[Rezension] Das Reale und das Fantastische treffen aktuell in der Kunsthalle München aufeinander. Im Zentrum der Sonderausstellung „Fantastisch real“ stehen die zwischen 1860 und 1960 entstandenen Meisterwerke der Belgischen Moderne. Gezeigt werden rund 130 Gemälden, Grafiken, Collagen und Skulpturen von etwa 40 Kunstakteuren. Neben den Werken von James Ensor, Paul Delvaux und René Magritte sind auch in Deutschland weniger bekannte Arbeiten von Eugène Laermans, Constant Permeke oder Rik Wouters zu sehen.
„Auf dem Dachboden der Realität haust das Übersinnliche; in ihren versteckten Winkeln und Kammern lauert die Fantasie mit ihren Träumen und Mysterien.“ [1]
Nerina Santorius, Kuratorin der Ausstellung „Fantastisch real“
Das reale Fantastische
Der Sinn für das Fantastische scheint, so betont es die Kuratorin Nerina Santorius, zur DNA der belgischen Kunst zu gehören. Schließlich vermischten sich bereits bei den Flämischen Altmeistern Hieronymus Bosch oder Pieter Brueghel die Realität mit der Fantasie. Wie die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle München nun zeigt, findet sich das Fantastische vor allem auch in den Werken zahlreicher belgischer Künstler des späten 19. und 20. Jhd. wieder. Die Ausstellung „Fantastisch real“ geht deshalb den Fragen nach, welche Facetten des Fantastischen die moderne belgische Malerei bestimmen, wie sich diese entwickelten und welche Funktionen sie erfüllen.
Vor allem die Symbolisten im späten 19. Jhd. suchten in ihren Werken nach Rätseln und Geheimnissen, die unter der Oberfläche des Sichtbaren liegen. So führte der Brüssler Jurist und Schriftsteller Edmond Picard, der Gründer der Zeitschrift „L’Art moderne“, im Jahr 1887 die ästhetische Idee des „fantastique réel“ ein, des realen Fantastischen. Der Begriff taucht zuvor bereits in Frankreich bei Émile Deschamps und Jules Claretie auf. Laut Picard löst das reale Fantastische das imaginative Fantastische ab.
Es „blickt misstrauisch auf das Leben, auf die Menschen, auf die Dinge und hat beunruhigende Gedanken dazu. Nichts ist so einfach, wie man glaubt. Die Ereignisse besitzen nicht die Logik, die unsere schwache Durchdringung ihnen zuschreibt. Es gibt Drunterliegendes, Mysterien. […] Alles vibriert vor Seltsamkeit. Unter dem ruhigen, friedlichen Leben scheint das Übernatürliche durch. […] Aber um das wahrzunehmen, bedarf es einer besonderen Geisteshaltung, und es in der Realität umzusetzen, ist eine besondere Kunst: das REALE FANTASTISCHE.“ [2]
Edmond Picard, Le fantastique réel 1887
Das Phänomen des realen Fantastischen verband im Hinblick auf die Ästhetik die Naturalisten und die Symbolisten. Und angeblich schrieb man vor allem im 19. Jhd. der „belgischen Seele“ einen starken Hang zum Realistischen zu, ebenso wie eine Neigung zum Träumerischen und Mystischen. Je mehr der Alltag im späten 19. Jhd. durch Rationalismus und Materialismus geprägt wurde und je mehr die soziale Realität die persönlichen Freiräume des Individuums einschränkte, umso mehr schien sich insbesondere die Kunst auf die innere, fantastische Realität zu besinnen. [3]
„Die belgische Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts verdankt ihre Kraft […] den außergewöhnlichen Werken außergewöhnlicher Begabungen, die oft mit Bedacht und manchmal überraschend unorthodox ihre jeweilige Position gegenüber der internationalen Avantgarde und den künstlerischen Innovationen behaupteten.“ [4]
Herwig Todts zur Ausstellung „Fantastisch real“
Von der Historienmalerei bis zum Symbolismus
Die akademische Kunst in der Mitte des 19. Jhd. in Belgien war von romantisierender Historienmalerei geprägt, die mit patriotischen Darstellungen das belgische Staatsbewusstsein stärken sollte. Ausgehend davon zeigt die Kunsthalle München in Kooperation mit dem KMSKA – Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen in der Ausstellung „Fantastisch real“, wie sich hieraus der Surrealismus entwickeln konnte – verdeutlicht durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Kunststilen, aber auch begleitet von Brüchen in den Kunstströmungen in Belgien. Prägend ist hier nicht nur das Erbe der Ölmalerei in Flandern, sondern auch Pariser Einflüsse durch Impressionismus und Postimpressionismus, was sich in den Werken von Henry Van de Velde oder Théo Van Rysselberghe zeigt.
Gegen Ende des 19. Jhd. spiegeln sich in der belgischen Kunst auch zunehmend gesellschaftspolitische Spannungen. Bereits in den 1860er Jahren hatten sich Künstler wie Charles DeGroux mit ihrer realistischen Malerei der Darstellung des städtischen Proletariats oder der Armut der ländlichen Bevölkerung gewidmet. Doch um 1880 verstärkte sich noch einmal die künstlerische Auseinandersetzung mit sozialen Themen in Belgien. Besonders bemerkenswert sind hier Constantin Meuniers Skulpturen und Gemälde von Minen- und Hafenarbeitern.
Die Ausstellung „Fantastisch real“, ebenso wie der dazu erschienene Begleitband, widmet sich vor allem auch dem belgischen Symbolismus, beginnend bei seinem Verhältnis zur vorausgegangenen realistischen Malerei mit ihren sozialen Bezügen, über die Verflechtungen des Symbolismus mit der Literatur bis hin zu seinem Verhältnis zum späteren Surrealismus. Im Fokus stehen hier Künstler wie Jean Delville, Léon Frédéric, Xavier Mellery oder Léon Spilliaert, die sich der Darstellung von Seelenzuständen und Allegorien widmeten. Einen besonderen Schwerpunkt nehmen hier die Werke von James Ensor ein, von dem das KMSKA die weltweit größte Sammlung besitzt. Ensors Malerei ist von fantastischen Elementen geprägt; Masken und Skelette bevölkern seine Bilder und lassen so die Welt als karnevaleske Farce erscheinen.
Fantastische Gestalten und der Surrealismus
Auch der Flämische Expressionismus wird in der Ausstellung thematisiert, der sich ab 1898 in der Künstlerkolonie im Dorf Sint-Martens-Latem bei Gent entwickelte. Künstler wie Gustave Van de Woestyne und später Gustave De Smet und Constant Permeke folgten hier ihrem Wunsch nach einem Rückzug aus der oft trüben Wirklichkeit zu dieser Zeit, in der Belgien mit zu den größten Industrienationen der Welt zählte. Sie schufen Werke mit monumentalen Bauern- und Fischerfiguren und setzten so die einfache Landbevölkerung in ein neues Licht.
Erste Vorboten des Surrealismus begannen sich in Belgien bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit Künstlern wie Frits Van den Berghe zu entwickeln, der in seinen Werken zunehmend fantastische Gestalten darstellte. Auch die fauvistischen Arbeiten von Rick Wouters werden in der Ausstellung in der Kunsthalle München mit aufgegriffen. Schließlich stehen Werke des Surrealismus im Mittelpunkt der Ausstellung, vertreten sind dabei Paul Joostens, Paul Delvaux und natürlich René Magritte.
Die Publikation „Fantastisch real. Belgische Moderne von Ensor bis Magritte“, herausgegeben von Roger Diederen, Nerina Santorius und Herwig Todts für die Kunsthalle München und das Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen, ist 2021 im Sandstein Verlag erschienen (ISBN: 978-3-95498-601-9). Das Buch beinhaltet neben einer Auswahlbibliografie und einem Künstlerindex auch Texte von u.a. Jan Dirk Baetens, Jane Block, Denis Laoureux, Herwig Todts, Sura Levine, Catherine Verleysen, Peter J.H. Bauweise, Adriaan Gonnissen, Estelle Fallender und Xavier Canonne.
Fantastisch real. Belgische Moderne von Ensor bis Magritte
Kunsthalle München
15.10.2021-06.03.2022
musermeku dankt der Kunsthalle München für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: James Ensor: Die Intrige (1890) – Königliches Museum für Schöne Künste Antwerpen – Sammlung KMSKA, Flämische Gemeinschaft – CC0 – Foto: Hugo Maertens – beschnitten
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Nerina Santorius: Fantastisch real. Die Verlebendigung der Dinge in der belgischen Moderne, In: Fantastisch real. Belgische Moderne von Ensor bis Magritte, Hg.v. Roger Diederen, Nerina Santorius und Herwig Todts, 2021, S. 9-15, hier S. 9.
[2] Edmond Picard: Le fantastique réel, In: Ders., Le juré: monodrame en 5 actes, Brüssel 1887, S. XXV-XLVII und XXXIV, Zitiert nach: Ebd., S. 10.
[3] Dazu: Ebd.
[4] Herwig Todts: Die belgische Kunst seit dem 19. Jahrhundert: Institutionen und Strömungen, In: Ebd., S. 17-27, hier S. 17.
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