Stolpersteine: Gelebte und diskutierte Erinnerungsarbeit

In fast allen Ländern Europas sind sie mittlerweile zu finden: Stolpersteine. Die im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln bilden das weltweit größte dezentrale Mahnmal an die Opfer der NS-Zeit.

In einer der lebhaftesten Erinnerungskultur-Debatten der letzten Jahre geht es um Stolpersteine, die auch in ganz Europa zu finden sind.

[Debatte] Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und an die vom NS-Regime begangenen Verbrechen prägt die Identität Europas. Aber es ist kein einfaches Thema. Die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen diese Erinnerung betrachtet werden kann, sorgen für Diskussionen. Eine der lebhaftesten Debatten, die in den letzten Jahren in Deutschland zum Thema Erinnerung geführt wurden, ist die um die Stolpersteine. Gleichzeitig ist das vom Künstler Gunter Demnig initiierte Projekt auch sehr erfolgreich. Rund 100.000 Stolpersteine finden sich mittlerweile in 27 Ländern und bilden das weltweit größte dezentrale Mahnmal an die Opfer der NS-Zeit. Seit einigen Monaten werden Stolpersteine sogar außerhalb Deutschlands angefertigt, denn das Interesse scheint auch international immer weiter zuzunehmen.


Die Stolpersteine im Stadtbild

Das Ziel der Stolpersteine ist es, die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes im Stadtraum zu materialisieren. Die meisten Stolpersteine erinnern dabei an die ermordeten jüdischen Opfer des Holocaust, doch sie können auch verlegt werden für diverse andere Menschen, die im NS-Regime verfolgt und ermordet wurden oder Suizid begingen, etwa politisch Verfolgte, Menschen im Widerstand, militärische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, Fluchthelfer und auch Alliierte Soldaten. Letztlich geht es bei dem Stolperstein-Projekt darum, diesen Opfern ihre Namen und ihren Platz in der Gesellschaft zurückzugeben. Anstatt ein Denkmal für eine größere oder kleinere Gruppe von Opfern zu schaffen, steht jeder Stolperstein für einen bestimmten Menschen.

Ein Stolperstein ist ein quadratischer Betonpflasterstein, der mit einer Messingtafel bedeckt ist, in die der Name und die relevanten Daten zum Schicksal einer Person eingeprägt sind. Der Stein wird meist in den Gehweg vor der Tür des ehemaligen Wohnhauses eingelassen, in dem die Person lebte, die Opfer des NS-Regimes wurde. Das Projekt spricht hier explizit vom letzten frei gewählten Wohnort, da durch Flucht teils für einige Personen auch noch andere Wohnorte existieren. In manchen Fällen wird der Stein auch am letzten Arbeitsort einer Person verlegt, wenn ein Wohnort nicht mehr ermittelt werden konnte.

Anders als der Name vermuten lassen könnte, wird der Stein ebenerdig in den Gehweg eingefügt. Die Stolpersteine können also kein wortwörtliches Stolpern verursachen. Allerdings können sie dadurch auch – und das ist eines der Argumente der Kritiker des Projekts – durch Unachtsamkeit betreten werden.


Stolperstein für Margarethe Müller in Hamburg
Ein Stolperstein für Margarethe Müller in Hamburg. In diesem Fall wurde der Stolperstein am letzten Arbeitsort verlegt, da sich der Wohnort nicht mehr ermitteln ließ.

Wie Stolpersteine in Amsterdam entstehen

Seit Mitte der 2000er Jahre werden in den Niederlanden Stolpersteine verlegt; allein im Jahr 2022 waren es hier und in Belgien über 2.400 Stück, von Aalten bis Zwolle. Heute sind die Niederlande das Land nach Deutschland, wo die meisten Stolpersteine liegen. Koordiniert wird die Verlegung in Amsterdam, Amstelveen und Utrecht von Alexander Stukenberg, der übrigens auch für die Herstellung der einzelnen Steine mit verantwortlich ist. Seit Sommer 2021 befindet sich dafür im Garten des Goethe-Institut Niederlande in Amsterdam ein kleines Atelier, in dem er rund 100 Steine im Monat herstellt. Wir durften ihm in der einzigen Stolperstein-Werkstatt außerhalb Deutschlands bei der Anfertigung eines Stolpersteins über die Schulter schauen.

Zunächst erhält Alexander Stukenberg einen Vorabdruck der Gravuren mit den verifizierten Angaben zur Person, an die der Stolperstein erinnern soll. Jeder Buchstabe und jede Zahl, die über das Schicksal eines Menschen Auskunft geben, werden dann von Hand von ihm in eine vorbereitete Messingplatte geprägt. Im Anschluss wird die Metallplatte in Form gehämmert. Schließlich wird über eine Gußform Beton hinzugefügt, um einen quadratischen Stein zu erstellen. Nach einer letzten Politur können die Stolpersteine in Zusammenarbeit mit zahlreichen regionalen Gruppen und Initiativen vor Ort verlegt werden, häufig von Gunter Demnig selbst. Die Platzierung eines Stolpersteins kann übrigens auch an mehreren Orten erfolgen, Anne Frank hat zum Beispiel 3 Stolpersteine.

Wer Interesse hat, kann im Garten des Goethe-Institut in Amsterdam übrigens die Stolperstein-Werkstatt besuchen und die Erstellung durch die Fenster beobachten.


Jeder Stolperstein wird individuell hergestellt, wie hier von Alexander Stukenberg.
Jeder Stolperstein wird individuell hergestellt, wie hier von Alexander Stukenberg. Dazu werden alle Buchstaben und Zahlen von Hand in eine Messingplatte geprägt.

Die Debatte um Stolpersteine

Der erste Stolperstein wurde 1992 von Gunter Demnig vor dem Historischen Kölner Rathaus verlegt. Anlass war der 50. Jahrestag des Befehls Heinrich Himmlers zur Deportation der Sinti und Roma. Seit dem Jahr 2000 hat sich das Projekt auf eine Vielzahl deutscher Kommunen ausgeweitet und wurde auch auf andere europäische Länder und auf Russland ausgedehnt. Insgesamt wurden bis heute rund 100.000 Stolpersteine verlegt. Deshalb kann man ohne Zweifel von einem enormen Erfolg und einer großen öffentlichen Akzeptanz für dieses Projekt sprechen. Aber nicht alle sind damit einverstanden. Beispielsweise in der Stadt München sind Stolpersteine bis heute umstritten. Hier wurde einer Verlegung im öffentlichen Raum bisher nicht zugestimmt; sie können nur auf privatem Grund in den Boden gesetzt werden.

Das Hauptargument gegen Stolpersteine ist die Tatsache, dass die Steine im öffentlichen Raum leicht übersehen oder sogar betreten werden können. Was das Übersehen angeht, ist dies der schwächste Kritikpunkt, denn dies kann auch auf die meisten anderen Denkmäler zutreffen. Und was das mögliche Betreten angeht: Es ist nicht so, dass Stolpersteine in erster Linie Respektlosigkeit hervorrufen würden. Vielmehr ist die Idee des Projekts, dass man sich „vor dem Opfer verbeugen“ muss, um die Inschrift in einem Stolperstein lesen zu können.

Ließe man statt der Stolpersteine im Boden lieber Tafeln an den Fassaden der Gebäude anbringen – was einige Kritiker bevorzugen – würde es sich zudem nicht mehr um öffentlichen Raum handeln. Für jede einzelne Gedenktafel müsste dann die Genehmigung des Eigentümers des Gebäudes eingeholt werden, was mit großem Aufwand verbunden wäre. Die Platzierung im Boden ist stattdessen über eine zentrale Genehmigung des jeweils zuständigen Stadtplanungsamts möglich. Wurde in einem Ort die Verlegung von Stolpersteinen einmal genehmigt, ist es einfach, weitere Steine für andere Personen vor Ort zu planen.


In der Stolperstein-Werkstatt im Garten des Goethe-Institut in Amsterdam stellt Alexander Stukenberg monatlich bis zu 100 Stolpersteine her.
In der Stolperstein-Werkstatt im Garten des Goethe-Institut in Amsterdam stellt Alexander Stukenberg monatlich bis zu 100 Stolpersteine her.

Die Idee des individuellen Denkmals

Als die Idee der Stolpersteine entstand, gab es noch nichts Vergleichbares. Mittlerweile hat das Projekt ähnliche Gedenksteine inspiriert, etwa die „Steine der Erinnerung“ in Wien oder die „Denksteine“ in Rostock und in Berlin. Was den Erfolg des Konzepts der Stolpersteine ausmacht, ist die Idee einer grassroots Bewegung, der sich jeder anschließen kann. Bis heute hat das Projekt zahlreiche Gruppen von Freiwilligen in vielen Ländern mobilisiert, jeder kann sich beteiligen. Stolpersteine verbinden dabei handwerkliche Arbeit mit historischer Forschung. Und das Projekt schließt nicht aus, dass der Opfer auch auf anderer Weise gedacht werden kann.

Die Stolpersteine ermöglichen es, dass man in vielen europäischen Städten, wenn man auf den Gehweg schaut, von Zeit zu Zeit über die Erinnerung an jemanden „stolpert“. Ob in Deutschland, Österreich, Belgien, Kroatien, Frankreich, Italien, Ungarn oder den Niederlanden – man hat die Chance den Namen einer Person zu erfahren, deren Schicksal mit der NS-Zeit verknüpft ist und wird so im Alltag daran erinnert, dass die Auswirkungen der nationalsozialisatischen Verbrechen an zahlreichen Orten allgegenwärtig waren.

„Überall dort, wo die deutsche Wehrmacht, die SS, die Gestapo ihr Unwesen trieben, tauchen symbolisch Steine auf. Inzwischen ist das Ganze eher zu einer Generationenfrage geworden, weil jetzt die Enkel oder Urenkel fragen, was war mit unserer Oma? Warum hatten wir nie Großeltern? Es geht also ungebremst weiter.“

Gunter Demnig 2021 im Interview mit Johanna Giebel für das Goethe-Institut in Amsterdam

Bilder: Angelika Schoder – Stolperstein in Hamburg, 2018 und Blick in die Stolperstein-Produktion im Goethe Institut in Amsterdam, 2023


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