[Pressereise] Die Kunstwerke des Schweizer Künstlers Jean Tinguely scheppern und rumpeln. Manchmal quietschen und schnaufen seine kinetischen Skulpturen auch. Und wieder andere klappern und surren. Mit seinen Arbeiten dekonstruierte der Bildhauer das Verhältnis von Mensch und Maschine und hinterfragte die daraus resultierenden Abhängigkeiten, von denen unsere Gesellschaft heute geprägt ist. Mit der Ausstellung „Jean Tinguely: La roue = c’est tout“ nimmt das Museum Tinguely in Basel nun das Frühwerk des Künstlers in den Blick, beleuchtet seine Aktionen und Kollaborationen der 1960er Jahre und betrachtet auch sein musikalisches, monumentales und düsteres Spätwerk. Die aktuelle Sammlungspräsentation, die erstmals seit der Gründung des Museums im Jahr 1996 wieder in der großen Halle des Hauses gezeigt wird, bietet dabei auch einige Möglichkeiten zum Mitmachen und Ausprobieren.
„Das Rad ‚der Anfang von allem‘ – totale Mobilität, Wahnsinn, Geschwindigkeit, industrielle Quantität“.
Jean Tinguely, 1966
Rund ums Rad
Mit 130 Skulpturen, etwa 2.000 Arbeiten auf Papier und einem umfangreichen Archiv aus Fotos, Filmen und Dokumenten zählt das Museum Tinguely weltweit zu den wichtigsten Institutionen im Bereich der kinetischen Kunst. Neben regelmäßigen Sonderausstellungen zu moderner und zeitgenössischer Kunst ist rund die Hälfte der Ausstellungsfläche dauerhaft für die Sammlungspräsentation zum Werk von Jean Tinguely (1925-1991) reserviert. Alle zwei Jahre wird diese neu konzipiert, wobei seit Februar 2023 nun erstmals wieder die große Museumshalle als Schauplatz für Jean Tinguelys Arbeiten genutzt wird. Seine Aussage „La roue = c’est tout“, die als Titel für die Ausstellung dient, bezieht sich dabei auch gleichzeitig auf das verbindende Motiv, das sich durch die insgesamt dreizehn Ausstellungsabschnitte zieht: das Rad. Es findet sich in zahlreichen Werken des Künstlers wieder, kam als Element in Aktionen und Installationen zum Einsatz und steht auch für die Überzeugung des Künstlers, dass der andauernde Wandel der Zeit in der Kunst Ausdruck finden müsse, so Kurator Roland Wetzel.
Die Ausstellung zeigt Tinguelys vielfältige Interessen und künstlerische Ansätze: Neben seiner Begeisterung für Kinetik und Bewegung ging es bei ihm auch immer wieder um das Element des Zufalls, um das Erschaffen und Zerstören, um Leben und Tod, aber auch um das Theatrale und Performative, um das Musikalische und auch um das Politische. Als gut vernetzter Künstler beeinflusste er zudem viele und wurde beeinflusst, ging Kooperationen ein und setze mit anderen Kunstschaffenden zahlreiche Projekte und Aktionen um, ob im öffentlichen Raum, auf der Bühne oder in Museen.
Eines seiner Bühnenwerke ist direkt im Foyer des Museums platziert: „Eloge de la folie“ entstand 1966 als Bühnenbild für das gleichnamige Tanztheaterstück von Roland Petit. Die Installation ist zugleich eine der wichtigsten Neuerwerbungen des Museums für sein Sammlung. Im Rahmen von „La roue = c’est tout“ ist das Kunstwerk nun zum ersten Mal seit über 20 Jahren wieder zu sehen. Daneben stimmt eine Erlebnis-Wand große und kleine Besucher darauf ein, die Werke von Jean Tinguely mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Performende Maschinen
Die Ausstellung beginnt mit einem Blick auf Jean Tinguelys Frühwerk in den 1950er Jahren, als er in Paris Fuß fasste. Hier setzte er sich mit der künstlerischen Avantgarde auseinander, mit Positionen der geometrischen und gestischen Abstraktion, und begann damit, durch kinetische Kunst eine neue Formensprache für sich zu entwickeln. In dieser Zeit entwickelte Tinguely bereits zentrale Ideen und Werkgruppen, die sein späteres Schaffen prägen sollten. Auch seine Disziplin-übergreifende und kollaborative Arbeitsweise war hier schon für den Künstler maßgeblich, ebenso wie sein Bestreben, einen sinnlichen Zugang zur Kunst zu schaffen. Seine Überlegungen zur „Art total“ zeigt das Museum Tinguely anhand diverser Konstruktionszeichnungen, Skizzen und Notizen in der Ausstellung. Aus konservatorischen Gründen sind Tinguelys Originalarbeiten auf Papier hier in Schubladen zugänglich.
Bereits in frühen Skulpturen nutzte Jean Tinguely Räderwerke. Seine erste Werkgruppe der „Moulin à prière“ erscheint dabei wie ein direkter Verweis auf sein künstlerisches Vorbild Marcel Duchamp. Auch mit anderen Werken erinnerte Tinguely an bekannte Künstler, etwa mit „Méta-Malevich“ (1954). Arbeiten wie „Relief méta-mécanique sonore II“ (1955) zeigen zudem, dass auch der Klang bereits in seinem Frühwerk für den Künstler eine wichtige Rolle spielte. Auch Tinguelys Zeichenmaschinen, die „Machines à dessiner“, sind hier zu sehen. Unter dem Titel „Méta-Matic“ erweiterte der Künstler diese ab 1959 zu einer umfassenden Werkgruppe, die gleichzeitig als Skulptur, zeichnende Maschine und Happening funktioniert. Diese Arbeit verhalf Tinguely auch international zum Durchbruch.
Im Jahr 1960 wurde der Künstler dann zum Gründungsmitglied der Gruppe Nouveaux Réalistes und arbeitete kollaborativ mit weiteren Kunstakteuren zusammen, sowohl im öffentlichen Raum als auch auf der Bühne. Für seine Skulpturen nutzte Tinguely in dieser Zeit vor allem Schrott und Alltagsgegenstände, eine Verbindung aus Konsumkritik und Nachhaltigkeit. Die „performenden Maschinen“ verweisen auf das oft absurde Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mensch und Technik, wie etwa die Skulptur „Ballet des pauvres“ (1961) mit laut rüttelnd-klappernden alten Haushaltsgegenständen. Auch „Le soulier de Madame Lacasse“ (1960) macht mit einem scheppernden Motorengeräusch auf sich aufmerksam; als zentrale Elemente nutzte Jean Tinguely ein Speichenrad und einen Gummisauger. Auch seine schwarzen, reliefartigen Werke aus den 1960er Jahren zeigt die Ausstellung, etwa „Hannibal II“ (1967), eine Skulptur aus Holz- und Eisenrädern.
Zwischen Geschwindigkeit und Vergänglichkeit
Jean Tinguely ließ in seine Skulpturen auch immer wieder seine Faszination für Autos mit einfließen, etwa in „Schreckenskarrette – Viva Ferrari“ (1985). Als Formel 1-Fan waren Fahrzeuge für ihn das „schönste Kunstwerk der Welt“, kamen dort doch viele Aspekte zusammen, die er auch an Kunst schätzte: Geschwindigkeit, Kraft und eine eindrucksvolle Geräuschkulisse. Doch auch die Gefahr faszinierte den Künstler, so erinnerte er mit der Skulptur „Lola T180 – Mémorial pour Joakim B.“ (1988), die aus zwei Rennwagen vom Typ Lola zusammengesetzt ist, an den Tod des schwedischen Formel 1-Fahrers Joakim Bonnier, der 1972 beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans bei einem Unfall ums Leben kam. Auch in anderen Arbeiten setzte sich Jean Tinguely immer wieder mit dem Tod auseinander, etwa in „Fontaine de la Mort“ oder „Moto de la Mort“ (1989).
In den Folgejahren brachte Tinguely vor allem seine Faszination für das Karnevaleske zum Ausdruck, etwa in den Skulpturen „La Vache Suisse – Corso Fleuri“ (1990) oder „Hippopotamus“ (1991). Die Werke verbindet dabei der Einsatz diverser Schädel. Die Ausstellung geht hier auch auf Jean Tinguelys Engagement zur Basler Fastnacht ein; bereits ab 1972 war er Mitglied der Fasnachtsclique „Kuttlebutzer“ und gestaltete für die Fasnacht bis Ende der 1980er mehrere Kostüme, Masken und Requisiten.
Ergänzt wird die Ausstellung durch umfangreiches Film-, Bild- und Textmaterial, in dem Jean Tinguelys wichtigste Arbeiten, zentrale Ausstellungs- und Bühnenprojekte sowie Kollaborationen mit anderen Kunstakteuren zwischen den 1950er und 1990er Jahren dokumentiert werden. Zu seinen Kooperationspartnern zählte etwa Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Niki de Saint Phalle; sein Freundes- und Bekanntenkreis war mit Marcel Duchamp, John Cage, Barnett Newman oder Mark Rothko das Who-is-Who der modernen Kunstszene des 20. Jhd.
Vollendet wird die Ausstellung in der großen Halle des Museums, die erstmals seit dessen Eröffnung wieder vollständig für die Werke von Jean Tinguely genutzt wird. Eine Biografiewand mit Fotos, Videos und Hörstationen fasst hier das Leben des Künstlers zusammen. Zudem werden die großen Skulpturen und Musikmaschinen aus dem Spätwerk des Künstlers präsentiert. Ergänzend ist im 2. Obergeschoss des Museums die Skulpturen-Serie „Mengele-Totentanz“ (1986) zu sehen, die ebenfalls zu Tinguelys Spätwerk gehört.
Viele Skulpturen in der Ausstellung lassen sich übrigens per Knopfdruck aktivieren. Aus konservatorischen Gründen können die beweglichen Arbeiten nicht dauerhaft laufen, sondern haben Ruhezeiten von je 5 bis 15 Minuten. Über QR-Codes an den Werken besteht auch die Möglichkeit, die Skulpturen jederzeit in Bewegung zu sehen. Nähere Infos zu zentralen Werken in der Ausstellung bietet zudem der Multimedia-Guide „Meta-Tinguely“.
Jean Tinguely: La roue = c’est tout
Museum Tinguely
Sammlungspräsentation, seit 8. Februar 2023
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die Übernahme der Kosten der Reise.
Header-Bild: Angelika Schoder – „Schwimmwasserplastik“ (1980) von Jean Tinguely – Tinguely Museum, Basel 2023
Bilder: Angelika Schoder, Basel 2023
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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