[Pressereise] Um das Motiv des Schattens ranken sich seit der Antike zahlreiche Mythen und Erzählungen. Auch in der Kunst ist der Schatten ein zentrales Element, immerhin geben Schattierungen Körpern ein Volumen, sie verleihen Gegenständen ein Profil und schaffen in Räumen eine Tiefenwirkung. Schatten in der Kunst können ein Motiv auf das Wesentliche reduzieren oder eine vielseitige Mehrdeutigkeit erschaffen. Das Kunstmuseum Basel nähert sich dem Thema nun in der Sonderausstellung „Schatten: Abbild und Inszenierung“. Zu sehen sind hier Schattendarstellungen von der Renaissance bis in die Gegenwart, u.a. von Albrecht Dürer, Eugène Delacroix, Lázló Moholy-Nagy, Andy Warhol, Jasper Johns oder Wolfgang Tillmans.
Ich und der Andere
Der Schatten wird in Sagen und Legenden oft als eine Art Doppelgänger interpretiert, ein immaterielles Abbild, das die verborgenen Eigenschaften eines Menschen verkörpert. Ein Schatten lässt sich weder greifen noch loswerden. So kann er in der Kunst als Begleiter, als Gegner oder auch als Metapher für existenzielle Krisen betrachtet werden. Auch in Selbstportraits spielt der Schatten eine wichtige Rolle, steht er doch oft für eine andere, vielleicht verborgene Seite des Selbst.
Die allgegenwärtige Präsenz des Schattens, der auch immer etwas mysteriös wirkt und je nach Lichtverhältnissen ein Eigenleben zu führen scheint, regt schon seit Jahrhunderten die Fantasie der Menschen an. In zahlreichen sogenannten Emblembüchern des 16. und 17. Jhd. finden sich etwa rätselhafte Bilder zum Thema Schatten, die mit einer moralisierenden Bedeutung versehen sind. Das Kunstmuseum Basel zeigt zu Beginn der Ausstellung „Schatten: Abbild und Inszenierung“ hierzu einen Holzschnitt von Johannes Sambucus (1531-1584) mit dem Titel „In poenam sectatur & umbra“ (dt.: Selbst der Schatten folgt, um zu strafen) aus dem Jahr 1564. Hier wird der Schatten mit dem schlechten Gewissen gleichgesetzt, das den Menschen verfolgt. Der Holzschnitt zeigt: Man kann seinen Schatten nicht abschütteln, selbst wenn man es mit Gewalt – hier mit einem Schwert – versucht.
Im ersten Ausstellungsabschnitt „Ich und der Andere“ ist auch der Farbholzschnitt „Schlemihls Begegnung mit dem Schatten“ von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) zu sehen, eine Illustration zu Adalbert von Chamissos Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. In Chamissos Erzählung verkauft die Hauptfigur seinen Schatten an den Teufel. Will er diesen zurück haben, kostet es Schlemihl seine Seele. Im Holzschnitt von Kirchner ist zu sehen, wie Schlemihl versucht, seinen Schatten gewaltsam an sich zu reißen, um wieder Herr seiner selbst zu werden. Kirchner illustriert die Dringlichkeit der Szene mit scharfen Kanten, der Schatten scheint dabei konkreter als der Protagonist selbst. In gewisser Weise spiegelt das Motiv vielleicht Kirchners eigenes Schicksal, denn es entstand 1915, als der Künstler zunächst freiwillig ins Militär eingetreten war und diese Entscheidung im Ersten Weltkrieg bald bereute.
Zentral im ersten Ausstellungsraum ist der Super 8-Film „Shadow play“ von Vito Acconci (1940-2017). Die Film-Sequenz gehört zur Serie „Drei Beziehungsstudien“ von 1970. In jeder Sequenz nehmen der New Yorker Künstler und ein Gegenüber imitierend aufeinander Bezug. Dabei geht es auch um die Frage, wer hier auf wen Macht ausübt – der Protagonist oder der vermeintliche Schatten. Eine andere Auseinandersetzung mit dem Schatten zeigt daneben Andy Warhol (1928-1987). In seinem Selbstportrait von 1966 spielt der Künstler mit den Mechanismen der Enthüllung und Verschleierung. Die linke Gesichtshälfte wird von einem Schatten verdeckt, nur in der rechten ist sein bekanntes Profil zu erkennen. Das Bild erzeugt so zugleich Distanz und Nähe zum Betrachter. Der an den Mund gelegte Finger unterstreicht zusätzlich den Eindruck des Geheimnisvollen.
Punkt – Linie – Fläche – Körper – Raum
Seit dem Beginn der Renaissance wird dem Schatten in der Kunst große Aufmerksamkeit gewidmet. So wird das Studium von Licht und Schatten zum festen Bestandteil in der Kunstausbildung. Zwar rückt der Schatten in den wissenschaftlichen Fokus und Schriften zur Perspektive analysieren das Phänomen bis ins Detail, doch vor allem in der Kunst wird der Schatten nicht nur naturgetreu dargestellt, sondern vor allem auch als Stilmittel eingesetzt.
Baccio Bandinelli (1493-1560) gewährt in einem Kupferstich einen Einblick in seine Akademie, eine Zusammenkunft zum Studium des Zeichnens. Als zentrale Lichtquelle im Bild dient eine Kerze in der Mitte eines Tisches, darum versammelt Malereilehrlinge und Edelmänner, die Figuren zeichnen. Verschiedene platzierte Gegenstände im Raum werfen dramatische Schlagschatten, die fast wie eine Manifestation eines angeregten Dialogs zwischen den abgebildeten Figuren wirken. Um eine ganz andere Art eines Körpers im Raum, der durch seinen Schatten gekennzeichnet ist, geht es in der Teleskop-Fotografie „Venus Transit“ von 2004. Hier zeigt Wolfgang Tillmans (*1968) ein astronomisches Phänomen, das Menschen seit Jahrhunderten fasziniert. Der Venustransit ist ein seltenes Ereignis, in dem aus Sicht der Erde die Venus an der Sonne vorbeizieht. Seit dem 18. Jhd. konnte durch die Aufzeichnung dieses Vorgangs von zwei weit entfernten Standpunkten aus der Abstand der Sonne zur Erde berechnet werden.
Täuschend bis Entlarvend
Schatten haben immer auch etwas Geheimnisvolles an sich; der Charakter der Verdopplung regt zu Fantasien darüber an, was real ist und was eine Täuschung. Schattenbilder können verzerrt sein, sie können aber auch Verborgenes entlarven. Mit seiner Arbeit „Tag oder Nacht“ von 1998 erinnert Markus Raetz (1941-2020) an die Idee der Renaissance, dass ein Bild wie der Blick durch ein Fenster in die Welt sein müsse. Durch die Überlagerung geometrischer Formen erzeugt der Künstler die Anmutung eines Fensters, wobei nicht klar ist, ob man nach draußen oder nach innen blickt. Ist es Tag oder Nacht – welche Lichtquelle erzeugt Schatten? Das Bild wirkt fast wie eine optische Täuschung.
Der Schatten als Täuschung wird auch in den Kupferstichen von Maerten van Heemskerck (1498-1574) und Adriaen de Weerdt (1510-1590) thematisiert. In „Ehrbare und unehrbare Wege, zu Reichtum zu gelangen“ von 1563 und „Triumph der Wahrheit“ aud dem Jahr 1568 wird jeweils die Lüge als Schattenfigur dargestellt. Doch der Schatten wurde im Gegensatz dazu von manchen auch als Hinweis auf die Seele, also das „wahre Innere“ interpretiert. So zeigt Johann Caspar Lavater (1741-1801) eine „Machine sure & Kommode pour Tirer des Silhouettes“ (1783), also eine Vorrichtung zur Anfertigung von Silhouetten. Er war der Überzeugung, aus dem Schattenabbild könne man auf Charaktereigenschaften eines Menschen Rückschlüsse ziehen.
Ideen und Unfassbares
Laut Plinius (1. Jhd. n.Chr.) gilt der Schatten als Ursprung der Malerei: Um das Abbild ihres Geliebten zu bewahren, soll eine Schustertochter dessen Abbild mit Kohle an einer Wand nachgemalt haben. Diesen Mythos zeigt Joachim von Sandrart (1606-1688) in seinem Kupferstich „Die Erfindung der Malerei“ von 1683. Eine andere Idee, die mit dem Schatten verbunden ist, ist Platons antikes Höhlengleichnis, in dem der Schatten als Metapher für unvollendete Erkenntnis gilt. Besonders im 16. Jhd. wurde das Gleichnis oft moralisierend gedeutet, als Gefahr der Sinnenwelt zu erliegen und dadurch vom rechten Glauben abzukommen. Dies thematisiert der Kupferstich „Antrum Platonicum“ aus dem Jahr 1604 von Cornelis van Haarlem (1562-1638).
Um das Unfassbare des Schattens geht es in der Arbeit „Skin with O’Hara Poem“ aus dem Jahr 1963 von Jasper Johns (*1930). Zu sehen ist hier ein Körper, der sich energisch gegen eine durchsichtige Wand zu stemmen scheint. Was wie flüchtig wirkt, ist in Wirklichkeit Ergebnis eines langen künstlerischen Be- und Verarbeitungsprozesses. Um die Dynamik des Kontrollverlusts geht es auch in dem Werk „Corona IX“ aus dem Jahr 2012 von Franziska Futter (*1972). Mit Tusche, Wasser und Lauge erzeugt sie ein Zusammenspiel von Schattierungen, das einen Eindruck von Räumlichkeit und Bewegung schafft. Der Titel „Corona“ verweist hier auf das Naturphänomen einer kreisförmigen Lichterscheinung in der Erdatmosphäre.
Strahlung und Widerstand
Im Ausstellungsabschnitt „Strahlung und Widerstand“ steht das Phänomen des Schlagschattens im Mittelpunkt. Anhand von Schatten lässt sich das Vergehen der Zeit nachvollziehen, verdeutlicht durch den sich stetig ändernden Sonnenstand auf der Erde. Schon auf frühen Holzschnitten wird diese Schattenbeobachtung thematisiert, etwa bei Hans Holbein d.J. (1497-1543).
Angeblich hat Henry Fox Talbot (1800-1877) darüber nachgedacht, seine Entdeckung der Fotografie lieber „Skiagraphie“ (griech. Schattenmalerei) zu nennen. Immerhin „malt“ der Schatten in der Schwarz-Weiß-Fotografie auf das Lichtempfindliche Material. Das Kunstmuseum Basel zeigt in Anlehnung daran mehrere Photogramme von László Moholy-Nagy (1895-1946). Der Bauhaus-Künstler experimentierte ab den frühen 1920er Jahren mit dieser Technik. Hier entstehen Fotografien ohne Kamera, indem Gegenstände direkt auf lichtempfindlichem Papier platziert werden. Wo die Gegenstände aufliegen ist das Abbild am hellsten, je mehr Abstand besteht, um so mehr Schattierungen entstehen. Moholy-Nagy nutzte Photogramme, um Grundformen, Schatten und Licht in ihrer Relation zueinander darzustellen. Als Objekte nutze der Künstler alles Mögliche, von Werken anderer Bauhäusler über Filmspulen bis hin zu einem Abflussrohr oder einem Obstkorb.
Stimmungen
In ihrem letzten Abschnitt widmet sich die Ausstellung „Schatten. Abbild und Inszenierung“ der raumgestaltenden Wirkung des Schattens in der Druckgrafik. Im 17. und 18. Jhd. nutzten Künstler etwa die zeitaufwändige Technik des Mezzotinto, um schattierte Halbtöne zu erzeugen. Eine Druckplatte wird hier so aufgeraut, dass ein samtig schwarzer Grund gedruckt werden kann. Durch Glätten und Polieren einzelner Partien werden dann helle Bereiche erzeugt. Das Kunstmuseum Basel zeigt hier das Bild einer Heiligen Familie aus dem Jahr 1755 von James MacArdell (1727-1765) als Mezzotinto nach einer Zeichnung von Rembrandt.
Mittels Aquatinta erzeugte hingegen Eugène Delacroix (1978-1863) um 1863 die flimmernde Atmosphäre einer Schmiede in seinem Bild „Un Forgeron“. Bei dieser Technik wird Harz- oder Asphaltpulver auf eine Druckplatte gestäubt und unter Hitze fixiert. Beim Ätzvorgang greift die Säure den Kupfergrund daher nur punktuell an. Durch ein stufenweises Arbeiten in mehreren Schichten kann so ein Spektrum an Verdunklung erzeugt werden. Eine besondere Stimmung durch Schattierung erzeugt auch Käthe Kollwitz (1867-1945) in ihrem Werk „Schlachtfeld“ von 1907/08, in dem sie sich der gleichen Technik bedient wie Delacroix. Zu sehen ist eine Mutter, die auf einem Schlachtfeld ihren gefallenen Sohn sucht. Das Licht einer Öllampe erhellt im Bild eine tastende, vom Alter gezeichnete Hand und das Gesicht eines jungen Mannes; der Rest des Bildes bleibt diffus und dunkel.
Eine Szene bei Nacht zeigt auch Edvard Munch (1863-1944) in seiner Radierung „Bei Nacht“ von 1903. Zu sehen ist hier ein unbekleidetes Mädchen, dass mit verschränkten Armen und weit geöffneten Augen auf einer Bettkante sitzt. Von der Seite nähert sich ein dunkler Schatten, der durch Munchs harte Linienführung besonders bedrohlich wirkt. Die Ausstellung bietet so einen faszinierenden Einblick, mit welchen unterschiedlichen Techniken sich Stimmungen durch die Darstellung von Licht und Schatten erzeugen lassen.
Schatten. Abbild und Inszenierung
01.05.–26.09.2021
Kunstmuseum Basel – Hauptbau, Zwischengeschoss
musermeku dankt der Fondation Beyeler für die Übernahme der Kosten der Reise.
Bilder: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2021
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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