0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung in der Fondation Beyeler

Die Fondation Beyeler unternimmt den Versuch einer kritischen Rekonstruktion von „0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“.

Die Fondation Beyeler unternimmt den Versuch einer kritischen Rekonstruktion von "0,10 - Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei".

[Pressereise] Es war eine Gruppenausstellung mit programmatischem Charakter, die nicht nur Zeitgenossen der Künstlerszene in Russland beeinflusste, sondern auch international und über Generationen hinweg nachwirkte: „Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei 0,10“. Vom 19. Dezember 1915 bis zum 19. Januar 1916 wurden in Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, mutmaßlich 154 Werke von 14 Künstlern gezeigt, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, sich von westeuropäischen Einflüssen abzuwenden, um eigene künstlerische Stile zu entwickeln. Unter dem Titel „Auf der Suche nach 0,10“ greift die Fondation Beyeler diese historische Ausstellung nun als „Versuch einer kritischen Rekonstruktion“ wieder auf, pünktlich zum 100. Jubiläum der Ausstellung.


Mehr Interpretation als Rekonstruktion

Das Interesse der Fondation Beyeler an der historischen Ausstellung kommt nicht von ungefähr. Zahlreiche Werke aus der Sammlung der Fondation Beyeler zeigen sich als Weiterentwicklung der nicht-gegenständlichen Kunst, die auf Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch zurückgeht. Malewitschs „Suprematistische Komposition“ von 1915 gilt als Schlüsselwerk dieses neuen Stils – zugleich ist es eines der letzten Werke, das von Ernst Beyeler erworben wurde. [1]

Die aktuelle Ausstellung in der Fondation Beyeler, deren Planung und Konzeption sich über 3 Jahre hinzog, setzt sich mit den Ideen und Konzepten der Künstler um „0,10“ auseinander, ohne jedoch den tatsächlichen Umfang der historischen Ausstellung oder deren Arrangement zu rekonstruieren. Zum ursprünglichen Konzept gehörte etwa nicht nur eine Petersburger Hängung der Werke, sondern auch das ergänzende Plakatieren der Wände mit Manifesten und Proklamationen. Letztere werden in der Fondation Beyeler zum Teil in Vitrinen zu Beginn der Ausstellung gezeigt. Hier kann sich der Besucher anhand von Wandbeschriftungen auch über die an „0,10“ beteiligten 14 Künstler informieren, zu denen immerhin 7 Frauen zählten.


Ein Schätzwert der Forschung

Abgesehen von der zum historischen Vorbild abweichenden Präsentation der Werke, die in der Fondation Beyeler in gewohnt puristischer Form in einem White Cube Setting gezeigt werden, wäre auch eine dem Umfang nach genaue Rekonstruktion der ursprünglichen Ausstellung nicht möglich gewesen. Zwar existiert ein Ausstellungskatalog von 1915, der auch Teil der aktuellen Schau in der Fondation Beyeler ist, doch die genaue Zahl der Werke kann anhand dessen nicht ermittelt werden. Tatsächlich wurde der gedruckte Katalog sowie andere Schriftstücke hierzu im Nachhinein handschriftlich ergänzt, zudem wurden wohl in Briefen und Anekdoten weitere Werke der Ausstellung erwähnt.

Insofern ist die Angabe von 154 Werken nur ein Schätzwert der aktuellen Forschung.[2] Letztendlich ließen sich die ursprünglich gezeigten Gemälde und Objekte auch deshalb nicht mehr in einer Ausstellung vereinen, da vieles seinerzeit ohne Titel gezeigt wurde bzw. im Nachhinein von den Künstlern oder späteren Besitzern umbenannt wurde. Auch das Fehlen von Abbildungen im Ausstellungskatalog und schließlich die Ungewissheit über den Verbleib einiger Werke machten eine 1:1 Rekonstruktion für die Fondation Beyeler unmöglich. [3]


Das Rätsel um 0,10

Die Bedeutung des Titels der Ausstellung, der die Zahlenkombination „0,10“ aufgreift, ist bis heute übrigens reine Mutmaßung. Meist wird die Interpretation des russischen Historikers Jewgeni Kowtun zitiert, der davon ausgeht, dass sich die 0 auf den Titel einer Zeitschrift bezieht, die der Mitinitiator der Ausstellung Kasimir Malewitsch plante. Die Null, so wird angenommen, spiegele den Wunsch des Künstlers wieder, dass erst alles auf das Nichts reduziert werden müsse, bevor in der Kunst Neues geschaffen werden könne.

Die 10 nach dem Komma beziehe sich, so Kowtun, schließlich auf die Anzahl der Künstler, die sich an der Vorgängerausstellung „Die erste futuristische Ausstellung der Malerei Tramwaj W“ im März 1915 beteiligt hatten, und die auch an der Folgeausstellung teilnehmen sollten. (Auch wenn letztendlich nur 8 der 10 Künstler teilnahmen und sich die Gesamtanzahl schließlich auf insgesamt 14 Teilnehmer erhöht hatte.) Was das Komma angeht, identifiziert der Kurator der Ausstellung der Fondation Beyeler, Matthew Drutt, dieses als Zeichen für Unendlichkeit – ein Konzept, das Malewitsch in Zusammenhang mit seinen Ideen über Null und Suprematismus wohl häufiger diskutiert hatte.[4]


Die Struktur der Ausstellung

Für die Ausstellung „Auf der Suche nach 0,10“ entschied sich die Fondation Beyeler bei den mehr oder weniger „fraktionslosen Künstlern“ zu beginnen, die weder streng zu den Moskowitern noch zu den Petrogradern zählten. Die Ausstellung setzt sich fort mit den erklärten Suprematisten, wobei die beiden Hauptfiguren der künstlerischen Splittergruppen, Wladimir Tatlin und Kasimir Malewitsch, einander gegenübergestellt werden. Schließlich wird die Ausstellung mit den sogenannten „Professionellen Malern“ abgeschlossen. Alles in allem ist die Ausstellung in der Fondation Beyeler schätzungsweise nur etwa ein Drittel so groß wie das historische Vorbild von 1915.

Neben Werken, die der Ausstellung von 1915 zugeschrieben werden, zeigt die Fondation Beyeler auch Fotografien der ursprünglichen Ausstellung, etwa eine Aufnahme aus einem Raum, in dem Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ gemeinsam mit weiteren suprematistischen Bildern zu sehen ist. Teilweise werden die Originalfotografien auch den Werken unmittelbar gegenübergestellt, wie im Fall von Wladimir Tatlins Installation „Eck-Konterrelief“ (1914), das heute nicht mehr vollständig erhalten ist und deshalb teilweise rekonstruiert werden musste.


Die Erben von 0,10 – „Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“

Ergänzend zur Ausstellung „Auf der Suche nach 0,10“ zeigt die Fondation Beyeler unter dem Titel „Black Sun“ Werke von 36 Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts, die von der russischen Avantgarde beeinflusst wurden. Als konzeptioneller Ausgangspunkt dient Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ und dessen Nicht-Farbe Schwarz. Gezeigt wird hierzu eine Vielfalt an Werken, beginnend bei Bildern von Pionieren der gegenstandslosen Malerei, wie Wassily Kandinsky und Piet Mondrian, bis hin zu einer Lichtinstallation von Olafur Eliasson („Remagine (Large Version)“) im Untergeschoss des Museums oder der Skulpturengruppe „Ten Elements“ von Tony Smith im Park der Fondation Beyeler. Die Ausstellung erstreckt sich durch eine Plakataktion von Santiago Sierra sogar weit über die Genzen des Museumsgeländes hinaus, denn seine „4000 Black Posters“ sind in und um ganz Basel präsent.


Das Schwarze Quadrat digital: Der Anti-Selfie Club

Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ und seine Variationen werden von der Fondation Beyeler nicht nur in der Ausstellung präsentiert, sondern auch im digitalen Raum. Als „Bildstörer“ werden Malewitschs geometrische Formen etwa im „Anti-Selfie Club“ eingesetzt, einer Mikrosite, die vom Museum als Ergänzung zur Ausstellung „Black Sun“ angeboten wird. Hier verwandelt sich das Selfie, das oft auf Armlänge oder im Spiegel von sich selbst gemachte Foto, in ein Anti-Selfie – dank geometrischen Formen, die sich ins Bild drängen.

Selfie-Fans und Selfie-Verweigerer gleichermaßen werden hier online zum Experimentieren und Interagieren eingeladen – am Ende winkt die Mitgliedschaft im Anti-Selfie Club. Der Club versammelt Selbstbildnisse mit Quadraten, Kreisen, Kreuzen und anderen Formen vor den Gesichtern der abgebildeten Personen. Die schwarzen geometrischen Figuren verweisen dabei auf Kasimir Malewitsch (1878 – 1935), den Inspirationsgeber der Ausstellung „Black Sun“.


Ein Selfie ohne Smartphone

Wer Mitglied im Anti-Selfie Club werden möchte, hat es – ganz im Sinne des Anti-Selfies – nicht leicht, denn das gängige Medium, um Selfies aufzuzeichnen, wird von vornherein nicht zugelassen. Wer die Seite antiselfie.club mit dem Smartphone aufruft, kann zwar die Galerie bereits angefertigter Bilder betrachten, doch wer mit dem Handy selbst ein Bild anfertigen möchte, hat Pech. Der Bildschirm verkündet: „Bitte benutzen Sie einen PC oder Laptop mit einer Webcam, um ein Anti-Selfie zu machen“. Mal eben ein Anti-Selfie von unterwegs, posierend vor dem Spiegel oder sogar noch mit Selfie-Stick ist demnach unmöglich bzw. dürfte mit dem PC oder Laptop schwierig werden. Allein schon durch diese technische Restriktion wird dem Nutzer verdeutlicht: Ein Anti-Selfie hat nichts mit dem herkömmlichen Selfie gemeinsam.

Kein Anti-Selfie ohne Webcam, soviel ist klar – doch auch der Browser muss am Ende stimmen. Das System arbeitet nur via Google Chrome oder Firefox. Wer dies berücksichtigt, kann schließlich loslegen und sich dem Photobombing der geometrischen Formen aussetzen. Mehrere Personen können gleichzeitig mit dem System interagieren – jeder erhält eine andere Form vor sein Gesicht platziert: ein Quadrat, einen Kreis, ein Kreuz usw. Bewegt man sich vor der Webcam, bewegen sich auch die Formen vor den Gesichtern. Eine Verfolgungsjagd beginnt, vor der es kein Entkommen gibt – außer man verdeckt das Gesicht (z.B. mit der Hand), denn dann verschwindet auch die Form.

Doch dann fertigt das Programm auch kein Anti-Selfie an und man wird zu einem neuen Versuch aufgefordert. Man platziert sein Gesicht also vor der Webcam, nimmt eine Pose ein – und wartet auf den Photobomb-Effekt der geometrischen Selfie-Störer. Wer schließlich mit dem Motiv auf dem Bildschirm zufrieden ist, betätigt den Auslöser – ein Timecode zählt von 3 rückwärts, dann wird der Schnappschuss erstellt. Nun kann das Bild gepostet werden und man wird Mitglied im Anti-Selfie Club.


Welche Technik steckt dahinter?

Der Anti-Selfie Club macht nicht nur neugierig auf das Konzept, sondern auch auf die Technik, die sich dahinter verbirgt. Die Fondation Beyeler und die Agentur Moniker haben uns hierzu die wichtigsten Fragen in einem kurzen Interview beantwortet:

Woher kam die Idee, Malewitschs zentrale Formen mit dem Thema Selfie zu einem Anti-Selfie zu kombinieren?

Fondation Beyeler: „Vor 100 Jahren präsentierte Kasimir Malewitsch im Rahmen der Ausstellung ‚Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei 0,10‘ 1915 in Petrograd sein ikonisches Gemälde ‚Schwarzes Quadrat‘. Zum ersten Mal realisierte ein Künstler ein Gemälde, das nichts darstellen wollte. „Schwarzes Quadrat“ gilt als ‚Nullpunkt der Malerei‘, verursachte 1915 einen Skandal und machte Suprematismus schlagartig bekannt. Die Provokation bestand auch darin, dass Malewitsch das Gemälde im sogenannten Gotteswinkel präsentierte, der ‚roten‘ oder ’schönen Ecke‘ des Raumes, die in der russischen Kultur den heiligen Ikonen vorbehalten war.

Der Anti-Selfie Club nimmt auf die allgegenwärtige Selbstdarstellung mittels Selfie auf Social Media Bezug und verhüllt zugleich das, was allen in unserer Zeit am heiligsten zu sein scheint: das eigene Bild. Die Ideeentwicklung des Anti-Selfie Clubs geschah in enger Zusammenarbeit mit dem interaktiven Design Studio Moniker in Amsterdam, das mit seinen Projekten unter anderem die sozialen Folgen von Technologie untersucht.“

Wo verortet ihr die entstehenden Anti-Selfies im Bezug zum Selfie-Trend in den Sozialen Medien?

Fondation Beyeler: „Das Selfie wird von unserer Gesellschaft als logische Entwicklung unserer Zeit online verstanden, in der wir versuchen, der Anonymität, die das Internet unterbreitet, zu entkommen. Das Anti-Selfie nimmt sich dessen auf ironische Weise an, indem dieser Drang nach Selbstdarstellung wieder anonymisiert wird. Das Interessante dabei ist, dass dennoch viele Anti-Selfie Club Members aktiv versuchen, den anonymisierenden Formen auszuweichen. Es wird zu ihrer Entscheidung, ob die User sich zu erkennen geben wollen oder nicht und die Frage offen lassen, ob wir bereit sind, dem Selfie-Trend zu widerstehen.“

Wie erfolgte die technische Umsetzung von antiselfie.club?

Moniker: „Browser sind für die Zwecke der Microsite des Anti-Selfie Clubs zu langsam, weshalb wir auf der Suche nach einer geeigneten Programmbibliothek auf die JavaScript-Bibliothek «jsfeat», die von Eugene Zatepyakin entwickelt wurde, stießen. Es ist ein äußerst optimierter Code von einem sehr talentierten Entwickler, der unsere Idee überhaupt umsetzbar machte. Ohne ein Demo seiner Bibliothek hätten wir niemals diese Idee vorgeschlagen. Dass es auf dem Smartphone nicht funktioniert, liegt daran, dass Apple die mobile Kamera für Webseiten nicht öffnet.“

Vielen Dank!


Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei

Fondation Beyeler
04.10.2015-10.01.2016

musermeku dankt Art & Design Museums Basel für die Einladung zum Besuch des Museums und für die Übernahme der Kosten der Reise.


Header-Bild: Angelika Schoder – Fondation Beyeler, 2015


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Angelika Schoder

Über die Autorin

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Sam Keller, Matthew Drutt: Vorwort und Dank, In: Matthew Drutt (Hg.): Auf der Suche nach 0,10. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei, Fondation Beyeler 2015, S. 9

[2] Matthew Drutt: Auf der Suche nach 0,10, In: Ebd., S. 16 und 41

[3] Ebd., S. 16

[4] Ebd., S. 18ff


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