Verfallene Grabmale, Spinnweben-durchsetztes Unterholz und Moos-bewachsene Engel-Skulpturen: Historische Friedhöfe haben einen ganz eigenen Charme. Einer der wohl schönsten in ganz Europa befindet sich im Norden von London, der Highgate Cemetery, der sich in den älteren Westfriedhof und den neueren Ostfriedhof aufteilt. Inmitten des urbanen Trubels ist der 36 Hektar große Friedhof im Stadtteil Highgate eine grüne Oase, die mit rund 55.000 Grabstätten und außergewöhnlichen Bauwerken aus der Viktorianischen Ära einen Blick in die historische Vergangenheit und in die aktuelle Geschichte der britischen Hauptstadt ermöglicht.
Der Friedhof als Ort der Geschichte und Begegnung
Die historischen Friedhöfe in den Großstädten Europas sind meist nicht nur die letzten Ruhestätten bekannter Akteure aus Kunst, Politik und Wissenschaft. Sie sind oft auch selbst bedeutende Orte der Geschichte, denn hier zeigen sich Spuren von Kriegen, Epidemien und gesellschaftlichen Umbrüchen. Die Friedhöfe sind außerdem Orte, an denen sich auch Zeugnisse historischer Architektur- und Kunsthandwerks-Strömungen finden lassen, in Form von Grüften, Mausoleen und aufwändig gestalteten Grabmalen. Hier lassen sich diverse Baustile und künstlerische Entwicklungen entdecken, komprimiert an einem Ort. Insofern könnte man fast sagen, dass man auf historischen Friedhöfen nicht nur der Geschichte bekannter Persönlichkeiten begegnen kann, sondern hier auch auf das kulturelle Erbe einer Stadt trifft.
Ein solcher Ort der Geschichte ist der Londoner Highgate Cemetery. Der Friedhof ist ein wichtiger kultureller Treffpunkt der Stadt, mit einem breiten Angebot historischer Führungen, aber auch mit Lesungen oder Konzerten. Immer wieder dient der Friedhof außerdem auch als Kulisse für Dreharbeiten für TV-Serien, Filme und Musikvideos, oder als beliebter Schauplatz für Fotoshootings. So ist der Highgate Friedhof nicht nur ein Ort der Stille und Andacht, sondern wird auch zu einem Erlebnis- und Begegnungsort für Anwohner und Touristen. Jedes Jahr zieht es deshalb Tausende von Besuchern auf den Highgate Cemetery, der mittlerweile übrigens auch selbständig, ohne die Teilnahme an einer Führung, besucht werden kann.
Der Friedhof als Viktorianischer Ausflugsort
Bis ins 19. Jahrhundert fanden die meisten Begräbnisse in London auf den Kirchfriedhöfen statt, doch um 1820 gab es hier kaum noch Platz; zudem waren die hygienischen Zustände zunehmend nicht mehr hinnehmbar. Durch Ausbrüche von Cholera und Typhus musste schnell eine Alternative gefunden werden, um die zahlreichen Toten in London zu beerdigen. Zudem gab es zu dieser Zeit auch noch keine Orte, an denen Menschen beerdigt werden konnten, die nicht Anhänger der Church of England waren. Auch hierfür musste eine Lösung gefunden werden. Private Firmen versuchten deshalb Alternativen zu bieten, indem sie – nach dem Vorbild des Père La Chaise Friedhofs in Paris – Begräbnisstätten im Stil von Landschaftsgärten am Stadtrand von London anlegten. Diese sollten Menschen aller Glaubensrichtungen offen stehen und das Platzproblem für Bestattungen lösen.
In den 1830er und 40er Jahren entstanden acht solche Friedhöfe rund um London. Der Highgate Cemetery wurde 1839 eröffnet, als dritter Friedhof dieser Art. Betreiber war die London Cemetery Company, die den Friedhof als auf Gewinn-Erzielung ausgerichtetes Unternehmen führte. Mit der Planung wurde der Architekt Stephen Geary beauftragt, der nicht nur das Eingangsportal des Highgate Cemetery, sondern auch zahlreiche Mausoleen, aufwändige Skulpturen und kunstvoll gestaltete Grabstätten im neugotischen Stil entwarf. Der Friedhofsgesellschaft war es wichtig, das Gelände durch eine aufwändige Gartengestaltung und ansprechende Bauwerke zu einem Schauplatz des Londoner Wohlstands zu machen. Der Plan ging zunächst auf; schnell galt der Highgate Cemetery als Prestige-Begräbnisstätte, wo wohlhabende bürgerliche und adlige Familien ihre verstorbenen Angehörigen bestatteten.
Zunächst eröffnete 1839 der Westteil des Friedhofs auf einer Fläche von 17 Hektar. Hier befindet sich auch die von Stephen Geary entworfene Egyptian Avenue, ein Weg zwischen Katakomben, an dessen Anfang und Ende sich Eingangsportale befinden, die von ägyptisch-inspirierten Säulen gesäumt werden. Über diesen Weg gelangt man in den Lebanon Circle, ein Rondell mit neo-gotischen Steingrüften. Dahinter befinden sich die Terrace Catacombs. Sie sind verschlossen, können aber im Rahmen einer Führung besichtigt werden – und das war schon seit der Gründung des Friedhofs so. Bereits im 19. Jahrhundert war der Highgate Cemetery als Touristenattraktion geplant. Die Besucher sollten in der parkähnlichen Anlage spazieren, die Grabmale, Skulpturen und die Architektur bewundern und im Grünen dem Lärm und dem Schmutz der Großstadt entfliehen. Touristenführer und Ausflugs-Tipps in Zeitungen warben für einen Besuch des Friedhofs. Teilweise war die Nachfrage sogar so groß, dass der Besucherandrang reguliert werden musste.
Der Highgate Cemetery im Wandel der Zeit
Der Erfolg des Friedhofs wuchs weiter, als ab den 1850er Jahren Begräbnisse in zentral-London verboten wurden. Für die gestiegene Nachfrage nach Bestattungen wurden daraufhin weitere 19 Hektar Land angekauft; so konnte 1860 der Ostteil des Highgate Cemetery eröffnet werden. Um möglichst viele Grabstätten hier unterzubekommen, wurde dieser Teil des Friedhofs deutlich schlichter geplant als der Westteil. Aufwändig gestaltete Architektur oder weitläufige Waldabschnitte finden sich hier nicht. Bei der Planung des Geländes wurde sogar bereits berücksichtigt, diverse Wege im Laufe der Zeit mit Grabstätten zu füllen, sollte der Platz zu eng werden. In der Viktorianischen Zeit sah man es als unproblematisch an, über Gräber zu laufen, um sich über den Friedhof zu bewegen.
Ursprünglich wurden die Grabstellen auf dem Highgate Cemetery für eine unbegrenzte Zeit verkauft. Dadurch war aber absehbar, dass das Betreiben des Friedhofs irgendwann umprofitabel werden würde, denn es fehlte schließlich an Platz, um weitere Grabstellen zu verkaufen. Gleichzeitig stiegen aber die Kosten für den Unterhalt des West- und Ostfriedhofs immer weiter, je mehr Gräber hier angelegt wurden. Im Laufe des 20. Jahrhundert geriet der Friedhof deshalb in eine finanzielle Notlage; die Londoner Friedhofsgesellschaft brach schließlich aufgrund eines Finanz-Skandals zusammen. Infolge dessen verfielen zahlreiche Grabstätten, weil sie nicht mehr gepflegt wurden; Bäume und Sträucher begannen alles zu überwuchern und ohne Bewachung kam es zu Vandalismus.
Um den Friedhof in seiner historischen Substanz zu erhalten, wurde deshalb 1975 der Friends of Highgate Cemetery Trust gegründet, initiiert von einer Gruppe engagierter Freiwilliger, die sich der Erhaltung dieses historischen Ortes widmen. Sie sammelten Spenden für die Friedhofspflege und machten es schließlich möglich, dass der Friedhof nach einer Restaurierung wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte. Durch den Highgate Cemetery Act von 2022 ist es dem Trust sogar möglich, verlassene Grabstätten für neue Begräbnisse freizugeben. Der Highgate Cemetery wurde damit von einer Begräbnisstätte für wohlhabende Londoner im 19. Jahrhundert nun wieder zu einem aktiv genutzten Friedhof und auch zu einem lebendigen Ort für Besucher. Dazu tragen auch die regelmäßig stattfindenden Führungen bei, ebenso wie Konzerte, Lesungen und Ausstellungen. Die durch den Tourismus erzielten Einnahmen werden übrigens in die Pflege und Instandhaltung des Friedhofs investiert, wobei der Highgate Cemetery Trust einen Zustand des „romantischen Verfalls“ erhalten möchte. Das bedeutet, die mystische Atmosphäre einer leichten Verwilderung soll bewahrt werden, ohne einen zu starken Verfall zuzulassen.
Bekannte Persönlichkeiten und Sehenswürdigkeiten auf dem Highgate Cemetery
Eine der ungewöhnlichsten Geschichten, die sich über den Highgate Cemetery erzählt werden, rankt sich um das Grab der Künstlerin Elizabeth Siddal (1829-62). Es wurde von ihrem Witwer, dem Künstler und Dichter Dante Gabriel Rossetti, im Jahr 1869 wieder geöffnet, um einen mit ihr begrabenen Gedichtband zu exhumieren. Diese Aktion soll Bram Stoker angeblich als Inspiration zu seinem Roman „Dracula“ (1897) gedient haben, und zwar für die Szene, in der die Gruppe der Vampirjäger das Grab von Lucy Westenra aufsucht. Neben Siddal begraben ist zudem die Dichterin Christina Rossetti (1830-94), die unter anderem das Buch „Goblin Market“ veröffentlichte, das für seine präraffaelitischen Illustrationen bekannt ist.
Auf dem Westfriedhof befinden sich auch zahlreiche außergewöhnliche Mausoleen, etwa das des deutschstämmigen Finanziers Julius Beer (1836-80), das der Inhaber der Zeitung The Observer für seine verstorbene 8-jährige Tochter in einer Mischung aus italienischem Stil und gotischen Elementen erbauen ließ. Sehenswert ist auch das Hartley Mausoleum (1848) im ägyptischen Stil oder das Cheylesmore Mausoleum, das von den amerikanischen Architekten Carrère und Hastings entworfen wurde, von denen auch das Gebäude der New York Public Library stammt.
Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die auf dem Westfriedhof begraben sind, gehören unter anderem der Wissenschaftler Michael Faraday (1791-1867), nach dem der Faraday-Käfig benannt wurde, oder der ehemalige russische Agent Alexander Litvinenko, dessen Tod 2006 durch eine Vergiftung mit Polonium-210 in London international für Aufsehen sorgte. Eine der neuesten Begräbnisstätten auf diesem Teil des Friedhofs ist außerdem das Grab des Sängers George Michael (1963-2016), der vor allem als Mitglied der Band Wham! mit seinem Song „Last Christmas“ bis heute allgegenwärtig ist.
Auf dem Ostfriedhof sind außerdem Persönlichkeiten wie Douglas Adams (1952-2001) begraben, der Autor von „Per Anhalter durch die Galaxis“; der Pop-Art Künstler Patrick Caulfield (1936-2005), die Autorin Mary Ann Evans, die als George Eliot unter anderem das Buch „Middlemarch“ veröffentlichte; der Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012); der Schriftsteller Carl Mayer (1894-1944), Co-Autor des Drehbuchs zum Film „Das Kabinett des Dr Caligari“; und natürlich der Gesellschafts- und Kapitalismuskritiker Karl Marx, dessen Grab bis heute Pilgerstätte für die Anhänger seiner Schriften ist.
Nicht direkt auf dem Friedhof, sondern in der St Michael’s Church dahinter, befindet sich in der Krypta außerdem das Grab des Dichters Samuel Taylor Coleridge (1772-1834), der Autor von Gedichten wie „The Rime of the Ancient Mariner“ oder „Kubla Khan“. In der Kirche selbst ist im Mittelgang zudem eine Schieferplatte zum Gedenken an ihn und seine Familie zu finden, mit Gedenkworten, die der Autor selbst vor seinem Tod schrieb. Das ursprüngliche Grab von Coleridge befand sich eigentlich direkt auf dem Friedhof, doch nachdem die Coleridge-Gruft verfiel, wurden am 6. Juni 1961 die Überreste umgebettet und in der Krypta von St. Michael’s beigesetzt.
„Stop Christian passer by! Stop Child of God.
Inschrift von Samuel Taylor Coleridge auf der Bodenplatte in der St Michael’s Church
And read with gentle breast. Beneath this sod
A poet lies, or that which once seem’d he
O, lift one thought in prayer for S.T.C.:
That he who many a year with toil of breath
Found death in life, may here find life in death!
Mercy for praise-to be forgiven for fame
He ask’d, and hoped, through Christ.
Do though the same!“
Der Highgate Cemetery als Filmkulisse
Mit seinen Bauwerken aus der Viktorianischen Ära und der mystischen Atmosphäre mit halb verfallenen Mausoleen und Grabstätten ist der Highgate Cemetery einer der beliebtesten Drehorte Londons. Bereits 1945 entstand hier der Horror-Klassiker „The Body Snatcher“, basierend auf einer Geschichte von Robert Louis Stevenson. Mit den Kult-Stars Boris Karloff und Bela Lugosi in den Hauptrollen erzählt der Film die düstere Geschichte eines Leichenräubers im Viktorianischen Edinburgh, wobei die Friedhofsszenen in London statt in Schottland gedreht wurden.
Dass der Friedhof wie gemacht ist für den Dreh von Horrorfilmen, zeigt auch der Hammer-Horror-Klassiker „Taste the Blood of Dracula“ von 1970 mit Ober-Vampir Christopher Lee in der Hauptrolle. Im gleichen Jahr wurde auf dem Friedhof der Film „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“ mit Richard Chamberlain gedreht, ein biografisches Drama über das Leben des russischen Komponisten Peter Tschaikowsky. Der Highgate Cemetery diente hier als Drehort für die Beerdigungsszene von Tschaikowskys Mutter. Auch der Regisseur Alfred Hitchcock nutzte die Kulisse des Friedhofs 1972 für seinen Film „Frenzy“, der die Geschichte eines Londoner Serienmörders erzählt.
Im 21. Jahrhundert war der Highgate Cemetery bereits Schauplatz diverser Hollywood-Blockbuster, etwa im Film „From Hell“, eine Verfilmung der gleichnamigen Graphic Novel von Alan Moore und Eddie Campbell aus dem Jahr 2001, in der ein Inspektor die Mordfälle von Jack the Ripper im Viktorianische London untersucht. Im Jahr 2006 wurden auf dem Friedhof außerdem Szenen des Neo-Vampirfilms „Underworld: Evolution“ gedreht und 2009 entstanden hier Aufnahmen für den Film „Das Bildnis des Dorian Gray“. Bis heute dient der Friedhof als atmosphärische Kulisse für Filme, TV-Serien oder als Inspiration für Doom-Metal Bands wie Green Lung, die sich in ihrem Song „Graveyard Sun“ (2021, Black Harvest) auf den Highgate Cemetery beziehen.
Highgate Cemetery
Swain’s Ln
London N6 6PJ
St Michael’s Church
South Grove
London N6 6BJ
Bilder: Angelika Schoder – Highgate Cemetery, London 2023
Wir brauchen deine Unterstützung
Werde jetzt Mitglied im musermeku Freundeskreis: Erhalte wöchentlich News zu Kunst und Kultur direkt per E-Mail, sichere dir den Zugang zu exklusiven Inhalten und hilf uns dabei, unsere Betriebskosten für musermeku.org zu decken.
Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Linktipps
Der Newsletter zu Kunst & Kultur
In unserem kostenlosen Newsletter informieren wir einmal im Monat über aktuelle Neuigkeiten aus dem Kunst- und Kulturbereich.