpunkt, als er erfuhr, dass der Grund für seine Erkrankung eine Autoimmunreaktion auf eine Windpockeninfektion ist, war der gleiche Zeitpunkt, an dem Sebastian Coe mit der Startnummer 254 das 1500-Meter-Rennen bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau gewann. Die Startnummer des Athleten entsprach seltsamerweise der Uhrzeit, zu dem die Diagnose mitgeteilt wurde: 2:54 PM.

Von seinem Krankenhausbett aus konnte Jason Wilsher-Mills auf dem Stationsfernseher beobachten, wie der britische Leichtathlet durchs Ziel lief. In der Ausstellung greift der Künstler diese Erinnerung mit einer Skulptur auf, in der der Kopf von Sebastian Coe sich in einen Fernseher verwandelt hat. Er ist umgeben von Spielzeugsoldaten und scheint diese dazu aufzufordern, die Figur im Bett anzugreifen. Anstatt den Körper gegen die riesigen, an der Decke über dem Bett schwebenden Viren zu verteidigen, werden die Soldaten als Stellvertreter für das Immunsystem selbst zum Angreifer. Neben dieser Szene sind überdimensionierte orthopädische Stiefel platziert, eine schmerzhafte Gehhilfe, die der Künstler als Kind aufgrund seiner Erkrankung tragen musste. Im Laufe seiner künstlerischen Karriere hat Jason Wilsher-Mills diese Stiefel als Symbol des Stolzes und seiner Identität zurückerobert, indem er sie nach seinem Geschmack umgestaltet hat, verziert mit bunten Mustern und der Flagge des Union Jack – eine Anspielung auf den Sportler Sebastian Coe, der für Großbritannien bei den Olympischen Spielen antrat, und als Verweis auf die Subkultur der Mods, für die sich der Künstler begeistert.

Die Liebe zur Popkultur der 1970er und 80er Jahre zeigt Jason Wilsher-Mills zudem mit einer 30 Meter langen bunten Tapete, die den Ausstellungsraum umspannt. Sie dokumentiert den gesundheitlichen Zustand des Künstlers in seiner Kindheit und die Comics, TV-Serie und Filme, für die er sich damals begeisterte. Illustriert ist die Tapete mit Motiven, für die sich Wilsher-Mills von Batman, Doctor Who oder seinem Lieblingscomic The Beano inspirieren ließ. Konkrete Kindheitserinnerungen, in denen auch seine Familienmitglieder eine wichtige Rolle einnehmen, zeigt der Künstler zudem in farbenfrohen Dioramen, die sich auf Knopfdruck beleuchten lassen. So wie alles in der Ausstellung, können Besucher die Dioramen vorsichtig berühren und so die Kunst auch im wahrsten Sinne des Wortes erfassen.

Ergänzend zeigt die Wellcome Collection eine Auswahl von Kunstwerken aus Jason Wilsher-Mills‘ laufender Serie „Jason and his Argonauts“. Die Werke basieren auf Gesprächen zwischen dem Künstler und behinderten Menschen aus Gemeinde- und Jugendgruppen, mit denen er zusammengearbeitet hat. Einige der Porträts beleuchten die kulturellen und wirtschaftlichen Barrieren, mit denen behinderte Menschen konfrontiert sind, während andere sich mit den Träume und Ambitionen der Menschen befassen, die eine Vision einer alternativen Geschichte von Behinderung entwerfen.


„Wilsher-Mills erforscht in seinem Werk Begriffe wie Handlungsfähigkeit, Identität und Stolz und orientiert sich dabei an dem Helden der antiken griechischen Mythologie, nach dem er benannt wurde.“ [2]

Shamita Sharmacharja, Ausstellungskuratorin der Wellcome Collection


Eine Ausstellung als emotionaler Wow-Effekt

Jason Wilsher-Mills war in der Vergangenheit regelmäßiger Besucher der Wellcome Collection. Als das Museum mit der Bitte an ihn herantrat, eine Ausstellung zu gestalten, befasste sich der Künstler zunächst intensiv mit der Sammlung und zeichnete schon sehr früh, wie das Ausstellungskonzept aussehen sollte. Besonders inspirierte ihn eine anatomische Zeichnung, die aus mehreren Schichten bestand und bei der man die Schichten anheben konnte, um Knochen, Herz, die Organe und das Nervensystem freizulegen. Diese historische Zeichnung nutzte er als Vorbild für eines der Hauptobjekte in der Ausstellung, ein Körper, bei dem man in das Innere sehen kann, als stellvertretende Figur für den Künstler in seiner Kindheit, als er aufgrund seiner Autoimmunerkrankung im Alter von 11 bis 16 Jahren vom Hals abwärts gelähmt war und das Bett die meiste Zeit nicht verlassen konnte.

Beim Konzeptionsprozess für die Ausstellung nutzte Wilsher-Mills, anders als sonst in seinem kreativen Prozess, diesmal Feder und Tinte und zeichnete in einem Skizzenbuch, das als Nachbildung auch selbst ein Teil der Ausstellung ist. Hier entwickelte er die Idee für das riesige Bett als Verkörperung des Epizentrums seines Lebens. Wie Jason Wilsher-Mills im Interview-Film zur Ausstellung berichtet, sollte die Skulptur des Bettes mit einer blinkenden menschlichen Figur in ihrer überdimesionierten Größe die Ausstellungsbesucher überwältigen: „Die wichtigste Frage für mich war: Wie fülle ich diesen Raum? Wie schaffe ich eine Ausstellung, bei der die Leute reingehen und sagen: Wow! So etwas habe ich noch nie gesehen,“ so der Künstler.


In seiner Ausstellung zeigt der Künstler die "Calliper Boots" so, wie er sie gerne getragen hätte.
Orthopädische Stiefel empfand Jason Wilsher-Mills als Kind eher als Folterwerkzeug. In seiner Ausstellung zeigt der Künstler die „Calliper Boots“ so, wie er sie gerne getragen hätte – bunt bemalt und mit Union Jack Flagge. Wie alles in der Ausstellung, kann auch dieses Kunstwerk von Besuchern in der Wellcome Collection berührt werden.

„Wenn ich zeichne, verliere ich mich in dem, was ich tue, und das ist eine Fähigkeit, die ich gelernt habe, als ich als Kind im Krankenhaus war: Ich konnte in eine Art Fantasiewelt flüchten, die ich mir ausgedacht hatte, in der ich die Figuren manipulieren und im Grunde durch sie hindurchleben konnte.“ [3]

Jason Wilsher-Mills, 2024


Das sichtbare Innenleben

In der Ausstellung rückt Wilsher-Mills sein Innerstes in den Mittelpunkt, genauer gesagt das wissenschaftliche, medizinische Innere seines eigenen Körpers, in dem Neuronen und Windpockenviren sich unkontrolliert ausbreiteten. So wie der Künstler als Kind wusste, dass etwas in seinem Körper vor sich geht, ohne es genau zu verstehen, so stehen auch die Besucher in der Ausstellung vor einem faszinierenden optischen Rätsel. Ergänzend thematisiert der Künstler aber auch sein psychisches Inneres in beleuchtete Schaukästen, welche die zentrale große Figur im Bett umgeben. In den bunten Dioramen, die an Penny-Arcade-Automaten aus seiner Kindheit erinnern sollen, schafft Wilsher-Mills eine zauberhafte Welt, die einen Einblick in sein Gefühlsleben bietet, verbunden mit mal traurigen, teils lustigen und oft skurrilen Ereignissen rund um ihn und seine Familie.

Besonders wichtig ist Wilsher-Mills das Diorama mit dem Titel „Malen mit dem Mund“. Der Schaukasten erzählt die Geschichte, wie der Künstler als Kind in der Sonderschule des Krankenhauses lernte, mit dem Pinsel im Mund zu malen. „Dadurch wurde meine ganze Kreativität freigesetzt, und ich konnte erkunden, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich nicht in diesem Krankenhausbett läge“, erklärt Jason Wilsher-Mills im Interviewfilm. Dieses für sein Leben wichtige Ereignis verbindet der Künstler mit seiner Lieblings-TV-Serie als Kind: Statt in einem normalen Rollstuhl, zeigt das Diorama ihn in einem Dalek sitzend – ein mechanisches Wesen aus der britischen Science-Fiction-Serie Doctor Who.

Die Serie war als Kind nicht nur seine liebste Möglichkeit, gedanklich der Realität zu entfliehen. Durch seine Krankheit fühlte sich Wilsher-Mills selbst auch zeitweise wie ein Dalek, ein Wesen, dass sich nur noch durch die Verbindung mit Technik bewegen kann. Das Diorama ist zudem inspiriert von einem Porträt von Charles Dickens, dem Autor von Wilsher-Mills Lieblingsroman „Große Erwartungen“ (1861), in dem sich das Leben und der soziale Status der Hauptfigur Pip durch Bildung verändern. Auch für Jason Wilsher-Mills, der aus einer Arbeiterfamilie mit acht Kindern kommt, änderte sich durch die Bildungsangebote in der Krankenhausschule sein Leben, da hier der Grundstein für seine spätere berufliche Tätigkeit als Künstler gelegt wurde.


Jason and the Adventure of 254

21.03.2024-12.01.2025
Wellcome Collection, London


Bilder: Angelika Schoder – Jason Wilsher-Mills: Jason and the Adventure of 254 – Wellcome Collection, London 2024


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Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Interview mit Jason Wilsher-Mills, 2024 – Film von Ollie Isaac, Ricardo Barbosa und Jeremy Bryans © Wellcome Collection

[2] Shamita Sharmacharja: The Adventures of Jason Wilsher-Mills, Wellcome Collection (https://wellcomecollection.org/the-adventures-of-jason-wilsher-mills-by-shamita-sharmacharja)

[3] Interview mit Jason Wilsher-Mills, a.a.O.


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