[Pressereise] Langsam sickert Wasser aus dem Boden des Ausstellungsraums, formt sich zu Buchstaben und bildet Namen. Nach wenigen Sekunden nehmen die hellen Steinplatten die Tropfen wieder auf, nach und nach, bis jeder einzelne Buchstabe wieder verschwunden ist. Jeder Name gehört zu einem Menschen, zu einem Migranten, dessen Flucht übers Meer tödlich endete. Mit ihrer Installation „Palimpsest“, die aktuell in der Fondation Beyeler zu sehen ist, erinnert die Künstlerin Doris Salcedo an diejenigen, die man in Europa gerne vergisst.
„Die Begrifflichkeit des Palimpsest kommt von der Idee, dass wir vergessen. […] Unser Gedächtnis ist schwach, es ist zerbrechlich und selektiv. Das ist es also, was das Werk tut. Es vergisst und es erinnert sich.“
Doris Salcedo im Video-Interview zu „Palimpsest“ in der Fondation Beyeler
Steine und Wasser
Die 1958 in Bogotá geborene Künstlerin Doris Salcedo ist bekannt für ihre Auseinandersetzung mit Themen wie Erinnerung und Vergessen, Empörung und Gewalt. Ab Mai 2023 werden ihre Objekte, Skulpturen und Interventionen in einer großen Einzelausstellung in der Fondation Beyeler zu sehen sein. Schon jetzt zeigt das Museum ihre Installation „Palimpsest“ (2013-2017) in einem rund 400 Quadratmeter großen Ausstellungsraum im nordöstlichen Teil des Gebäudes. Der Titel des Werks geht auf das altgriechische Wort Palimpsest zurück, das Manuskriptseiten bezeichnet, die im Verlauf der Antike und des Mittelalters mehrmals beschriftet wurden. Salcedo greift die Idee in ihrer Arbeit auf, dass bei einem Palimpsest die Spuren der ursprünglichen Zeilen zum Teil unter der neuen Schrift sichtbar bleiben.
Die Künstlerin überträgt dieses Konzept der schriftlichen Überlagerung, die gleichzeitig das Erinnern gewährleistet, auf die Namen von Menschen. Sie widmet ihr Werk „Palimpsest“ den Geflüchteten und Migranten, die in den letzten Jahren bei dem Versuch ertranken, Europa zu erreichen. In zwei Zyklen sind insgesamt 300 Namen in ihrem Kunstwerk zu lesen: Im ersten Zyklus erscheinen Namen von Menschen, die während einer Fluchtbewegung vor 2010 ertrunken sind. Die Buchstaben der Namen wurden in 66 sandfarbenen, porösen Bodenplatten mit feinem Sand farblich abgesetzt eingelassen. Im zweiten Zyklus werden Namen von Menschen genannt, die zwischen 2011 und 2016 bei ihrer Flucht gestorben sind. Diese Namen werden durch Wasser gebildet, das durch die Bodenplatten tropfenweise an die Oberfläche steigt. Nachdem sich die Tropfen zu Buchstaben geformt haben, versickern diese wieder. Ist das Wasser verschwunden, treten die Namen des ersten Zyklus wieder in den Vordergrund, nur um dann wieder von den Namen des zweiten Zyklus überlagert zu werden. Ein Kreislauf von Einschreibung und Auslöschung, von Sichtbarkeit und Verschwinden entsteht.
„Ich wollte, dass es Tränen sind. Dass es eine Flut von Tränen geben wird. All diese Tränen werden sich vereinen, um schließlich den Namen zu schreiben.“
Doris Salcedo im Video-Interview zu „Palimpsest“ in der Fondation Beyeler
Erinnerung an Vergessene
Salcedos Installation erinnert an die Idee einer „weinenden Erde“ und soll ein Ort der Trauer und des Gedenkens sein – eine Art künstlerisches Mahnmal, das man übrigens auch betreten kann und soll. Wer sich vorsichtig durch den Ausstellungsraum bewegt, kann die Namen in den Bodenplatten lesen und das Wasser dabei beobachten, wie es immer wieder aufsteigt, zu lesbaren Buchstaben wird, und wieder einsickert. Die Flüchtigkeit ist dabei zentrales Element, wie Doris Salcedo betont: „Ich möchte all diese Schönheit nehmen und sie dem Betrachter innerhalb einer Minute präsentieren. Und wenn der Betrachter diese Namen leuchten sieht und die ganze Schönheit die das Werk bieten kann wahrnimmt, dann verschwindet es. Es vergeht. Es ist etwas, das nicht von Dauer ist, weil die Person [hinter dem Namen] einen schrecklichen Tod starb.“
Der Künstlerin ist es auch wichtig, mit ihrer Arbeit an die desolaten Lebensbedingungen und insbesondere an den gewaltsamen Tod der Menschen zu erinnern, deren Namen bei „Palimpsest“ erscheinen: „Meine Arbeit entspringt dem Elend und ich denke, was Migranten erleben ist das Schlimmste. Es ist eine der härtesten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Es ist die Härte des Lebens, die Härte der Welt. Alles: Erpressung, Entführung, Vergewaltigung, Gewalt und dann das Ertrinken. Und all dies geschieht einem einzigen Menschen“, erklärt Salcedo im Video zur Ausstellung. Hinter jedem Namen steht immer auch ein Einzelschicksal. So war die jüngste Person, die in ihrem Werk vorkommt, erst 20 Jahre alt. Die älteste Person, deren Name genannt wird, war 46 Jahre alt. Sie alle sind viel zu jung gestorben.
„Diese Menschen sollten am Leben sein. Es gibt keinen Grund, warum sie sterben sollte. Sie waren gezwungen, an diesem Un-Ort, a diesem Grenzort zu sterben. Weder zu Hause noch angekommen, sondern in diesem gemeinsamen Grab, zu dem das Mittelmeer geworden ist.“
Doris Salcedo im Video-Interview zu „Palimpsest“ in der Fondation Beyeler
Eingeschriebene Namen
Doris Salcedo mahnt mit „Palimpsest“, über die Schicksale der ertrunkenen Flüchtlinge nachzudenken. Fünf Jahre lang hat die Künstlerin damit verbracht, die Namen der Menschen für ihre Arbeit zu recherchieren. Hierfür bat sie zunächst die Europäische Union nach einer Liste von Personen, die in den letzten 20 Jahren ertrunken sind. Diese wurde ihr jedoch verweigert. Dann begann sie mit ihrem Team in Zeitungen zu recherchieren und in Social Media nach Beiträgen von Familien zu suchen, die ihre Angehörigen bei der Flucht verloren haben. Durch einen Abgleich der Informationen konnten so 300 Namen von Ertrunkenen für „Palimpsest“ ausfindig gemacht werden. Die Menschen aus über 35 Ländern wurden für Salcedo durch diesen Prozess zu mehr als nur einem Namen. Sie erfuhr bei ihrer Recherche das Geschlecht, Alter, Beruf und weitere persönliche Informationen und löste sie für sich aus der Anonymität.
Bei „Palimpsest“ geht es daher zentral um den Tod und um die Visualisierung des Sterbens dieser 300 Menschen. Denn genau in dem Moment, wenn das Wasser im Boden verschwindet, ist es, als würde man den letzten Atemzug eines Menschen miterleben, betont Salcedo: „Wenn das Wasser kommt, ist es, als würde man das Leben sehen. Es ist, als würde etwas geboren werden. Als würde etwas vor deinen Augen erschaffen. Es gibt einen Moment der Aufregung, der Überraschung, des Staunens, wenn man das Leben sieht. Und dann sofort, in ein paar Minuten, wird das Ganze verschwinden.“ Dieser Moment ist für sie besonders bewegend, wie sie betont. Ihr Anliegen ist es, dass ihre Arbeit die Namen der Menschen sichtbar macht, die vernachlässigt und abgelehnt wurden.
„Wir sind alle Menschen, die zur gleichen Zeit leben, und wir sollten um sie alle trauern. Da wir nicht trauern, diese Menschen nicht beklagt werden, niemand hier über diese Verluste weint, dachte ich, dass die Erde selbst, der Boden, diese Namen weinen muss.“
Doris Salcedo im Video-Interview zu „Palimpsest“ in der Fondation Beyeler
Stimmen zu Krise, Flucht und Ankommen
Begleitend zu „Palimpsest“ erscheint bei der Fondation Beyeler der Podcast „Nah dran – Stimmen im Kontext von Krise, Flucht und Ankommen“. In Gesprächen mit der Journalistin Naomi Gregoris kommen hier Menschen zu Wort, die sich in unterschiedlichen Initiativen zu Flucht und Migration in der Region um Basel engagieren. So gibt etwa eine Patin des Basler Vereins PUMA einen Einblick in ihre Arbeit mit minderjährigen Asylsuchenden, eine Helferin von Be Aware and Share berichtet, wie sie ein soziokulturelles Zentrum für Geflüchtete in Griechenland aufgebaut hat, und eine Mitarbeiterin der Artas Foundation erzählt, wie sie Menschen in Krisengebieten kulturelles Leben und künstlerischen Ausdruck ermöglicht.
Alle Folgen des Podcasts können vor Ort an den Hörstationen im Wintergarten der Fondation Beyeler gehört werden, sie sind aber auch online verfügbar.
Doris Salcedo: Palimpsest
Fondation Beyeler
09.10.2022-17.09.2023
Vom 21. Mai bis 17. September 2023 zeigt die Fondation Beyeler zudem weitere Arbeiten von Doris Salcedo in einer großen Einzelausstellung.
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die Übernahme der Kosten der Reise.
Header-Bild: Angelika Schoder – Doris Salcedo: Palimpsest – Fondation Beyeler, 2022
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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