[Rezension] Viele Kunstschaffende des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nutzten Werke des Mittelalters und der Renaissance als Inspirationsquellen. Ob Arnold Böcklin, Edvard Much, Vincent van Gogh, Helene Schjerfbeck oder Käthe Kollwitz, sie alle griffen aus der Gotik künstlerische Techniken, aber vor allem auch zentrale Themen wie Geburt, Tod, Leid und Sexualität auf und nutzten sie für ihre eigene Bildsprache. Die Ausstellung „Gothic Modern. From Darkness to Light“ im Ateneum Art Museum in Helsinki versammelt nun einige der wichtigsten Künstlerinnen und Künstler der Moderne und geht anhand von Gemälden und Zeichnungen, aber auch anhand von Skulpturen und Möbeln der Frage nach, warum in der zunehmend industrialisierten Welt um 1900 noch immer eine so große Faszination für das Mysteriöse und Unerklärliche bestand – und teils auch noch bis heute besteht.
Der moderne Blick auf die Gotik
Die Zeit um 1900 war geprägt von neuen technischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Um diese Erfahrungen der Moderne zu reflektieren, wandten sich viele Kunstschaffende der mittelalterlichen Kunst zu, insbesondere Werken aus dem deutschen Raum. Die Ausstellung „Gothic Modern“ beleuchtet nun diese Verbindung zwischen der Gotik und der Moderne und untersucht dabei künstlerische Vorstellungen von Individuum, Geschlecht und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die mit dem Dunklen, dem Emotionalen und dem Unheimlichen verwoben sind. Dabei ließen sich die Künstlerinnen und Künstler nicht nur von den Themen der gotischen Kunst inspirieren, sondern auch von Steinmetzarbeiten und Holzschnitzereien, von Möbeln und Kunstgegenständen sowie von historischen Drucktechniken.
Bis heute nutzen Kunstschaffende eine Vielzahl von Drucktechniken, von denen viele ihren Ursprung in der Kunst des Mittelalters und der frühen Renaissance haben und die erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederbelebt wurden. Druckgrafiken von Künstlern des späten 15. und 16. Jahrhunderts wie Albrecht Dürer und Lucas Cranach dem Älteren waren damals im Europa des Fin-de-Siècle als Kopien und Illustrationen in Zeitschriften und Büchern weit verbreitet. Beeindruckt von den historischen Werken befassten sich viele Kunstschaffende mit diversen Techniken der Holz- und Metallgravur und schufen mit diesen überlieferten Techniken moderne Werke.
Der Blick in die Vergangenheit ging jedoch über die reinen Techniken hinaus; es fand eine regelrechte Identifikation mit historischen Vorbildern statt, als Form der Neudefinition der Rolle des Kunstschaffenden. Diese neue Identität spiegelte sich in vereinfachten und ernsten Selbstporträts wider, etwa bei Edvard Munch, Theodor Kittelsen und Hugo Simberg, sowie in Porträts von Menschen in der Rolle einer religiösen Figur, etwa bei Marianne Stokes. Wie die Ausstellungsmacherinnen Juliet Simpson und Anna-Maria von Bondsdorff argumentieren, war dies der Ausdruck einer künstlerischen Sehnsucht nach einer neuen Kreativität, die auf religiösen Praktiken beruhte. Es war auch die Suche nach einer authentischeren und tieferen Auffassung von Kunst, die hier zum Ausdruck kam.
Leben, Tod und alles dazwischen
Wie die Ausstellung zeigt, adaptierten zahlreiche Kunstschaffende um 1900 immer wieder zentrale Motive der mittelalterlichen Kunst, etwa die Darstellung von Adam und Eva. In den modernen künstlerischen Bearbeitungen erhält die mittelalterliche Bildsprache, wie sie etwa aus den Werken von Lucas Cranach dem Älteren bekannt ist, neue Bedeutungen und wird zur Reflexion über Sexualität, konfliktreiche menschliche Beziehungen und die Unmöglichkeit der Liebe in der modernen Welt, etwa bei Emanuel Vigeland, Max Slevogt oder Ejnar Nielsen. Auch die Madonna wird mit neuen Interpretationen versehen, zum Beispiel bei Edvard Munch oder Käthe Kollwitz.
Neben diesem Blick auf den einzelnen Menschen wandte sich die künstlerische Aufmerksamkeit auch auf die Natur und auf gesellschaftliche Zusammenhänge. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert führten die Industrialisierung und die technologischen Entwicklungen zu einer sich wandelnden Vorstellung von der Natur. Gotische Vorbilder etwa von Joachim Patinir oder Albrecht Altdorfer dienten Kunstsschaffenden wie Theodor Kittelsen oder Sascha Schneider als Inspiration dafür, die Natur als Träger unheimlicher Kräfte zu zeigten, die unterschwellig in der zeitgenössischen Welt lauern. Jenseits dieser empfundenen diffusen Bedrohung durch die Natur gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch ganz konkrete politische Konflikte und Kriege. Auch hier dienten den Kunstschaffenden religiöse mittelalterliche Werke als Bezugspunkte, etwa für Käthe Kollwitz oder Karl Schmidt-Rottluff, die sich von der Ausdruckskraft starker Emotionen inspirieren ließen. So entstanden Werke, die existenzielle Themen aufgreifen, wie die Frage nach Zugehörigkeit und Anderssein, nach der Akzeptanz von Einsamkeit und Melancholie oder der Konfrontation mit Ängsten – insbesondere mit der Angst vor dem Tod.
Die Auseinandersetzung mit dem Tod erfolgte in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance vor allem im Motiv des Totentanz. Dargestellt wird der Tod hier meist als eine Skelettfigur, die mit den Lebenden interagiert. In der gotischen Bildsprache führen die Skelette die Lebenden spielerisch oder bedrohlich zum Tanz; in der modernen Interpretation stehen eher Einsamkeit oder Leid im Mittelpunkt, etwa bei Edvard Much oder Theodor Kittelsen. Teilweise spiegeln die Werke oft aber auch einen Sinn für dunklen Humor wider und werden zu einem Blick auf die Schattenseiten der modernen gesellschaftlichen Realität, etwa bei Vincent van Goghs „Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette“ von 1886. Neben diesem irdischen Bezug zum Tod setzten sich die Kunstschaffenden um 1900 aber auch mit einem anderen zentralen Thema in der Kunst der Gotik auseinander: Prophezeiungen, Offenbarungen und apokalyptischen Visionen, wie etwa in den Werken von Albrecht Dürer. Insbesondere der Erste Weltkrieg konfrontierte die Kunstschaffenden mit zerstörerischen Kräften und der Sehnsucht nach Möglichkeit eines Neuanfangs, der Erleuchtung und des Erwachens, die in den Werken von Henrik Sorensen, Käthe Kollwitz oder Edvard Munch zum Ausdruck kommen.
Neue Perspektiven künstlerischer Verbindungen
Der Begleitband zur Ausstellung „Gothic Modern“ konzentriert sich auf die bisher nicht erforschte Geschichte der nordischen und nordeuropäischen Neuerfindungen des Mittelalters, die 1875 begann und sich bis 1925 fortsetzte. Der Ausstellungskatalog beleuchtet dabei die Gotik als eine zentrale Faszination des späten 19. Jahrhunderts, die kulturelle Grenzen innerhalb von Europa überschreiten konnte. In umfangreichen Texten gehen die Autorinnen und Autoren auf die Bedeutung der gotischen Kunst für die künstlerischen Modernismen der Zeit um 1900 ein, wobei auch die Bedeutung der Gotik für das 21. Jahrhundert herausgestellt wird, die mit Ideen von Individuum, Geschlecht und transnationaler Gemeinschaft verbunden ist.
Ein zentrales Anliegen von „Gothic Modern“ ist es dabei, Perspektiven dafür zu eröffnen, wie sich Kunstschaffende auf neuen Wegen, mit neuen kreativen Visionen und über verschiedene künstlerische Medien hinweg mit der Idee der gotischen Kunst auseinandersetzten, um unterschiedliche Vorstellungen und Praktiken der modernen Kunst zu konstruieren. Der im Hirmer Verlag erschienene Begleitband greift dabei auch Themen auf, die über die Ausstellung hinaus gehen, ob zur Forschung des Kunsthistorikers Curt Glaser, zu den Werken von Emanuel Vigeland oder zur Rolle des Totentanzes in Hugo Simbergs Bildern.
Anlässlich der Ausstellung „Gothic Modern. From Darkness to Light“ erschien die englischsprachige Publikation „Gothic Modern: From Edvard Munch to Käthe Kollwitz“, herausgegeben von Juliet Simpson und Anna-Maria von Bondsdorff, 2024 im Hirmer Verlag (ISBN: 978-3-7774-4392-8). Der Ausstellungskatalog mit zahlreichen farbigen Werkabbildungen beinhaltet Texte von u.a. Cynthia Osiecki, Jeanne Nuechterlein, Ralph Gleis, Stephan Kuhn, Timo Huusko, Johan De Smet, Riitta Ojanperä, Kjartan Hauglid, Marja Lahelma und Vibeke Waallann Hansen.
Gothic Modern. From Darkness to Light
04.10.2024–26.01.2025
Ateneum Art Museum, Helsinki
Im Anschluss wird die Ausstellung vom 28. Februar bis 15. Juni 2025 im Norwegischen Nationalmuseum in Oslo gezeigt sowie vom 19. September 2025 bis 11. Januar 2026 in der Albertina in Wien.
musermeku dankt dem Hirmer Verlag für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: Hans Baldung Grien: Der Tod und die Frau (um 1520/25) – Kunstmuseum Basel – gemeinfrei, bearbeitet
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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