[Rezension] Der Zeichner und Schriftsteller Walter Moers ist nicht nur Schöpfer von Käpt’n Blaubär und Autor der Zamonien-Romane. Er ist auch ein Fan seines US-amerikanischen Kollegen Edward Gorey. Der 1925 in Chicago geborene Autor und Zeichner veröffentlichte bis zu seinem Tod im Jahr 2000 über 100 Bücher und illustrierte zahlreiche Werke der Weltliteratur, unter anderem von Charles Dickens, Lewis Carroll oder Bram Stoker. Anlässlich des 100. Geburtstags von Edward Gorey nutzt Walter Moers nun die Gelegenheit, den Kultautor und „Großmeister des Kuriosen“ in einem aufwändig gestalteten Buch von allen Seiten zu beleuchten. Das beginnt bei einem Gorey-Alphabet, das den Künstler von A bis Z vorstellt, bis hin zu diversen ausgewählten Werken von Gorey, etwa „Die Stimmgabel von Eduard Blutig“, eine Geschichte über ein Mädchen, das sich währen eines Selbstmordversuchs mit einem Seeungeheuer anfreundet, oder „Der Wackelhump“ (The Wuggly Ump), eine Geschichte über Kinder, die von einem Monster aufgesucht und von ihm verspeist werden.
„Ich glaube wirklich, dass ich über das alltägliche Leben schreibe. Ich glaube nicht, dass ich so seltsam bin, wie manche behaupten.“ [1]
Edward Gorey
Außerhalb jeder Schublade
Es fällt schwer, Edward Gorey in der Literatur- und Kunstgeschichte in eine bestimmte Schublade zu stecken. Er war freier Künstler und Illustrator, war als Schriftsteller und Zeichner tätig, schrieb Nonsense-Gedichte, war aber auch Gothic-Horror- und Kinderbuchautor, zudem noch Surrealist und Humorist. Wer Gorey verstehen will, sollte sich damit anfreunden, dass keine Zuweisung so richtig zu ihm zu passen scheint. Oder wie Walter Moers es zusammenfasst:
„Für einen unabhängigen Künstler hat er zu viele Auftragsarbeiten abgeliefert, für einen Illustrator hat er sich zu viele künstlerische Freiheiten herausgenommen, für einen Schriftsteller hat er ziemlich wenig geschrieben, für einen Kinderbuchautor sterben zu viele Kinder in seinen Büchern, für einen Humoristen sind einige seiner Bücher zu düster und für einen Horrorautor gibt es zu viel zu lachen.“ [2]
Walter Moers
So unbestimmbar die Berufsbezeichnung für Edward Gorey sein mag, so eindeutig ist sein Stil. Bereits bei seinem ersten Buch „Eine Harfe ohne Saiten“ (The Unstrung Harp), das er im Alter von 28 Jahren veröffentlichte und das vom beschwerlichen Leben eines Autors handelt, zeigt sich alles, was das das Werk von Gorey so unverwechselbar macht – vom düster anmutenden Zeichenstil bis hin zum etwas abwegigen Humor. Symptom dieses Humors ist es wohl auch, dass er die Ästhetik seiner Arbeiten und auch sein eigenes Auftreten als irgendwie historisch inszenierte, weshalb viele ihn vielleicht im 19. Jahrhundert verorten würden. „Selbst einige seiner Fans erfuhren erst durch seinen Tod, dass er noch bis vor Kurzem gelebt hatte“, betont Walter Moers in seinem Vorwort zum Buch über Gorey. „Das war, auch wenn es heute märchenhaft erscheint, vor dem Internet noch möglich“, so Moers. [3]
Heute zählt Edward Gorey tatsächlich zu den Künstlern eines vergangenen Jahrhunderts; dank Social Media ist er aber präsent wie kaum zuvor. Immer wieder tauchen online seine wunderlichen und skurrilen Zeichnungen auf, werden hier zahlreich geliked und massenhaft repostet. Viele kennen seine unverwechselbaren Figuren, können sie aber vielleicht Gorey als Künstler nicht direkt zuordnen. Walter Moers schafft mit seiner Publikation zum „Großmeister des Kuriosen“ nun Abhilfe und lädt dazu ein, Edward Gorey neu zu entdecken.
Man kann Edward Gorey „immer wieder neu entdecken und seine vorbildliche künstlerische Kompromisslosigkeit und vielseitige Experimentierfreude bestaunen und zur Inspiration nutzen.“ [4]
Walter Moers
Edward Gorey von A bis Z
Mit dem Edward-Gorey-Alphabet bietet Walter Moers die Gelegenheit, den Künstler von A bis Z kennenzulernen. Das hätte Gorey sehr gefallen, denn wie der erste Eintrag in Moers’ Alphabet mit dem Titel „Abecedarium“ verrät, liebte Edward-Gorey Alphabetbücher. Zum einen besaß er eine umfangreiche Sammlung dieser Bücher, etwa von Edward Lear oder Dr. Seuss. Zum anderen verfasste er aber auch selbst sechs solcher Bücher, etwa „Das Moritaten-Alphabet“ (The Fatal Lozenge), dessen Reime von Selbstmördern, Fetischisten oder verrückten Nonnen handeln, oder „Die Kleinen von Gashlycrumb“ (The Gashlycrumb Tinies), ein Buch in dem Kinder namentlich alphabetisch diversen Todesarten zugeordnet werden. Mit einem Verweis darauf endet übrigens auch Moers’ Alphabet über Gorey: „Z wie Zillah“. Ihre Geschichte ist der des kleinen Yorick gegenüber gestellt und der gemeinsamer Reim lautet: „Y is for Yorick whose head was knocked in | Z is for Zillah who drank to much gin“. Während dem kleinen Yorick also der Schädel eingeschlagen wurde, hat sich die kleine Zillah zu Tode gesoffen.
Goreys Alphabet der „Kleinen von Gashlycrumb“, das wohl im deutschsprachigen Raum zu seinen bekanntesten Büchern zählen dürfte, ist auch in Moers’ Buch abgebildet. Edward Gorey zeigt hier kleine Kinder kurz bevor sie der Tod ereilt, wie etwa Basil, dem von Bären aufgelauert wird, oder Neville, der an Langeweile verendet. In einigen Motiven geht es aber auch etwas drastischer zu, etwa wenn die blutüberströmte Kate gezeigt wird, in der bereits eine Axt steckt, oder wenn die kleine Rhoda schon lichterloh in Flammen steht.
Wie makaber der Humor von Edward Gorey ist, lässt sich auch in anderen Werken von ihm entdecken, die in Moers’ Buch veröffentlicht sind. Hierzu zählt auch „Der fragwürdige Gast“ (The Doubtful Guest), eine gezeichnete Geschichte über ein seltsames Wesen, das eine Familie heimsucht und dort Jahre lang für Unannehmlichkeiten sorgt, oder die Bildergeschichte „Der Westflügel“ (The West Wing), in dem surreale Szenen aus einem Haus zu sehen sind, voller rätselhafter Objekte, mysteriöser Gestalten und unerklärlicher Erscheinungen.
Einen direkten Einblick in Goreys Gedankenwelt bietet zudem ein Interview, das Clifford Ross im Jahr 1994 mit dem Autor und Zeichner führte, und das in Moers’ Buch erstmals auf Deutsch erscheint. Hier geht es um Goreys Meinung zu Kunst, so fühlt er sich etwa dem Surrealismus sehr verbunden, um kreative Prozesse, um sein Interesse an Literatur und um seinen Arbeit. Dazu wollte der Interviewer von Gorey wissen, wie dessen Arbeitstag aussehe. Gorey antwortete:
„Ich wache für gewöhnlich auf und denke: ‚Oh, ich muss heute unbedingt irgendwas machen!‘ Aber dann kommt ziemlich oft etwas dazwischen.“ [5]
Edward Gorey
Die Publikation „Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen“, herausgegeben von Walter Moers, ist 2024 bei Die Andere Bibliothek | Aufbau Verlage erschienen (ISBN: 978-3-8477-0485-0). Der aufwändig gestaltete Band enthält zahlreiche farbige Werkabbildungen sowie Texte von Walter Moers, Zitate von Edward Gorey und ein Interview von Clifford Ross mit Gorey. Der ersten Auflage liegt außerdem ein Druck einer „Original-Edward-Gorey-Fälschung“ von Walter Moers bei.
musermeku dankt dem Verlag Die Andere Bibliothek | Aufbau Verlage für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: diverse Buchcover gestaltet von Edward Gorey, aus: Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen, Buchgestaltung von Oliver Schmitt, S. 184.
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Zitat siehe: Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen, 2024, S. 23o.
[2] Walter Moers: Vorwort, In: Ebd., S. 10.
[3] Ebd., S. 9.
[4] Ebd., S. 10.
[5] Selig sind die Nonchalanten. Edward Gorey im Gespräch mit Clifford Ross, In: Ebd., S. 225.
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