[Ausstellung] In den 1990er Jahren sorgte Gunther von Hagens mit seiner Wanderausstellung „Körperwelten“ für Aufsehen und enorme Publikumsnachfrage. Im Mittelpunkt stehen hier verstorbene Menschen, durch das Verfahren der „Plastination“ aufbereitet und zur Schau gestellt in vermeintlichen Alltagssituationen. Die Ausstellung präsentiert Muskeln, das Skelett, Organe und den ganzen menschlichen Körper – so in Szene gesetzt, wie man sie noch nie zuvor gesehen hatte. Bis heute zieht die Schau durch diverse Städte; ob die Darstellung der Menschen hier würdevoll ist, wird nach wie vor diskutiert. Dabei ist das Ausstellen menschlicher Überreste nichts Neues. Insbesondere in medizinischen Sammlungen von Universitäten werden teils seit Jahrhunderten menschliche Überreste zu Studienzwecken genutzt, aber auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Frage, wie man angemessen mit menschlichen Überresten im Museumskontext umgehen soll, wird aber erst seit wenigen Jahren intensiver betrachtet. Auch das Hunterian Museum in London musste sich damit anlässlich seiner Neueröffnung auseinandersetzen. Rund 210 Jahre nach der Gründung des Museums versucht man sich nun dem Thema sensibel zu nähern, wie man Überreste toter Menschen in einem lebendigen Museum zugänglich machen kann.
„Das Hunterian Museum ist ein Ort, an dem Geschichte geschrieben wurde, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Es ist der Ort, an dem Dinosaurier benannt wurden, an dem Charles Darwin Ratschläge zu den Fossilien einholte, die er in der halben Welt gefunden hatte, und an den der Pionier der Computertechnik, Charles Babbage, sein Gehirn schickte, um ausgestellt zu werden. Es ist auch der Ort, an dem einige Personen, die eng mit dem Kolonialismus verbunden waren, düstere und schreckliche Ideen zur Rassentheorie entwickelten.“ [1]
Dawn Kemp, Direktorin der Museen und Sondersammlungen am Royal College of Surgeons of England
Die Geschichte der Medizin
Das Hunterian Museum wurde nach dem Chirurgen und Anatomen John Hunter (1728-1793) benannt. Seine umfangreiche Sammlung anatomischer Präparate wurde im Jahr 1799 in die Obhut der Company of Surgeons übergeben, woraus später das Royal College of Surgeons of England entstand. Am Hauptsitz des Colleges, einem Gebäude am Lincoln’s Inn Fields Park, gegenüber des Sir John Soane’s Museum, ist das Hunterian Museum bis heute untergebracht. Hunters Sammlung umfasste ursprünglich rund 14.000 Präparate, die der Anatom zwischen 1760 und 1793 selbst angefertigt hatte. Im Laufe der Zeit wurde Hunters Sammlung am Royal College of Surgeons of England durch weitere Sammlungen erweitert und ab 1813 auch in einem Museum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bereits in den 1850er Jahren galt es als eines der größten Museen für vergleichende Anatomie, Pathologie, Osteologie und Naturgeschichte der Welt.
Bei der Bombardierung von London im Zweiten Weltkrieg wurde das Museum im Mai 1941 getroffen; dabei wurde ein großer Teil der Sammlung zerstört. Heute verfügt das Hunterian Museum nur noch über rund 3.000 Präparate aus der Sammlung von John Hunter. Ergänzt wird diese durch eine 12.000 Exponate umfassende Odontologische Sammlung mit Schädeln, Kieferknochen und Zähnen von Menschen und diversen Tierarten sowie Zahnabdrücken und Prothesen – darunter übrigens auch ein Zahnersatz, der einst Sir Winston Churchill gehörte. Hinzu kommt eine Sammlung medizinischer Instrumente und Geräte mit rund 10.000 Objekten, eine Sammlung von etwa 15.000 Mikroskop-Projektträgern und eine Pathologische Sammlung mit über 4.000 Exponaten aus drei Jahrhunderten.
Die neu konzipierte Ausstellung des medizinhistorischen Museums, die im Mai 2023 eröffnet wurde, zeigt heute über 2.000 anatomische Präparate. Sie stammen allerdings überwiegend nicht von Hunter, sondern von seinen Nachfolgern, etwa von William Clift (1775-1849), von Sir Richard Owen (1804- 1892) und von Sir William Henry Flower (1831-1899). Darüber hinaus zeigt das Museum medizinische Instrumente und Geräte, anatomische Modelle, Kunstwerke und historische Dokumente. Anhand dieser beeindruckenden Sammlung wird die Geschichte der Chirurgie in 10 Ausstellungsräumen dargestellt, von der Antike bis zu modernen Operationstechniken.
Ein Leben im Dienst der Wissenschaft
Die Dauerausstellung beginnt mit einer Einführung in die Hintergründe des 1813 eröffneten Hunterian Museums und mit einem Überblick dazu, wie sich chirurgische Behandlungen und anatomische Kenntnisse im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben, von der Antike bis ins 18. Jahrhundert. Im zweiten Ausstellungsraum sind die sogenannten „Evelyn-Tabellen“ zu sehen. Dabei handelt es sich um auf Holzplatten aufgeklebte menschliche Blutgefäße und Nervenstränge. Sie wurden einst vom britischen Aristokraten John Evelyn in Padua im Jahr 1646 erworben und sind wohl die ältesten erhaltenen anatomischen Präparate ihrer Art.
Im Folgenden wird John Hunter vorgestellt, der Namensgeber des Museums. Neben Hintergründen zu seinem Leben konzentriert sich die Ausstellung hier besonders auf Hunters Karriere: Er arbeitete zunächst an der Anatomieschule seines Bruders William, trat später als Chirurg in die Armee ein und arbeitete mit dem Zahnarzt James Spence zusammen, bis er schließlich zum Chirurgen am St. George’s Hospital in London ernannt wurde.
Herzstück der Ausstellung im Hunterian Museum ist die sogenannte „Lange Galerie“, eine Regalwand mit historischen Präparaten aus menschlichen Überresten, von diversen Tieren und auch von einigen Pflanzenarten. In den Nebenräumen zu dieser Galerie gewährt die Ausstellung einen Blick in die verschiedenen Arbeitsmittelpunkte von John Hunter. Dies ist zunächst das Wohnhaus, das Hunter 1765 auf dem Landgut in Earl’s Court, westlich von London erwarb. Anhand historischer Exponate wird nachvollzogen, wie der Anatom hier seine wissenschaftliche Forschung betrieb, angefangen bei Naturbeobachtungen, über diverse Experimente, bis hin zum Sezieren von Tieren und der Vorbereitung von Präparaten. Im Jahr 1783 zog Hunter dann mit seiner Familie wieder ins Zentrum von London, in ein Anwesen am Leicester Square. Das Museum zeigt anhand eines Modells, wie der vordere Teil des des Hauses von der Familie als Stadthaus genutzt wurde, während im hinteren Teil Hunters Arbeitsräume und die Anatomieschule zu finden waren. Für diese stellte Hunter seine Sammlung an Präparaten zusammen.
Im Anschluss betrachtet die Ausstellung John Hunters Tätigkeit am Londoner St Georges Hospital, wo er 25 Jahre lang als Chirurg tätig war. Parallel betrieb Hunter eine private Praxis, wobei er auch Hausbesuche bei seinen Patienten machte. Das Museum erzählt in diesem Ausstellungsabschnitt die Geschichten einiger Patientinnen und Patienten von Hunter und gibt Einblicke in ihr Leben und ihre Krankheiten, wie diese medizinisch behandelt wurden und teils auch wie die Erkrankten verstarben. Darüber hinaus befasst sich die Ausstellung auch mit den Studierenden, die von Hunter beeinflusst wurden, und mit der Entwicklung der Sammlung des Royal College of Surgeons of England nach seinem Tod im Jahr 1793.
Moderne medizinische Entwicklungen
Als medizinhistorisches Museum befasst sich das Londoner Hunterian Museum auch mit der Geschichte der Medizin bis in die Gegenwart. Im letzten Ausstellungsdrittel geht es darum, wie die Chirurgie im 19. Jahrhundert durch drei wichtige Durchbrüche verändert wurde: die Entdeckung effektiver Schmerzmittel, die Einführung keimfreier chirurgischer Umgebungen und die Identifizierung von Krankheiten auf zellulärer Ebene. Diese Entwicklungen führten dazu, dass bis zum 20. Jahrhundert an allen Teilen des menschlichen Körpers chirurgisch operiert werden konnte.
Der vorletzte Ausstellungsraum konzentriert sich auf wissenschaftliche Fortschritte von 1914 bis heute. Betrachtet wird hier, wie sich im 20. Jahrhundert das Verständnis des menschlichen Körpers und die damit verbundebnen Operationstechniken verändert haben. Dazu gehört auch eine Serie von Zeichnungen von Barbara Hepworth von 1948, in der die Künstlerin versucht, die Faszination des Geschehens in einem OP-Saal einzufangen, sowie Schautafeln die zeigen, welche Entwicklungen und Herausforderungen die Zukunft für die Medizin bringen könnte.
Im letzten Raum geht es um persönliche Erfahrungen mit der Chirurgie, sowohl aus der Sicht von Patientinnen und Patienten als auch aus der Sicht des medizinischen Personals. Verschiedene Personen erzählen in Video-Interviews von lebensrettenden und lebensverbessernden Operationen und damit verbundenen persönlichen und beruflichen Beziehungen. Gezeigt wird hier auch der Kurzfilm „The Operation“, der 2022 im Wirrall University Teaching Hospital entstand. Der rund 10-minütige Film, der eigens für das Hunterian Museum in Auftrag gegeben wurde, zeigt im Zeitraffer eine 90-minütige orthopädische Operation von Beginn bis Ende.
Menschliche Überreste ausstellen
Mit besonderer Sensibilität musste bei der Neukonzeption der Dauerausstellung des Hunterian Museum entschieden werden, wie die menschlichen Überreste aus Hunters Sammlung und aus den späteren Jahren weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Denn die Sammlung wurde zu einer Zeit angelegt, zu der es noch keine modernen Standards gab für eine notwendige Zustimmung zur Weiternutzung von Menschen zu medizinischen Forschungszwecken. Eine Regelung zum Umgang mit menschlichen Überresten, die weniger als 100 Jahre alt sind, gibt etwa der Human Tissue Act (HTA) von 2004 vor. Dieses Gesetz regelt die Entnahme, Lagerung und Verwendung von menschlichem Gewebe und für diese Objekte gelten diverse Einschränkungen hinsichtlich ihrer Ausstellung.
Das Londoner Hunterian Museum verfügt jedoch überwiegend über Präparate, die deutlich älter als 100 Jahre sind, und zu denen keine Regelungen vorliegen. Bei diesen menschlichen Überresten muss davon ausgegangen werden, dass sie nicht immer nach heute geltenden Standards zur weiteren wissenschaftlichen oder sogar musealen Nutzung freigegeben wurden. Denn zu einigen der Präparate liegt keine Einwilligung der Menschen oder ihrer Angehörigen vor. Wussten die Mütter und Väter, dass ihre ungeborenen Kinder in Gläsern ausgestellt werden würden? Hatten Erkrankte zugestimmt, dass die ihnen entnommenen Tumore der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten? Und konnten Angehörige ahnen, dass Körperteile ihrer Familienmitglieder noch Hunderte Jahre später in einem Museum zu sehen sein würden?
Dies lässt sich heute nicht mehr bei jedem der historischen Exponate in der Ausstellung im Einzelnen nachvollziehen. Daher muss in allen ungewissen Fällen von einer fehlenden Einwilligung ausgegangen werden. Das Museum spricht diese Problematik in der Ausstellung offen an und betont, dass es sich all den Menschen verpflichtet fühlt, die mit ihrem Körper dazu beitrugen, das medizinische Wissen zu erweitern. Sie alle sollen durch einen sensiblen Umgang mit den Exponaten in der Ausstellung gewürdigt werden. Dazu gehört auch, dass es Museumsbesuchern verboten ist, die entsprechenden Exponate zu fotografieren. Vielleicht einer der wenigen Fälle, bei denen ein Fotoverbot im Museum wirklich angemessen ist.
Hunterian Museum
Royal College of Surgeons of England
38–43 Lincolns Inn Fields
London, WC2A 3PE
Bilder: Angelika Schoder – Hunterian Museum, London 2023.
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnote
[1] Pressemeldung des Hunterian Museum: Hunterian Museum at the Royal College of Surgeons of England will reopen to the public on Tuesday 16th May, 13.04.2023
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