[Rezension] In der New York Times wird Sam Gilliam in einem Nachruf als „doppelte Anomalie“ bezeichnet. Erst spät in seiner Karriere gelang dem 1933 in Mississippi geborenen Gilliam der Durchbruch in der internationalen Kunstwelt, obwohl er 1972 der erste Schwarze Künstler war, der die USA bei der Biennale in Venedig repräsentieren durfte. Als Anomalie wird er zum einen betrachtet, da er sich der abstrakten Kunst verschrieben hatte – eine Kunstrichtung, in der es zu seiner Zeit kaum Schwarze Akteure gab. Zum anderen gilt es als ungewöhnlich, dass er in seinen Werken weitestgehend auf politische Botschaften zu verzichten schien, die für viele andere Schwarze Künstler seiner Genration zum Hauptbestandteil ihrer Arbeit wurden. Bekannt wurde Sam Gilliam für seine farbintensiven Werke, die er meist auf fließender Leinwand festhielt. Teils sind seine Arbeiten wie zweidimensionale Bilder installiert, teils sind es aber auch meterlange Stoffbahnen, die als dreidimensionale Farbexplosionen im Raum drapiert werden. Zum Tod des Künstlers blicken wir zurück auf die Ausstellung „The Music of Color. Sam Gilliam 1967-1973“, die 2018 im Kunstmuseum Basel zu sehen war.
„Try not to forget, Sam,
Rafael Squirru: Sam Gilliam [1]
That when keys are lost
Destiny lies
In keeping custody of the gates
Always with a smile.“
The Music of Color
Sam Gilliam zählt zu den wichtigsten Vertretern der US-amerikanischen abstrakten Kunst. Mit „The Music of Color“ war 2018 erstmals eine institutionelle Einzelausstellung von ihm in Europa zu sehen. Im Zentrum der Ausstellung im Kunstmuseum Basel stand seine Schaffensphase zwischen 1967 und 1973, in der der Künstler seine radikalsten und einflussreichsten Werke schuf.
In den 1960er Jahren begann Gilliam, die Leinwand nicht mehr als zweidimensionale Fläche zu bearbeiten, sondern Stoffbahnen als dreidimensionale Objekte zu gestalten. In dieser Periode widmete er sich den skulpturalen Eigenschaften der Malerei und schuf Werke, die sich mit ihren umfangreichen Dimensionen an ihre Umgebungen anpassen müssen. So ergibt sich ein neues Verhältnis von Malerei und Architektur und bedingt, dass sich die jeweiligen Installationen der sogenannten Drapes, drapierte Leinwände, niemals ähneln. Jeder Raum bestimmt, wie ein solches Werk aus Meter langen Stoffbahnen installiert und präsentiert werden kann. Gilliam überschritt damit die Grenze von Malerei zu Skulptur, wobei er immer betonte, dass auch dieser dynamische Aspekt eine Eigenschaft der Malerei sei.
In der Ausstellung „The Music of Color“ im Kunstmuseum Basel waren 45 meist großformatige Arbeiten von Sam Gilliam aus privaten und öffentlichen internationalen Sammlungen zu sehen. Die Schau bot die Gelegenheit, Gilliams vielfältige Werke erstmals in Europa kennenzulernen und einige seiner Arbeiten in einer einzigartigen Perspektive zu erleben, da er diese speziell für die Räumlichkeiten im Neubau des Museums neu konzipiert hatte.
Slice paintings und Drape paintings
Im Jahr 1962 zog Sam Gilliam nach Washington D.C. und schloss sich der Washington Color School an, einer Gruppierung von Farbfeldmalern, zu denen auch Kenneth Noland und Morris Louis zählten. In dieser Zeit begann er mit unterschiedlichen Maltechniken und Materialien zu experimentieren, fand aber bald zu seinem eigenen Stil. 1966 begann er mit seinen Slice bzw. Beveled-edge paintings, bei denen die Leinwand mit stark verdünnter Farbe getränkt wurde, um ihre Textur noch in der obersten Farbschicht sichtbar zu halten. Improvisation wurde bei diesen Gemälden zum zentralen Element, da die Farbe direkt auf die Leinwand gegossen und schnell verarbeitet werden musste. Im Anschluss an diese Bearbeitung der Leinwand zerknüllte der Künstler diese und ließ sie trocknen. So entstanden zufällige Muster und Linien, die den Werken etwas Unberechenbares verleihen. Nach dem Trocknen spannte Gilliam die Leinwände auf spezielle abgeschrägte Keilrahmen. Dies erzielte den Effekt, dass die Gemälde aus den Rahmen herauszuwachsen scheinen, etwa beim Werk „Whirlirama“ (1970).
Gilliams erste Einzelausstellung dieser Beveled-edge paintings, die zugleich seinen lokalen Durchbruch als Künstler markierte, fand 1967 in Washington D.C. statt. Ab 1968 begann der Künstler zudem damit, die sogenannten Drape paintings zu erschaffen, also Leinwände, die frei im Raum drapiert werden. Mit dieser Entscheidung, auf formgebende Keilrahmen zu verzichten, wandte sich Gilliam der Technik zu, die seine Karriere letztlich bestimmen sollte.
Die Arbeiten des Künstlers waren dabei stets von seinem Verhältnis zum Jazz geprägt, besonders von dessen Idee von Improvisation, Polyrhythmik und Atonalität. In seiner Kunst versuchte Sam Gilliam die klanglichen Qualitäten des Jazz malerisch umzusetzen. Allen voran die Songs des Jazz-Saxofonist John Coltrane gehörten zu Gilliams Inspirationsquellen. Den Maler beeindruckte, dass Coltrane „das ganze Blatt bearbeitete“, wie er es formulierte. Der Musiker würde sich nicht mit Taktbalken, Noten oder Schlüsseln aufhalten, sondern eben alle Noten gleichzeitig spielen. Aus dieser Idee heraus bearbeitete auch Sam Gilliam „das ganze Blatt“ bzw. die gesamte Leinwand, ohne sich mit formalen Kriterien der Malerei aufzuhalten. Auf diesen Prozess verwies auch der Titel der Ausstellung im Kunstmuseum Basel: The Music of Color.
Eine neue Form abstrakter Malerei
Ende der 1960er Jahre begann Gilliam damit, sich mit der abstrakten modernistischen Malerei zu beschäftigen. Zusätzlich setze er sich auch mit Skulptur und Performance auseinander. Seine Drape paintings sind die Synthese dieser Einflüsse. Sie werden zu einem Teil des Ortes, an dem sie installiert werden; sie verfremden die jeweilige Architektur und lassen einzigartige Räume entstehen. Die Wirkung der Werke ändert sich je nach dem Blickwinkel, von dem aus sie betrachtet werden. Wie ein Ausstellungsbesucher die Drapes wahrnimmt, ist nicht vorgegeben: Man kann sich vor, unter oder hinter einige Werke stellen, sie ganz aus der Nähe betrachten oder sie aus der Distanz im Raum auf sich wirken lassen.
Das Kunstmuseum Basel zeigte unter anderem das Werk „Bow Form Construction“ (1968), bei der die Leinwand an zwei Punkten an der Wand befestigt wird und in einem Bogen fällt, ähnlich wie ein Vorhang. Von dieser einfachen Installation löste sich Gilliam in den Folgejahren und entwickelte komplexere Präsentationsformen, bei denen der Stoff an mehreren Punkten an der Wand oder an der Decke fixiert wird, wie etwa bei „Niagara“ (1968).
In der Ausstellung „The Music of Color“ war fast die gesamte Vielfalt der sogenannten Drapes präsent, die den räumlichen Kontext stets mit einbeziehen und daher immer wieder zu einzigartigen Kunstwerken werden. Dokumentiert sind die Arrangements in der Ausstellung im Kunstmuseum Basel in einer Publikation, welche die wichtigste Schaffensphase von Sam Gilliam dokumentiert.
Anlässlich der Ausstellung „The Music of Color. Sam Gilliam 1967-1973“ erschien 2018 ein begleitender Ausstellungskatalog im Verlag der Buchhandlung Walther König (ISBN: 978-3-96098-340-8). Die Publikation auf Englisch mit einem deutschsprachigen Begleitheft, herausgegeben von Jonathan P. Binstock und Josef Helfenstein für das Kunstmuseum Basel, beinhaltet neben 50 farbigen Werkabbildungen auch Werktexte, Gedichte und begleitende Essays von u.a. Josef Helfenstein, Larne Abse Gogarty, Rafael Squirru, Lynette Yiadom-Boakye, Rashid Johnson sowie eine Rede von Sam Gilliam.
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.
Bilder: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2018
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnote
[1] Zitat aus: Rafael Squirru: Sam Gilliam, zitiert aus: Artistas de América: Itinerario poético de Rafael Squirru, Buenos Aires, 1984; In: The Music of Color. Sam Gilliam 1967-1973, Hg.v. Jonathan P. Binstock, Josef Helfenstein, Köln 2018, S. 163.
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