[Rezension] Salvador Dalí, René Magritte, Man Ray oder Max Ernst: Die männlichen Künstler des Surrealismus sind weltweit bekannt. Kaum bekannt sind jedoch die Frauen, die ebenso den Surrealismus prägten. Erst seit wenigen Jahren richtet sich der Fokus auch auf die Künstlerinnen, zuletzt etwa in der Ausstellung „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Die Hamburger Kunsthalle widmet nun einer dieser „Fantastischen Frauen“ eine Sonderausstellung: Marie Čermínová, besser bekannt als Toyen. Die Ausstellung und der im Hirmer Verlag erschienene, sehr umfangreiche Begleitband beleuchten das komplexe Werk der Künstlerin, von ihren frühen Zirkus-Bildern über sexuell explizite Arbeiten bis hin zu ihren rätselhaften und symbolisch aufgeladenen Gemälden.
„Im Kinosaal des Lebens betrachte ich die Leinwand meines Gehirns.“
Toyen, 1976
Die Künstlerin Toyen
Marie Čermínová wurde 1902 in Prag geboren. Bereits als junge Frau war sie in der tschechoslowakischen Avantgarde der 1920er Jahre eine wichtige Akteurin. Sie war Anhängerin der Gruppe Devětsil und des Poetismus, welche den Bezug zwischen Dichtung und Kunst ausloteten. Geprägt vom Stil Henri Rousseaus malte sie zunächst im Stil Naiver Kunst, gründete aber später gemeinsam mit dem Künstler Jindřich Štyrský während eines Aufenthalts in Paris 1926 den Artifizialismus. Bereits im Alter von 21 Jahren hatte sie sich für das Pseudonym Toyen entschieden, abgeleitet vom Französischen „citoyen“ (Bürger). Mit diesem neutralen Namen, aber auch mit ihrem androgynen persönlichen Stil, wollte sie sich jenseits gängiger Geschlechterklischees bewegen.
Zu den wichtigsten und immer wiederkehrenden Motiven von Toyen zählten die Themen Revolte, Traum, Erotik und Poesie. Im Jahr 1934 war die Künstlerin Gründungsmitglied der surrealistischen Gruppe der ehemaligen Tschechoslowakei und trug damit zur internationalen Ausbreitung der Bewegung bei. Sie stand zudem in engem Austausch mit diversen Künstlern des Surrealismus, so bezeichnete der „Vater des Surrealismus“ André Breton, der 1924 das „Manifeste du Surréalisme“ verfasst hatte, Toyen als „mon amie entre les femmes“ (dt.: meine Freundin unter den Frauen). Auch mit Paul Èluard, Max Ernst, Yves Tanguy, Benjamin Péret, Salvador Dalí oder Man Ray war sie bekannt, stand mit diesen in Austausch und wurde von ihren Arbeiten in ihrem künstlerischen Werk beeinflusst.
Toyen arbeitete unablässig, selbst als die Prager Surrealisten im Jahr 1939 durch die „Protektoratsgesetze“ der nationalsozialistischen Besatzung in den Untergrund getrieben wurden. Einer ihrer Wegbegleiter war der jüdische Dichter Jindřich Heisler, den sie in ihrer Wohnung versteckte und so vor der Deportation schützte. Diese Erlebnisse prägten diverse Zeichnungszyklen von Toyen, etwa „Verstecke dich, Krieg“ von 1944. Nach der Machtübernahme der Kommunisten in Prag 1948 emigrierte die Künstlerin schließlich zusammen mit Heisler nach Paris, wo sie noch enger im Kreis der Surrealisten tätig war. Nach dem Tod Bretons und der Auflösung der Künstlergruppe im Jahr 1969 arbeitete sie vermehrt mit jüngeren Akteuren aus Kunst und Poesie zusammen. Toyen verstarb 1980 in Paris; ihre Todesanzeige war auf ihren Wunsch hin mit der Notiz versehen: „Ich stelle fest, dass mein weißes Blatt grün geworden ist.“
„Durch ihre leidenschaftliche Freiheitsliebe berührte Toyen in den Menschen einen Punkt, in dem das Leben sich nur noch nach seinem Grad an Poesie bemisst.“
Der kroatische Dichter Radovan Ivšić 1996 über Toyen
Toyen als Künstlerin vieler Stilrichtungen
Mit „TOYEN“ zeigt die Hamburger Kunsthalle in Kooperation mit dem Musée d’Art Moderne de Paris, Paris Musée und der Nationalgalerie Prag erstmals eine Einzelausstellung der tschechischen Künstlerin in Deutschland. Rund 300 Exponate aus allen Schaffensphasen von Toyen sind in der Ausstellung versammelt, unter anderem 100 Gemälde, 180 Zeichnungen sowie Collagen, Illustrationen, Druckgraphiken, illustrierte Bücher, aber auch Dokumente und Fotografien. Die Ausstellung zeigt zudem zahlreiche Werke von Toyens künstlerischen Wegbegleitern des tschechischen und internationalen Surrealismus, etwa Arbeiten von Jindřich Heisler, Jindřich Štyrský, Yves Tanguy, Salvador Dalí, Max Ernst oder Paul Klee.
Die Ausstellung folgt chronologisch dem künstlerischen Schaffen von Toyen und gliedert sich in Abschnitte, die je nach einem Werk benannt sind. Zu Beginn der Ausstellung werden im Raum „Koralleninseln“ abstrakte Gemälde von Toyen gezeigt, die an den Stil des Konstruktivismus erinnern. Der Titel verweist dabei auf die Insel Korčula in Dalmatien, wo Toyen den Maler Jindřich Štyrský kennenlernte, mit dem sie bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft verband. Gemeinsam reisten sie ab 1924 durch Frankreich. Hier wurde sie von Zitkusvorstellungen und Volksfesten beeinflusst; ihre Eindrücke verarbeitete sie in Skizzen und Gemälden, die an Naive Kunst erinnern. [1] Im Jahr 1925 zog Toyen dann zusammen mit Štyrský für drei Jahre nach Paris. [2] Im Ausstellungsabschnitt „Fata Morgana“ sind Werke von beiden zu sehen, in denen sie mit Schablonen, Airbrush und mit Sand angedickten Farben sowie Strukturierung und Oberflächen experimentierten. Dieser „Artifizialismus“ distanzierte sich zwar von abstrakter Malerei und vom Surrealismus, schien aber doch stark von den Werken von Paul Klee oder Max Ernst beeinflusst zu sein. [3]
„Eine Nacht in Ozeanien“ zeigt, wie sich Toyen ab den 1930er Jahren immer mehr mit Träumen, dem Unbewussten und erotischen Themen auseinandersetze. Muscheln, Blumen, Korallen scheinen in den Gemälden aus dieser Zeit in einer Unterwasserwelt zu schweben. [4] Beeinflusst wurde Toyen hier womöglich durch die Texte des Marquis de Sade, in denen es auch um die Verherrlichung der Sinnlichkeit der Natur geht. Die Werke dieser Zeit zeigen, wie Toyen sich immer weiter dem Surrealismus annäherte. Typisch für viele Surrealisten war die Auseinandersetzung mit erotischen Träumen und sinnlichen Fantasien. Auch für Toyen spielte dies schon in ihrem künstlerischen Frühwerk eine zentrale Rolle, wobei sich das Thema oft humorvoll durch ihr gesamtes Werk zieht. Der Ausstellungsabschnitt „Erotische Revue“ zeigt, wie Toyen in Skizzen und Zeichnungen eine erotische Welt entwickelte und in den 1930er Jahren auch Illustrationen zu erotischer Literatur schuf. Sie spielte dabei mit diversen Symbolen wie Früchten, Muscheln und Tieren. [5]
„Man wohnt heute auf jedem ihrer Bilder einem gegebenen Moment einer unaufhörlichen Metamorphose bei. In ihrem Ensemble bilden sie eine vollständig neue Welt, in der Toyen als Dirigent des Farben- und Formenorchesters bald löscht, bald entzündet, nach rechts dreht und nach links wendet, was bislang ein alltägliches und neutales Aussehen bewahrt hatte.“
Der französische Dichter Benjamin Péret 1953 über Toyen
Die surrealen Bildwelten der Toyen
Im März 1934 formierte sich die erste Gruppe surrealistischer Kunstakteure in der Tschechoslowakei. Toyen zeigte als Gründungsmitglied 24 Gemälde in der ersten Ausstellung der Gruppe im Jahr 1935. [6] Im Ausstellungsabschnitt „Die Magnetische Frau“ sind einige dieser Arbeiten zu sehen, auf denen felsartige und zerklüftete Objekte und Körper aus seeartigen Landschaften zu entstehen scheinen. [7] Im Abschnitt „Phantom-Objekte“ werden schließlich Toyens Parallelen zu Dalí und Tanguy sichtbar, wobei insbesondere ihre Werke aus den späten 1930er Jahren wie Vorboten der Schrecken des kommenden Krieges wirken. Während des Krieges malte Toyen Bilder, die das Trauma der Zeit aufgreifen. Ihre mehrteiligen gezeichnete Zyklen zum Zweiten Weltkrieg sind im Ausstellungsabschnitt „Verstecke dich, Krieg!“ zu sehen, etwa „Der Schießplatz“. [8] Erst nach dem Ende des Krieges 1945 wendete sie sich mit „Der Mythos des Lichts“ wieder positiveren Themen zu und nahm auch wieder Kontakt mit den Surrealisten in Paris auf, allen voran zu André Breton. [9]
Im Jahr 1947 reiste Toyen nach Frankreich und kehrte nicht wieder in ihr Heimatland zurück. Im Ausstellungsabschnitt „Alle Elemente“ sind Werke aus dieser Zeit in Paris zu sehen, in denen Toyen eng im Kreis der Surrealisten eingebunden war. Sie beschäftigte sich mit Alchemie und Veränderungsprozessen, etwa in der Serie „Weder Flügel noch Steine“. [10] In ihren Werken treffen so Fragmente der Natur und Personen aufeinander. Toyens Kontakt mit der Tachismus-Bewegung, eine Richtung der abstrakten Malerei, in der Empfindungen durch einen spontanen Farbauftrag ausgedrückt werden, scheint in den 1950er Jahren wie eine Fortführung dieser künstlerischen Entwicklung. Im Ausstellungsabschnitt „Die sieben gezogenen Schwerter“ sind die gleichnamigen Werke von Toyen zu sehen, mit denen sie malerisch das Unbewusste erforscht. Aus abstrakt wirkenden Formen tauchen hier pflanzliche, mineralische, aber auch menschliche Details auf und verbinden sich zu surrealen Wesen. Der Titel geht auf Georges Goldfayn zurück, in Anlehnung an Guillaume Apollinaires Dichtung „Die sieben Schwerter“, in denen sieben Klingen mit je einem Frauennamen assoziiert werden. Toyen zeigt in ihren Gemälden Kleid-ähnliche Hüllen, unter denen weibliche Figuren verborgen zu sein scheinen, wobei deren verschiedene Farbgebungen jeweils auf eine andere Emotion verweisen. [11]
Im Abschnitt „Wahlverwandtschaften“ steht in der Ausstellung Toyens Verbindung zu Dichtern im Mittelpunkt, allen voran ihre engen Vertrauten Jindřich Štyrský und Jindřich Heisler, aber auch André Breton oder Annie Le Brun, für die sie auch Texte illustrierte. [12] Vor allem in ihrem Spätwerk arbeitete Toyen eng mit Literaten zusammen, so entstand 1966 gemeinsam mit Radovan Ivšić die Publikation „Der Brunnen im Turm – Traumtrümmer“ mit einem Zeichnungszyklus von Toyen. Mit Ivšić, Le Brun und Goldfayn gründete sie zudem den Verlag Éditions Maintenant, für den sie auch ihren letzten Collage-Zyklus „Vis-à-vis“ schuf. [13]
Ab den 1960er Jahren kehrte Toyen verstärkt zur Collage zurück und fügte solche Elemente auch in Gemälde ein, etwa in einem ihrer bekanntesten Werke „Der Paravent“ (1966). Im Ausstellungsabschnitt „Mitternacht, die gewappnete Stunde“ sind auch Werke zu sehen, in denen die Künstlerin sich mit der Magie der Nacht befasst. Angeregt wurde sie vor allem durch Texte wie „Gaspard de la nuit“ (Schatzhüter der Nacht, 1842) von Aloysius Bertrand, in der der Erzähler von einer Prozession grotesker Wesen am Rande seines Schlafes berichte. Toyen griff diese Idee auf und brachte sie in den Kontext einer Theateraufführung. Im letzten Ausstellungsabschnitt „Das Fest der Analogien“ geht es um das Spätwerk der Künstlerin. Hier ist auch ihr letztes Ölgemälde aus dem Jahr 1971 zu sehen mit dem Titel „Die Falle der Wirklichkeit“, in dem es um die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Darstellbarkeit des Realen geht.
Die Publikation „TOYEN. 1902-1980“, herausgegeben von Annabelle Görgen-Lammers, Annie Le Brun und Anna Pravdová für die Hamburger Kunsthalle, ist begleitend zur gleichnamigen Ausstellung 2021 im Hirmer Verlag erschienen (ISBN: 978-3-7774-3694-4). Die Publikation enthält, neben Abbildungen der in der Ausstellung gezeigten Werke und einer Chronik, auch Texte von u.a. Barbara Bartunková, Meghan Forbes, Karel Srp und Francoise Caille. Zudem finden sich im Ausstellungskatalog zahlreiche Texte von Toyens Weggefährten wie André Breton, Paul Eluard, Jindřich Štyrský, Jindřich Heisler und Yves Tanguy.
TOYEN
24.09.2021-13.02.2022
Hamburger Kunsthalle
Die Ausstellung war vom 09.04.-15.08.2021 bereits in der Nationalgalerie Prag zu sehen und wird vom 25.03.-24.07.2022 im Musée d’Art Moderne de Paris zu sehen sein.
musermeku dankt dem Hirmer Verlag für die kostenfreie Überlassung des Ausstellungskatalogs als Rezensions-Exemplar.
Header-Bild: Toyen, 1930, Aus: Rozpravy Aventina, Vol. 5/1929-1930, Nr. 23, S. 273 – Czech Academy of Sciences – Public Domain
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Dazu: Karel Srp: Un Baiser par T.S.F. – ein Kuss per drahtloser Telegraphie, In: TOYEN. 1902-1980, Hg.v. Annabelle Görgen-Lammers, Annie Le Brun, Anna Pravdová, 2021, In: Ebd., S. 43-55.
[2] Dazu: Anna Pravdová: Zwischen Abstraktion und Surrealismus – Toyen und Štyrský von 1925 bis 1929, In: Ebd., S. 63-73.
[3] Dazu: Karel Srp: Schattierungen künstlicher Illuminationen – die artifizialistische Phase, In: Ebd., S. 83-93.
[4] Dazu: Francoise Caille: Toyens Weg zum Surrealismus – die Ausstellung Poesie 1932, In: Ebd., S. 115-121.
[5] Dazu: Annie Le Brun: Luxus im wilden Zustand – Toyen und die Erotik, In: Ebd., S. 331-339.
[6] Dazu: Annabelle Görgen-Lammers: Begegnungen von Theorien, Persönlichkeiten und Werken – Aspekte der Annäherungen an den Surrealismus, In: Ebd., S. 123-131.
[7] Dazu: Dies.: Auftritt der Erscheinungen – zwischen Faltungen und Rissen in Raum und Bild, In: Ebd., S. 139-164.
[8] Dazu: Fabrice Hergott: Toyen und die Jahre des Krieges, In: Ebd., S. 191-211.
[9] Dazu: Bertrand Schmitt: Toyen und die Politik in der unmittelbaren Nachkriegszeit, In: Ebd., S. 247-251.
[10] Dazu: Ders.: Ein Freundschaftsarchipel – Toyen und die Pariser Surrealisten-Gruppe, In: Ebd., S. 255-266.
[11] Dazu: Ders.: Zauber der Nacht – das malerische Werk zwischen 1957 und 1969, In: Ebd., S. 283-289.
[12] Dazu: Jindřich Toman: Nicht zu übersehen! Toyen und das Buch, In: Ebd., S. 167-174.
[13] Dazu: Anna Pravdová: Seelenverwandte. Éditions Maintenant, In: Ebd., S. 317-326.
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