[Rezension] Bis heute übt die Geschichte von „Alice im Wunderland“ eine anhaltende Faszination aus. Mit der Ausstellung „Alice: Curiouser and Curiouser“ und einer begleitenden Publikation begibt sich das Londoner Victoria & Albert Museum nun auf die Spuren von Lewis Carrolls Erzählungen, angefangen vom ersten Manuskript „Alice’s Adventures Under Ground“ aus dem Jahr 1862 über die bekannten Publikationen „Alice’s Adventures in Wonderland“ und „Through the Looking-Glass“ bis hin zur Verarbeitung der Motive auf der Bühne, im Film, in der Kunst und in der Popkultur. Von den Surrealisten wie Dorothea Tanning und Salvador Dalí bis hin zu Walt Disney oder Tim Burton – Alice ist bis heute für viele eine Inspiration. Die Publikation des V&A beleuchtet, wie Themen von Identität und Erwachsenwerden bis hin zur Natur von Gerechtigkeit und der Bedeutung von Zeit anhand der Geschichte von Alice immer wieder aufgegriffen werden und sich als Motive in Kunst und Kultur wiederfinden.
‚Curiouser and curiouser!‘ cried Alice (she was so much surprised, that for the moment she quite forgot how to speak good English) …
Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland
Die wunderliche Welt von Alice
Seit dem Lewis Carrolls Erzählung „Alice’s Adventures in Wonderland“ im Jahr 1866 publiziert wurde, ist das Buch in über 170 Sprachen übersetzt worden. Heute zählt Alice zu einer der bekanntesten Figuren der Literaturgeschichte. Ihre ungewöhnlichen Erlebnisse im Wunderland haben Filme und die Modeindustrie inspiriert, wurden von Designern, Fotografen und Theatermachern aufgegriffen und sind auch immer wieder als Motive in der Kunst zu finden. Vielleicht sind wir Alice zum ersten mal begegnet, als unsere Eltern uns das Buch vorgelesen haben. Vielleicht haben wir sie auch im Disney-Film aus dem Jahr 1951 kennengelernt. In jedem Fall dürften Alice, der Verrückte Hutmacher oder die Grinsekatze fast jedem auf irgend eine Art bekannt sein.
Das Victoria & Albert Museum in London feiert in diesem Jahr das 150. Jubiläum der Veröffentlichung von „Through the Looking-Glass, and What Alice Found There“. Es ist die zweite Alice-Erzählung nach „Alice’s Adventures in Wonderland“ aus dem Jahr 1871. Anlässlich des Jubiläums eröffnet das Museum die umfangreiche Ausstellung „Alice: Curiouser and Curiouser“, begleitet von einer aufwändig gestalteten Publikation. Der Titel ist angelehnt an einen Ausspruch von Alice zu Beginn des zweiten Kapitel des ersten Buches. Auf ihrem Weg ins Wunderland stößt sie auf ein Stück Kuchen mir der Aufschrift „Iss mich“ – und nach einigen Bissen wächst sie zu enormer Größe, bis ihr Kopf an die Decke stößt. Geschockt kann sie nur kommentieren, dass alles immer wunderlicher und noch wunderlicher wird.
Mit der Gestaltung des Buches zu „Alice: Curiouser and Curiouser“ wurde die Illustratorin Kristjana S. Williams beauftragt, die eine eigene Version des Wunderlands von Alice geschaffen hat. Ihre farbkräftigen Grafiken im Collage-Stil enthalten zentrale Figuren und Motive aus Lewis Carrolls Erzählung und bieten einen ganz anderen Zugang als die bekannten Zeichnungen von John Tenniel aus dem 19. Jhd., die man eigentlich mit Alice in Verbindung bringt.
‚Would you tell me please, which way I ought to walk from here?‘
Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland
‚That depends a good deal on where you want to get to,‘ said the Cat.
Alice als Inspiration
Angelehnt an die Ausstellung betrachtet die Publikation „Alice: Curiuouser and Curiouser“ verschiedene Aspekte rund um Alice, von der Entstehungsgeschichte der Erzählungen über die Darstellung und Umsetzung in verschiedenen Medien bis hin zu Neuinterpretationen.
Im Kapitel „Creating Alice“ wirft Annemarie Bilclough einen Blick auf den Schöpfer von Alice: Lewis Carroll (1832-1898), der eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß – ein Mathematiker, Fotograf, Illustrator und Autor. Er nutzte die Viktorianische Faszination für Naturwissenschaften, den Entdeckergeist der Epoche, ebenso wie kulturelle und politische Debatten seiner Zeit als Inspiration für seine Alice-Erzählungen, von den Charakteren bis hin zur Art der Sprache. Seine größte Inspiration war allerdings das Mädchen Alice Liddell. Die „echte Alice“ war eine Tochter des Dekans des Christ Church College in Oxford, an dem Lewis Carroll lehrte. Die Publikation des V&A gibt sich hier Mühe, die Beziehung zwischen dem Autor und dem Mädchen als „nicht unangemessen für die Viktorianische Zeit“ zu bezeichnen. [1] Hier hätte man sich allerdings eine kritischere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Carroll und seiner minderjährigen Muse gewünscht, die er als „my ideal child-friend“ bezeichnete, mit der keine seiner späteren kindlichen Freundinnen hätte mithalten können. [2]
Statt dessen stellt Harriet Reed im Kapitel „Being Alice“ immerhin Alice Liddell als für sich stehende Künstlerin und Intellektuelle vor, die eben mehr war als das kleine Mädchen, das Lewis Carroll inspirierte. Reed zeichnet das Bild einer Frau, die nicht nur in ihrer Jugend aufgrund ihrer Neugier das Interesse des Autors auf sich sog, sondern auch als Erwachsene das Interesse einer breiten Öffentlichkeit gewann. Besonders in den USA wurde die Namensgeberin der literarischen Figur wie ein Star hofiert, als sie im Alter von 80 Jahren 1932 nach New York reiste, um die Ehrendoktorwürde von der Columbia University entgegenzunehmen.
‚Begin at the beginning,‘ the King said, gravely, ‚and go on till you come to the end: then stop.‘
Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland
Das Wunderland in der Kunst und Popkultur
Simon Sladen befasst sich im Kapitel „Performing Alice“ mit den verschiedenen performativen Darstellungen der Geschichte von Alice und weiterer Figuren aus Carrolls Erzählung. Lewis Carroll selbst hatte sich gewünscht, dass seine Geschichte ihren Weg auf die Theaterbühne finden würde. Dieser Wunsch erfüllte sich bereits 1886, dank des Dramatikers Henry Savile Clarke, der beide Alice-Erzählungen als Operette in zwei Akten unter dem Titel „Alice in Wonderland“ im Prince of Wales’s Theatre in London auf die Bühne brachte. Seit dem wurden Carrolls Alice-Erzählungen mehrfach für die Bühne adaptiert, ob als Theaterstück, als Musical und Oper bis hin zum Ballett. Und natürlich war die Geschichte von Alice auch ein dankbarer Stoff für zahllose TV- und Kinoproduktionen, von Walt Disneys Film aus dem Jahr 1951 bis zu den Verfilmungen von Tim Burton in den 2010er Jahren.
Im Kapitel „Reimagining Alice“ setzt sich Kate Bailey, die Kuratorin der Ausstellung „Alice: Curiuouser and Curiouser“, schließlich mit der sich verändernden Wahrnehmung von Lewis Carrolls Stoff im Laufe des 20. und nun 21. Jhd. auseinander. Themen wie Träume, Raumerfahrungen, persönliche Freiheiten und Entdeckungen inspirierten Kunstschaffende direkt oder indirekt im Laufe der Jahrzehnte zu eigenen Auseinandersetzungen und Interpretationen. Bis heute hält die Faszination in der Mode, in der Kunst, in der Popkultur und sogar in der Wissenschaft für Alice und ihr Wunderland an.
Die Publikation „Alice: Curiuouser and Curiouser“, herausgegeben von Kate Bailey und Simon Salden, ist 2020 bei V&A Publishing erschienen (ISBN: 9781-83851-004-6). Der Band, der die gleichnamige Ausstellung begleitet, enthält neben zahlreichen Abbildungen und einer ausgewählten Bibliographie auch Texte von Annemarie Bilclough und Harriet Reed sowie Illustrationen von Kristjana S. Williams.
Alice: Curiouser and Curiouser
Victoria and Albert Museum, London
Ab 27.03.2021
Header-Bild: Screenshot (Detail) aus „Curious Alice“, ein VR-Erlebnis von V&A und HTC Vive Arts mit Illustrationen von Kristjana S. Williams (Copyright © V&A Museum London, 2020)
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Siehe: Kate Bailey und Simon Sladen: Introduction, In: Alice: Curiuouser and Curiouser, Hg.v. Dies., London 2020, S. 8-15, hier S. 11.
[2] Harriet Reed: Being Alice, In: Ebd., S. 198-215, hier S. 205.
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