Verknotung der Zeit: Ein Blick auf die Spanische Moderne

Die Ausstellung „Anudar el Tiempo“ in Valladolid gibt einen Überblick über die Spanische Moderne und rückt dabei die Sammlung des Kunsthistorikers Rafael Santos Torroella in den Fokus.

Eine Ausstellung zur Sammlung des Kunstkritikers Rafael Santos Torroella gibt einen Überblick über die Spanische Moderne.

[Ausstellung] Die Spanische Moderne brachte nicht nur einige der wichtigsten Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts hervor, etwa Salvador Dalí, Joan Miró oder Pablo Picasso. Sie blickt auch auf eine wechselvolle Geschichte zurück, von der Avantgarde während des Ersten Weltkriegs, über die Entwicklung des Surrealismus in den 1930er Jahren bis hin zur Zäsur im Spanischen Bürgerkrieg und einer Wiederbelebung in der Nachkriegszeit. Mit der Ausstellung „Anudar el Tiempo“ (Verknotung der Zeit) rückt das Museo Patio Herreriano in Valladolid nun die Spanische Moderne in den Mittelpunkt. Ausgangspunkt der Ausstellung sind dabei die umfangreiche Kunstsammlung sowie die Archivbibliothek des Kritikers und Kunsthistorikers Rafael Santos Torroella – einem der wichtigsten Begleiter der Avantgarde in Spanien.


Kritiker, Kunsthistoriker, Manager, Sammler

Rafael Santos Torroella (1914-2002) sah sich selbst in erster Linie als Autor und publizierte zahlreiche Bücher und Texte auf Spanisch und Katalanisch. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller war die Kunst seine zweite große Leidenschaft, wobei er sich ihr aus unterschiedlichen Perspektiven näherte – als Kunsthistoriker, als Kunstkritiker, als Kulturmanager und schließlich auch als Kunstsammler. In seiner Forschung befasste sich Santos Torroella vor allem mit Salvador Dalí in der Zeit der Residencia de Estudiantes. Hier leistete er Pionierarbeit, da er Dalís Werk nicht nur erstmals aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse betrachtete, sondern auch die künstlerische Beziehung des Malers zu dem Dichter Federico García Lorca untersuchte.

Als Kulturmanager förderte Santos Torroella vor allem in der Nachkriegszeit die Avantgarde-Kultur in Spanien, um die Spanische Moderne wieder zu beleben und international weiter bekannt zu machen, unter anderem mit dem Cobalto-Verlag und der dazu gehörenden Vereinigung (1947-1953), mit der Altamira-Schule (1949-50), bei der Mailänder Triennale (1951), bei Poesie-Kongressen (1952-1954) und im Rahmen der Hispano-Amerikanischen Kunstbiennalen (1951, 1954 und 1955). Auch als Dozent war Santos Torroella tätig, etwa an der Schule der Schönen Künste San Jorge in Barcelona, und schließlich schuf er auch selbst zahlreiche Zeichnungen und Aquarelle. All diese Tätigkeiten vernetzten ihn ausgezeichnet in den Künstlerkreisen, was schließlich zum Ausgangspunkt für seine umfangreiche Sammlung zur Spanischen Moderne wurde, in die das Museo Patio Herreriano mit der Ausstellung „Verknotung der Zeit“ nun einen Einblick gewährt.


Avantgarde, Moderne und Klassizismus

Die Ausstellung widmet sich zunächst der Zeit des Ersten Weltkriegs, als Spanien durch seine Neutralität zu einem Rückzugsort für Kunstschaffende der europäischen Avantgarde wurde. Persönlichkeiten wie Albert Gleizes, Francis Picabia, Sonia und Robert Delaunay und viele andere belebten die spanische Kulturszene. In Barcelona nutzte der Kunsthändler Josep Dalmau die Situation, um wegweisende Ausstellungen zu organisieren, darunter die ersten kubistischen Ausstellungen Spaniens (1912) und Einzelausstellungen von Joan Miró (1918) und Salvador Dalí (1925). Er unterstützte innovative Publikationen, etwa von Francis Picabias, und förderte Künstler aus Lateinamerika, wie Joaquín Torres García und Rafael Barradas, die den kulturellen Austausch zwischen Spanien und Uruguay anregten. In Madrid beeinflussten diese Impulse die Ultraisten-Bewegung um Schriftsteller wie Rafael Cansinos Assens oder die Brüder Jorge Luis und Norah Borges. So entstand eine kulturelle Dynamik, die die Grundlage für Spaniens Avantgarde-Bewegung legte.

Neben den avantgardistischen Strömungen lebte die Bewegung des Noucentisme auf, die mediterrane und klassische Werte in den Fokus rückte. Künstler wie Joaquim Sunyer oder Joaquín Torres García verbanden Klassizismus mit post-kubistischen und impressionistischen Einflüssen. In den 1920er Jahren entwickelte sich diese figurative Tradition durch Gruppen wie Els Evolucionistes (1917) und Agrupació Courbet (1918) weiter, die Cézannismus und Postkubismus miteinander verbanden. Zur gleichen Zeit brachte die 1925 von Manuel Abril gegründete Sociedad de Artistas Ibéricos (SAI) in Madrid Künstler wie Francisco Bores, Salvador Dalí und Maruja Mallo zusammen, die sich mit dem postkubistischen Klassizismus und der École de Paris auseinandersetzten. Diese Verschmelzung von Moderne und Tradition in Spanien war in der europäischen Kunstlandschaft einzigartig.


Dalí, Lorca und der Surrealismus

Im zweiten Abschnitt widmet sich die Ausstellung der Residencia de Estudiantes, einem kulturellen Zentrum in Madrid. Hier lebten Salvador Dalí, Federico García Lorca und Luis Buñuel in den 1920er-Jahren, was zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit führte. Dalí und Lorca entwickelten in Gedichten, Manifesten und Karikaturen eine eigene Ästhetik, die Dadaismus, Futurismus und Purismus vereinte. Dalís spätere surrealistische Werke und seine Zusammenarbeit mit Buñuel an Filmen wie „Un chien andalou“ (Ein andalusischer Hund, 1929) fanden hier ihren Ursprung. Diese kreative Dynamik spiegelte sich auch in avantgardistischen Ausstellungen in Barcelona wider, etwa Dalís Debüt im Sala Dalmau.

Ab den späten 1920er-Jahren entwickelte sich der Surrealismus in Spanien, angeführt von Künstlern wie Joan Miró und Salvador Dalí. Die 1932 gegründete Gruppierung ADLAN (Amics de l’Art Nou) förderte Avantgarde-Kunst mit Ausstellungen von Miró, Dalí und internationalen Künstlern wie Alexander Calder und Man Ray. ADLAN war eng mit surrealistischen Gruppen aus anderen Regionen vernetzt, wie der Gaceta de Arte auf Teneriffa. Auch Kunstschaffende wie Ángeles Santos und Maruja Mallo wurden über diese Netzwerke gefördert. Diese Phase markierte den Höhepunkt des Surrealismus in Spanien vor dem Bürgerkrieg.


Neuanfänge in der Nachkriegszeit

Der nächste Ausstellungsabschnitt konzentriert sich auf die Initiative Cobalto 49 (1949), die nach dem Bürgerkrieg wichtige Impulse zur Wiederbelebung der Spanischen Moderne setzte. Die von Josep Maria Junoy und Rafael Santos Torroella gegründete Vereinigung organisierte Ausstellungen, Konzerte und Publikationen. Daneben wird in der Ausstellung die Altamira-Schule betrachtet, benannt nach den Höhlen von Altamira. Die prähistorischen Höhlenmalereien dienten der Schule als Vorbild für Werke, die expressionistische und primitivistische Tendenzen miteinander kombinierten. Im Rahmen der Altamira-Schule fanden 1949 und 1950 eine Reihe von Treffen in Santillana del Mar statt. Führende Akteure aus Kunst und Literatur nahmen daran teil, darunter Enrique Lafuente Ferrari, Luis Rosales, Alberto Sartoris oder Willy Baumeister. Im Rahmen dieser Treffen fanden Vorträge, Debatten, Ausstellungen und Lesungen statt, die später in Monografien oder in der Zeitschrift Bisonte (1949) zusammengefasst wurden.

Eine weitere wichtige Plattform für die Spanische Moderne war die 9. Mailänder Triennale von 1951, bei der entsprechende Werke erstmals im Ausland zu sehen waren. Unter dem Motto des Dialogs zwischen dem Volk und der Avantgarde verband der von José Antonio Coderch unter der künstlerischen Beratung von Rafael Santos Torroella entworfene Pavillon die von Antonio Gaudí inspirierte mediterrane Volksarchitektur mit traditionellem und modernem Kunsthandwerk. Ausgestellt wurden hier unter anderem Werke von Joan Miró, Skulpturen von Ángel Ferrant, Eudald Serra, Carlos Ferreira und Jorge Oteiza. Das Design des Pavillons wurde mit dem Großen Preis der Biennale ausgezeichnet, während Ferrant die Goldmedaille für Skulptur, Cumella für Keramik und Oteiza das Ehrendiplom erhielt. Diese internationale Anerkennung für die Spanische Moderne trug zu einem Kurswechsel in der Kulturpolitik Francos bei, der den Weg für die spanisch-amerikanischen Kunstbiennalen ebnete.


Die Spanische Moderne in den 1950er und 60er Jahren

Insbesondere die Hispano-Amerikanischen Biennalen der 1950er-Jahre dienten dem Franco-Regime als Instrument, um ein Bild der Modernität zu vermitteln. Während die erste Biennale in Madrid (1951) noch einen klassizistischen Schwerpunkt hatten, stand bei der letzten Biennale in Barcelona (1955) die Avantgarde im Mittelpunkt. Diese Biennalen zeigten die Vielfalt der Spanischen Moderne, mit innovativen Künstlern wie Eduardo Chillida und Antoni Tàpies, und halfen, die spanische Kunst wieder mit Tendenzen der internationalen Szene zu vernetzen.

Dass Franco die Biennalen als internationale Propaganda-Aktionen nutzte, um die Isolation des Regimes zu überwinden, rief allerdings in Künstlerkreisen auch starken Widerstand hervor, insbesondere in den Exilkreisen in Frankreich, Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern. Es entstanden Gegen- oder Anti-Biennalen, wie die von Picasso geförderte „Exposition Hispano-Americaine“ (1951) in Paris, an der Kunstschaffende der École de Paris und andere ibero-amerikanische Künstler teilnahmen, die Contra-Biennale von Caracas (1951), an der vor allem Kunstschaffende aus Venezuela teilnahmen, und die „Exposición Conjunta de Artistas Plásticos Mexicanos y Residentes“ in Mexico City (1952). Durch diese Vernetzungen kehrten viele Exilkünstler wie Antoni Clavé und Rafael Alberti in den 1960er-Jahren wieder nach Spanien zurück und bereicherten hier die Kunstszene. Ihre Werke spiegelten die Nostalgie des Exils und die Auseinandersetzung mit der spanischen Tradition wider.

Im letzten Ausstellungsabschnitt geht es um die neue Künstlergeneration der Spanischen Moderne, die in den 1960er-Jahren entstand. Künstler wie Francec Artigau und Eduardo Arranz-Bravo balancierten zwischen Abstraktion und Figuration und wagten damit neue Ausdrucksformen. Gruppen wie Equipo Crónica repräsentierten dem gegenüber die kritische Pop Art und zeigten ihre Werke, eine Synthese aus Pop und Abstraktion, etwa in Madrid in der Ausstellung „Nueva Generación“ (1967). Diese Entwicklungen markierten den Beginn eines neuen Kapitels, das die Kunst Spaniens nachhaltig prägte.


Anudar el Tiempo. El fondo Rafael y María Teresa Santos Torroella

08.11.2024-27.04.2025
Patio Herreriano. Museo de Arte Contemporáneo Español
Valladolid, Spanien


Header-Bild: Angelika Schoder – Anudar el Tiempo, Museo Patio Herreriano, Valladolid 2024


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Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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