Moderne Zeiten: Industrie-Darstellungen vom 19. bis ins 21. Jhd.

Das Bucerius Kunst Forum widmet sich in der Ausstellung „Moderne Zeiten. Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“ der künstlerischen Darstellung von Industrialisierung und Technologie.

Das Bucerius Kunst Forum widmet sich in der Ausstellung "Moderne Zeiten. Industrie im Blick von Malerei und Fotografie" der künstlerischen Darstellung von Industrialisierung und Technologie.

[Rezension] Von Adolph von Menzels Fabrikgemälden um 1870 über Albert Renger-Patzschs Fotografien von Schornsteinen in den 1920er Jahren bis zu Daniel Chatards Aufnahmen von der Räumung des Hambacher Forsts von 2018: Das Bucerius Kunst Forum setzt sich in der Ausstellung „Moderne Zeiten“ mit der künstlerischen Darstellung der Industrie vom Beginn der Industrialisierung bis heute auseinander. Seit dem 19. Jhd. hat die industrielle Architektur zahlreiche Kunstakteure inspiriert. Doch auch die Menschen, die in Fabrikhallen arbeiten, wurden häufig zum Motiv in der Malerei und in der Fotografie. Das Bucerius Kunst Forum präsentiert nun Werke von über 100 Kunstschaffenden, die sich mit der Veränderung unserer Umwelt durch die Industrie auseinandersetzen. Dabei steht auch im Fokus, mit welchen Arbeitsbedingungen der technische Fortschritt im Laufe der Jahrhunderte verbunden ist.


Zwischen Realismus und Repräsentation

In insgesamt fünf Abschnitten beleuchtet die Ausstellung „Moderne Zeiten“ die künstlerischen Industriedarstellungen im Laufe der Jahrhunderte, von der Malerei bis hin zur Fotografie. Der Titel der Ausstellung verweist dabei auf Charlie Chaplins Film „Modern Times“ aus dem Jahr 1936, in dem es darum geht, wie die moderne Industrie das Leben der Menschen prägt.

Den Ausgangspunkt der Ausstellung bilden Gemälde aus den 1850er Jahren. Es sind Darstellungen von Fabriken in idyllischer Natur, Blicke in düstere und durch lodernde Öfen erhellte Produktionshallen und Aufnahmen der neu entstehenden Infrastruktur des Transports. Das Bucerius Kunst Forum stellt hier einer Reihe an Gemälden auch Fotografien aus dem 19. Jhd. gegenüber, die von Unternehmen zur Dokumentation von Großbaustellen oder Werksgeländen in Auftrag gegeben wurden. Diese Auftragsarbeiten sollten die wirtschaftliche Produktivität verdeutlichen und dienten den Unternehmen auch als repräsentative Zeugnisse ihres Erfolges.

Während die Malerei hier eher Atmosphäre und Stimmungen einfing und zu einer stark romantisierenden Darstellungsweise tendierte, setzte sich dem gegenüber die damals noch neue Technik der Fotografie als wirklichkeitstreues Format der reinen Dokumentation durch. Besonders der „Motor der Industrialisierung“ – die Errichtung eines flächendeckenden Schienennetzes sowie von Brücken und Bahnhöfen – zählt hier mit zu den wichtigsten Motiven dieser Zeit.


Zwischen Produktion und Propaganda

Als Herz der deutschen Industrie galt lange das Ruhrgebiet, hier vor allem das Gussstahlunternehmen Krupp in Essen. Alfred Krupp gründete im Jahr 1861 als erster Unternehmer weltweit eine werkseigene „Photographische Anstalt“, denn er erkannte früh, dass das damals noch neuartige Medium der Fotografie sich ausgezeichnet eignete, Produktionsprozesse, das Werksgelände und natürlich auch die hergestellten Produkte zu dokumentieren. Mit den entstandenen Fotografien warb Krupp aufmerksamkeitswirksam auf internationalen Industrieausstellungen.

Zudem entstanden auch Alben und Mappen, die an Geschäftskontakte überreicht wurden. Hierzu zählt auch die Mappe „Ansichten der Gruben- und Hütten-Anlagen des Saarbrücker Steinkohlenreviers, 1860-1868“ von Carl Heinrich Jacobi, aus der mehrere Fotografien in der Ausstellung „Moderne Zeiten“ zu sehen sind. Denn natürlich ließ nicht nur Alfred Krupp sein Unternehmen dokumentieren, auch andere Industrielle folgten diesem Beispiel.


Zwischen Piktorialismus und Proletariat

In der Kaiserzeit entwickelte sich Deutschland zu einer der führenden Industrienationen Europas. Auch der Industriemalerei kam nun eine wachsende Bedeutung zu. Im Auftrag von Unternehmen entstanden Kunstwerke von Fabriken, Zechen und Grubenanlagen, häufig überdimensioniert und glorifizierend in ihren Darstellungen. Die schwere Arbeit am Hochofen wurde als heroisches Ringen des Menschen mit den Maschinen dargestellt; Stahlwerke wurden als industrielle Landschaften romantisiert. In dieser Zeit um 1900 entwickelte sich auch der Piktorialismus, der mit dem Stilmittel der Unschärfe spielte und die Fotografie als eigenständige Kunstform etablieren wollte. Die industrielle Architektur und die Fabrikarbeit boten hierfür dankbare Motive.

Insbesondere in Frankreich und Belgien befassten sich Maler und Fotografen mit den miserablen Arbeitsverhältnissen, etwa in der belgischen Borinage oder im französischen Saint-Étienne. Einige Werke von Félix Thiollier, die nicht nur die Verwüstung der Natur durch die Industrie, sondern auch die Lebensumstände der Arbeiter abbilden, zeigt das Bucerius Kunst Forum hier als Leihgaben aus den Pariser Musée d’Orsay.


Zwischen Neuem Sehen und Neuer Sachlichkeit

Besonders in den 1920er Jahren rückten die imposanten Industrieanlagen und die spröde Schönheit großer Maschinen in den künstlerischen Fokus. Zu den wichtigsten Vertretern zählt hier Albert Renger-Patzsch mit seinem Bildband „Die Welt ist schön“ aus dem Jahr 1928. Hier lassen sich viele Gestaltungsmittel des Neuen Sehens erkennen, etwa dynamische Blickachsen und die Studie von Strukturen und Oberflächen. Das Bucerius Kunst Forum zeigt in der Ausstellung „Moderne Zeiten“ Renger-Patzschs Fotografie „Fabrikschornstein“ von 1925. Auch in der Malerei und Grafik wurden diese Perspektiven aus der Fotografie aufgegriffen. Ein Beispiel ist hier Oskar Nerlingers „An die Arbeit“ aus dem Jahr 1930, das ebenso wie bei Renger-Patzschs Werk von einem großen Schornstein dominiert wird, vor dem eine endlos wirkende Schlange winziger Menschen sich mit gesenkten Köpfen zur Arbeit schleppt.

Der technische Fortschritt in der Fotografie, allem voran die Entwicklung mobiler Kameras mit Objektiven, die auch das Fotografieren bei schlechten Lichtverhältnissen ermöglichten, machte es nun auch möglich, Menschen an ihrem Arbeitsplatz zu fotografieren. So entstanden beeindruckende Bildreportagen in Kohlerevieren. Auch soziale Themen wie Massenarbeitslosigkeit sowie Arbeiterstreiks und Demonstrationen wurden in dieser Zeit fotografisch festgehalten. Dem gegenüber stand in der NS-Zeit die heroisierende Darstellung von Arbeitern zu Propagandazwecken. Ein Beispiel ist hier der „Hochofenarbeiter von der Saar“ von Erna Lendvai-Dircksen oder die Arbeiterportraits von Jakob Tuggener.


Zwischen Abstraktion und Alltag

In den Nachkriegsjahren begann die Industrie in beiden deutschen Teilstaaten langsam wieder zu florieren. In der BRD formierte sich 1949 um Otto Steinert die Gruppe fotoform und widmete sich der Industriefotografie. Die von Steinert geprägte Subjektive Fotografie knüpfte dabei an die Motive der Vorkriegsavantgarde an. Erstmals experimentierte man nun auch mit der Farbfotografie. Gefällige Auftragsarbeiten für Unternehmen, künstlerische Experimente und die kritische Betrachtung von Arbeitsbedingungen wechselten sich hier ab. Zudem entstanden immer mehr Fotoreportagen, die sich mit dem Alltag der Arbeitenden befassten. In der DDR hatte dies natürlich im „Arbeiter- und Bauernstaat“ wiederum eine propagandistische Komponente.


Zwischen Automation und Ausbeutung

Seit den 1970ern rücken zunehmend auch die zerstörerischen Folgen der Industrie in den künstlerischen Fokus. Das Ruhrgebiet, das durch die Montan- und Schwerindustrie geprägt wurde, war nun einem Strukturwandel unterworfen, der von Kunstschaffenden fotografisch dokumentiert wurde. Zu den ikonischen Werken zählt hier die Fotoserie „Hochofenköpfe“ (1979-86) von Bernd und Hilla Becher.

Seit den 1990er kommt es zudem zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem wachsenden Einfluss der Digitalisierung auf die Industrie. Menschliche Arbeiter werden von Robotern verdrängt, gleichzeitig werden in der Natur immer stärkere Zeichen der Zerstörung durch die Industrie sichtbar. Mit der industriellen Ausbeutung setzt sich etwa Taslima Akhrter in der Fotoserie „Death of a Thousand Dreams“ aus dem Jahr 2013 auseinander. Die Serie dokumentiert das Leid der Menschen, die in der Rana Plaza Textilfabrik in Bangladesch arbeiteten. Insgesamt 1.134 Menschen starben bei dem Zusammenbruch des Gebäudes, Hunderte wurden verletzt. Im Kontrast dazu steht Thomas Struths Serie „Nature & Politics“, in der die kühle Ästhetik moderner, computerbasierter Technologie im Vordergrund steht.


Die Publikation „Moderne Zeiten. Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“, herausgegeben von Kathrin Baumstark, Andreas Hoffmann und Ulrich Pohlmann für das Bucerius Kunst Forum ist 2021 im Hirmer Verlag erschienen (ISBN: 978-3-7774-3799-6). Der Band, der die gleichnamige Ausstellung begleitet, enthält neben zahlreichen Abbildungen und einem Ausstellungsverzeichnis auch Texte von Florian Ebner, Sabine Friese-Oertmann, Thilo Koenig, Kristina Lowis, Ulrich Pohlmann, Lukas Schepers und Ralf Stremmel.


Moderne Zeiten. Industrie im Blick von Malerei und Fotografie

Bucerius Kunst Forum
26.06.-26.09.2021

musermeku dankt dem Bucerius Kunst Forum für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.


Header-Bild: Franz Wilhelm Seiwert: Vier Männer vor Fabriken (Hoerle – Faust – Seiwert – Haubrich) (1926) – Hamburger Kunsthalle – Gemeinfrei, beschnitten und bearbeitet,
Bilder: Angelika Schoder – Bucerius Kunst Forum, Hamburg 2021


Wir brauchen deine Unterstützung

Werde jetzt Mitglied im musermeku Freundeskreis: Erhalte wöchentlich News zu Kunst und Kultur direkt per E-Mail, sichere dir den Zugang zu exklusiven Inhalten und hilf uns dabei, unsere Betriebskosten für musermeku.org zu decken.


Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

Bei LinkedIn vernetzen


Linktipps


Der Newsletter zu Kunst & Kultur

In unserem kostenlosen Newsletter informieren wir einmal im Monat über aktuelle Neuigkeiten aus dem Kunst- und Kulturbereich.