[Pressereise] Zweimal im Jahr findet im französischen Aix-en-Provence die Biennale d’Aix statt. Zu den Highlights der aktuellen Kunstbiennale zählt nicht nur die große Ausstellung „The Light That Shines“, mit der der britische Künstler Damien Hirst das Weingut Château La Coste bespielt, das sich knapp 30 Minuten außerhalb von Aix befindet. Auch in der Stadt selbst gibt es neben Tanz-, Theater- und Musikveranstaltungen eine ganze Reihe außergewöhnlicher Ausstellungen, allen voran „Beyond Consciousness“ von Chiharu Shiota. Die japanische Künstlerin zeigt im Rahmen der Biennale d’Aix 2024 ihre komplexen Werke, parallel an drei historischen Orten. Neben Fotografien und Skulpturen sind hier vor allem ihre raumgreifenden Installationen aus Wollfäden zu sehen, die von den Ausstellungsbesuchern erkundet werden können.
„Die Ausstellung erforscht den Zustand des Menschen und das, was hinter ihm liegt. In meiner Arbeit versuche ich, einen Sinn im Leben, in der Verbindung und im Tod zu finden. Ich lasse mich von meinen Gefühlen und Erfahrungen inspirieren, aber es geht nicht nur um mich. Wir alle denken, dass wir allein durchs Leben gehen und dass wir die Einzigen sind, die diese bestimmten Gedanken und Gefühle in ihrem Herzen tragen, aber wir sind in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden.“
Chiharu Shiota
Der Körper im Mittelpunkt
Die in Berlin lebende japanische Künstlerin Chiharu Shiota (*1972) wurde vor allem für ihre komplexen Installationen aus gewebten Fäden bekannt, die sie bereits 2015 bei der 56. Biennale di Venezia zeigte, ebenso wie im Gropius Bau in Berlin (2019), im ZKM Karlsruhe (2021) oder im Hammer Museum in Los Angeles (2023). In ihren Faden-Installationen, aber auch in ihren Performances, Zeichnungen, Fotografien oder Skulpturen, steht der menschliche Körper im Mittelpunkt. Mit ihrer Arbeit untersucht die Künstlerin Konzepte von Zeit, Bewegung, Erinnerung und von Träumen, wobei sie den Betrachter sowohl psychisch als auch physisch mit einbezieht. Shiotas Inspiration basiert oft auf persönlichen Erfahrungen oder Emotionen, die sie auf universelle menschliche Themen wie Leben, Tod und Beziehungen überträgt. Hierzu nutzt die Künstlerin alltägliche Objekte wie Möbel, Schlüssel oder Kleider, die sie in großflächige Fadenstrukturen einbindet, um sie in einer Art Nervenbahnen oder Gedankenlabyrinthe zu verorten.
Auf Einladung der Musées d’art et d’histoire platziert Chiharu Shiota ihre Werke anlässlich der Biennale d’Aix 2024 nun an drei außergewöhnlichen Kulturorten in Aix-en-Provence: im Pavillon de Vendôme, im Musée des Tapisseries sowie in der Chapelle de la Visitation, die ausnahmsweise für diesen Anlass als Ausstellungsfläche zur Verfügung steht. Die Künstlerin zeigt hier neben bekannten Werken auch neue, ortsspezifische Arbeiten, die mit der Architektur der jeweiligen Gebäude interagieren, etwa „Life Unknown“ im Pavillon de Vendôme, eine Installationen aus schwarzen Fäden, die an den Nachthimmel oder den Kosmos über einem liegenden menschlichen Körper erinnern, oder „The Network“ im Musée des Tapisseries, dessen leuchtendes Rot auf den Roten Faden des Schicksals verweist, gleichzeitig aber auch den Eindruck eines durchbluteten Nervensystems hervorruft.
Musée du Pavillon de Vendôme
Der Pavillon de Vendôme wurde im Jahr 1665 für den Herzog von Vendôme errichtet, den Gouverneur der Provence und Cousin Ludwigs XIV. Seit 1954 ist das Gebäude als Museum für die Öffentlichkeit zugänglich, ebenso wie der denkmalgeschützte französische Garten, der das Anwesen umgibt. Die Sammlung des städtischen Museums umfasst heute Werke vom 17. bis ins frühe 21. Jahrhundert, insbesondere grafische Kunst. Zudem beherbergt das Museum auch regelmäßig zeitgenössische Kunstausstellungen, wie etwa aktuell „Beyond Consciousness“ von Chiharu Shiota.
Auf zwei Stockwerken werden diverse Arbeiten der Künstlerin aus fast allen ihren Schaffensphasen gezeigt. Zu sehen sind hier Fotografien, Zeichnungen, Installationen, Faden- und Glasskulpturen sowie bestickte Leinwände. Im Erdgeschoss des Museums wird etwa die Installation „Living Inside“ (2019/23) gezeigt, eine Ansammlung aus Puppenstuben-Möbeln, die über rote Fäden miteinander verbunden und teils von ihnen ganz umhüllt sind. Die Möbel wurden über Jahre hinweg von der Künstlerin auf Berliner Flohmärkten zusammengetragen. Irgendwann begann sie damit, mit den Miniaturmöbeln Szenen aus ihrem Leben zu entwerfen und sich auch Gedanken darüber zu machen, wie das Leben von anderen Menschen wohl aussehen könnte. Mit einem roten Faden verbindet Chiharu Shiota für „Living Inside“ wortwörtlich ihr eigenes Leben mit den vielen Leben und Erinnerungen von anderen.
Neben dieser Installation sind hier auch Werke zu sehen, in denen sich die Künstlerin vom Medium des Fadens löst. Konfrontiert mit einer Krebsdiagnose, begann Chiharu Shiota mit Materialien zu arbeiten, die nach dem Tod ihres Körpers übrig bleiben sollten, wie Glas, Bronze und Leder. Ihre Glasskulpturen mit dem Titel „Cell“ ähneln Organen, die mit Draht umwickelt sind, wie eine Manifestation des physischen Stresses, dem ihr Körper während der Chemotherapie ausgesetzt war.
Für ihre Arbeit „Out of my Body“ (2023) schuf sie einen Bronzeabguss ihrer Füße, der unter einem netzartig aufgeschnittenen Stück Leder platziert ist. Die Installation verdeutlicht das Gefühl, das Chiharu Shiota spürte, als sie erfuhr, dass ihr Krebs zurückgekehrt war – der Boden sank unter ihren Füßen ein, wie sie es selbst beschreibt. Seit ihr Körper nun geheilt ist, fühlt sie sich stärker mit dem Leben verbunden, wenn ihre Füße die Erde berühren. Um das Thema der eigenen Sterblichkeit geht es auch in der mit schwarzem Faden gestalteten Installation „Life Unknown“ (2023). Die Künstlerin fragt sich hier, was mit unserem Bewusstsein passiert, wenn der Körper verschwindet, und begibt sich auf die Suche nach der Seele und ihrer Verbindung mit dem Universum.
Musée des Tapisseries, Palais de l’Archevêché
Der Erzbischofspalast, genauer gesagt dessen Innenhof, ist heute vor allem als Schauplatz des Festival d’Aix-en-Provence (Festival d’Art Lyrique) bekannt. Seit 1909 befindet sich in den Prunksälen im ersten Stock jedoch auch das Musée des Tapisseries. Die Sammlung des Museums umfasst Wandteppiche aus dem 17. und 18. Jahrhundert, etwa „Les Grotesques“, inspiriert durch die Geschichte von Don Quijote, sowie zahlreiche historische Möbelstücke.
Im Rahmen der Ausstellung „Beyond Consciousness“ sind in den historischen Räumen des Palais de l’Archevêché aktuell zwei Installationen von Chiharu Shiota zu sehen. Zum einen ist es eine Box mit drei Stühlen, die durch ein dichtes Netz schwarzer Fäden in der Schwebe gehalten werden. Die Stühle für „State of Being (Chairs)“ (2024) stammen von Berliner Flohmärkten; über den Erwerb dieser gebrauchten Möbel fühlt sich die Künstlerin mit deren früheren Besitzern verbunden, wie sie sagt. Zum anderen findet sich im Musée des Tapisseries eine große Installation aus roten Fäden, die man wie einen Tunnel durchschreiten kann. Mit der spezifisch für diesen Raum geschaffenen Arbeit „The Network“ gibt die Künstlerin den Ausstellungsbesuchern die Möglichkeit, sich wie in einem Kokon zu fühlen, was für manche vielleicht ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt, während andere die Netzgebilde auch als bedrückend empfinden könnten.
Am Ende des Netz-Tunnels wartet ein kleiner Raum, in dem ein Film einen Einblick in die Arbeit von Chiharu Shiota ermöglicht. Die Künstlerin erzählt hier, dass das Schaffen von Kunstwerken mit Fäden für sie eine Art der Befreiung darstellt. Obwohl sie immer Malerin werden wollte, fühlte sie sich schon bald nach ihrem Studium von diesem Medium eingeengt, weshalb sie sich davon lösen wollte. Sie begab sich auf die Suche nach einem eigenen Medium, das für sie nicht so sehr mit Theorie und Geschichte belastet war. Chiharu Shiota begann dann zunächst mit kleinen Installationen und Performances wie „From DNA to DNA“, die zunächst nur in den Köpfen der Besucher und auf einigen Fotos existierten. Bis heute ist für Shiota die Vergänglichkeit ein zentraler Aspekt ihrer Kunst, denn die komplexen Faden-Strukturen entstehen ortsspezifisch und werden am Ende jeder Ausstellung wieder zerstört.
Chapelle de la Visitation
Die barocke „Kapelle der Heimsuchung“ befindet sich im nördlichen Teil des Klosterkomplexes im Zentrum von Aix, der zwischen 1647 und 1652 errichtet wurde. Im Rahmen der Biennale d’Aix 2024 dient die Kirche nun ausnahmsweise als Ausstellungsort für die wohl aufwändigste Installation von Chiharu Shiota. Umgesetzt werden konnte das Kunstwerk mit dem Titel „Collecting Feelings“ nämlich nur durch die Mitwirkung der Einwohner von Aix-en-Provence. Hierzu fragte die Künstlerin die Menschen: Wofür sind Sie dankbar? Dieser interaktive Ansatz erinnert an die Arbeiten der Künstlerin Yoko Ono, die ebenfalls ihr Publikum regelmäßig dazu auffordert, sich an ihren Werken zu beteiligen.
Für „Beyond Consciousness“ bat Chiharu Shiota im Frühling 2024 um auf DIN-A4-Blättern festgehaltene persönliche Erfahrung von „Dankbarkeit“ – ob als längerer Text oder mit nur einem Wort, in verschiedenen Sprachen, mit einer Zeichnung oder mit Musiknoten. Bis Anfang Mai konnten Menschen ihre Beiträge in einen Briefkasten am Rathaus von Aix einwerfen. In der Kunstinstallation finden sich nun diese zu Papier gebrachten Gefühle wieder, an roten Fäden von der Kirchendecke hängend, ein Geflecht aus positiven Emotionen. Die Künstlerin will damit verdeutlichen, dass zwar nicht jeder Mensch die gleichen Erfahrungen teilt, durch den Austausch von Gefühlen können sich alle aber miteinander verbinden. Mit ihrer Installation verweist die Künstlerin hier aber gleichzeitig auch darauf, dass wir letztendlich nie wirklich wissen werden, was andere denken und fühlen.
„Mir gefällt der Gedanke, dass meine Arbeit nur in der Erinnerung des Besuchers bleibt. Obwohl das Weben ein intuitiver und unkoordinierter Prozess ist – wie ein Zeichnen in der Luft – fügt sich am Ende alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen.“
Chiharu Shiota
Chiharu Shiota: Beyond Consciousness
18.05.-01.09.2024 | Chapelle de la Visitation
18.05.-06.10.2024 | Musée du Pavillon de Vendôme & Musée des Tapisseries, Ancien Palais de l’Archevêché
musermeku dankt der Aix-en-Provence Tourist Office für die Organisation der Reise und für die Übernahme der Kosten vor Ort.
Bilder: Angelika Schoder – Aix-en-Provence 2024
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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