Belichtungszeit: Die Facetten der Fotografie

Die Publikation „Belichtungszeit“ dokumentiert die umfangreiche Fotosammlung von Ruth und Peter Herzog, von Aufnahmen aus den 1840er Jahren bis in die 1970er Jahre.

Die Publikation Belichtungszeit dokumentiert die Fotosammlung von Ruth und Peter Herzog, von Aufnahmen aus den 1840er Jahren bis in die 1970er Jahre.

[Rezension] In fast 50 Jahren haben Ruth und Peter Herzog über eine halbe Million Fotos gesammelt, von ersten Aufnahmen aus den 1840er Jahren bis in die 70er Jahre des 20. Jhd. So entstand eine der wichtigsten Fotosammlungen der Welt, welche die gesamte Geschichte der analogen Fotografie spiegelt. Die Publikation „Belichtungszeit“ dokumentiert die umfangreiche Fotosammlung, die von Jaques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel wissenschaftlich aufgearbeitet wird, und bietet damit einen faszinierenden Überblick über das vielfältige Spektrum historischer Fotografie.


„Das vorliegende ‚Mammut-Album‘ umfasst hunderte sogenannter Cartes de Visite, etwa 9 x 6 cm grosse Fotografien. Versammelt findet sich die ganze Elite des damaligen Kaiserreichs: Fürsten, Generäle, Geistliche, Musiker, Maler, Ärzte, Juristen… Das Besondere an diesem Album sind jedoch die später als ‚Steckbriefe‘ benutzten Cartes de Visite der aufständischen Kommunarden, die nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland (1870/1871) bis zur bitteren Niederlage in den Strassen von Paris gegen die eigenen Truppen und die Pariser Polizei kämpften. Die konservative Regierung wollte unbedingt ein nach sozialistischen Ideen verwaltetes Paris verhindern.“

Ruth und Peter Herzog

Die Geschichte der Fotografie

Alles begann mit einem Flohmarktfund in den 1970er Jahren. Auf einem Trödelmarkt in Zürich entdeckten Ruth und Peter Herzog im Jahr 1974 ein Foto von Spinnerinnen, das wohl um 1900 entstanden ist. Es zeigt eine Gruppe von Frauen an ihren Spinnrädern, in ihrer Mitte sitzt ein Hund, der die Frauen bei ihrer Arbeit beobachtet. Die Szene erinnerte Peter Herzog an seine eigene Familiengeschichte und weckte in ihm die Erkenntnis, dass eine Fotografie gleichzeitig Kunst sein kann, wie auch ein zeitgeschichtliches Dokument.

Ausgehend von dieser historischen Fotografie der Spinnerinnen entstand über einen Zeitraum von rund 50 Jahren eine der wichtigsten Fotosammlungen der Welt. Die Auswahl der Fotos und ihre Zusammenstellung unterlagen von Anfang an subjektiven Kriterien. Ruth und Peter Herzog trugen über die Jahrzehnte rund 500.000 Fotografien zusammen, die sich über die gesamte Entwicklungsgeschichte der analogen Fotografie erstrecken, von der Erfindung im Jahr 1939 bis in die 1970er Jahre. Die Sammlung – obwohl sie inhaltlich scheinbar ein chaotisches Neben- und Miteinander unterschiedlicher Fotografien darstellt – spiegelt zugleich alle technischen Neuerungen und Materialien des Mediums, von Daguerrotypien und Ambrotypien über Ferrotypien oder Salzpapierabzügen bis hin zu Albuminabzügen, Autochromen oder Silbergelatineprints.

Doch die Sammlung gibt nicht nur einen Überblick über Techniken, sondern ermöglicht auch einen faszinierenden Einblick in Ereignisse, Personen und Geschichten, die mit dem Medium der Fotografie dokumentiert wurden. Zu vielen Werken der Sammlung sind die Fotografen nicht mehr zu ermitteln; es sind teils noch bis heute unbekannte Amateurfotografen, deren Namen vielleicht nie genannt werden können. Zahlreiche Bilder der Sammlung stammen aber nachweislich auch von bekannte Fotografen wie Adolphe Disdéri, Gustave Le Gray, Eugène Atget, Fred Boissonnas, Charles Nègre und Felice Beato.


„Darstellungen des Strassenlebens unserer Städte gehören zu den interessantesten Fotografien nicht nur unserer Sammlung. Dieser junge Verkäufer bietet Postkarten an. Dabei handelt es sich oft um Bilder aktueller Geschehnisse, z. B. den Untergang der Titanic oder, wie auf diesem Bild, den Diebstahl der Mona Lisa.“

Ruth und Peter Herzog

Die Facetten der Fotografie

Erstmals widmen drei Museen in Basel der Sammlung Ruth und Peter Herzog nun im Sommer und Herbst 2020 eine Reihe an Ausstellungen:

Mittelalter und Moderne

Das Historische Museum Basel zeigt die Ausstellung „Mittelalter und Moderne“. Zu sehen ist eine Auswahl von Fotografien aus der Zeit von 1840 bis 1910, die von der Industrialisierung, dem Erfindergeist und dem Glauben an den Fortschritt geprägt war. Dies zeigt sich in Bildern von „Kathedralen der Moderne“ wie futuristischen Messehallen oder prächtigen Bahnhöfen.

Oriental Grand Tour

Das Antikenmuseum Basel und die Sammlung Ludwig zeigen die Ausstellung „Oriental Grand Tour“, die sich dem Thema der Orientfotografie im 19. Jhd. widmet. Im Fokus stehen dabei archäologische Stätten im Nahen Osten, die teilweise nicht nur zum ersten Mal fotografiert wurden, wie etwa Persepolis, sondern zwischenzeitlich im syrischen Bürgerkrieg auch zerstört wurden, etwa Palmyra.

The Incredible World of Photography

Die umfangreichste der drei Ausstellungen ist im Kunstmuseum Basel zu sehen. „The Incredible World of Photography“ umfasst rund 400 Objekte, die einen Überblick über die Sammlung Ruth und Peter Herzog bietet. Zentrale Schwerpunkte sind das bürgerliche Studioportrait aus der Frühzeit der Fotografie, der Siegeszug privater Fotoalben, die Dokumentation des Zeitgeschehens sowie die Fotografie von Wissenschaft, Natur und Technik. So gibt die Ausstellung Einblicke in die Amateurfotografie, in die kommerzielle und wissenschaftliche Fotografie des 19. Jhd. sowie in die Werbe- und Pressefotografie des 20. Jhd.

Daneben werden in der Ausstellung auch Fragen zum Sammeln von Fotografie diskutiert, zum Verhältnis von Archiv und Museum sowie zum Verhältnis von Fotografie und Kunst. Schließlich wird auch die Aktualität analoger Fotografie diskutiert, was wiederum Rückschlüsse auf unseren heutigen digitalen Umgang mit Bildern ermöglicht. Es geht um die Fragen: Welchen Themen widmen sich Malerei und Fotografie und wie beeinflusst sich die Bildsprache gegenseitig? Wie verändert sich die Vorstellung vom Verhältnis zwischen Original und Kopie mit dem Aufkommen der Fotografie? Seit wann gibt es Farbfotografie und warum blieb Fotokunst lange nur Schwarz/Weiß? Und: Welche Arten der Serialität gibt es in der bildenden Kunst und welche sind spezifisch für die Fotografie?

Die Ausstellung ist übrigens der Auftakt einer langfristigen Kooperation des Kunstmuseums Basel mit dem Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel, dem die Fotosammlung Ruth und Peter Herzog seit 2015 angehört.


„Suchte man für ein Theaterstück oder einen Film ein Interieur der 50er-Jahre – hier würde man zweifellos fündig! Nach dem Krieg musste alles massiv sein. Welcher Gegensatz zu heute! Und erst das Album: Gleich klobig wie die darin angepriesenen Möbel – und all das in den damals üblichen herrlich kitschigen Farben jener Zeit.“

Ruth und Peter Herzog

Belichtungszeit

Der Begleitband zur Ausstellung „The Incredible World of Photography“ im Kunstmuseum Basel bietet anhand zahlreicher Abbildungen einen repräsentativen Einblick in die umfangreiche Sammlung von Ruth und Peter Herzog. Den Texten der Publikation vorangestellt ist eine persönliche Einordnung der Fotosammlung durch Peter Herzog selbst. Hier betont er, wie das Sammeln sein Leben und das seiner Frau prägte und wie sie Fotografie mit anderen Augen zu betrachten begannen. Die folgenden Texte des Bandes bieten einen wissenschaftlichen Kontext zur Sammlung, die von ihren Initiatoren mit einem „riesigen, nie fertigzustellenden Lebensmosaik“ verglichen wird.

Tatsächlich ist die Publikation kein Ausstellungskatalog im engeren Sinne, denn es stand den Beitragenden frei, sich anhand der Sammlung Ruth und Peter Herzog auch selbst gewählten Themen, Konvoluten, Motiven oder Objekten zu widmen. So konzentriert sich beispielsweise Martina Baleva auf ein einzelnes Album aus der Sammlung, das ein Schah aus der Dynastie der Qajaren anlegen ließ, um seinen Harem und seine Reichtümer zu dokumentieren. Anhand dieses Albums wird die Geschichte der Fotografie als Verflechtungsgeschichte von Orient und Okzident nachverfolgt. Um komplexe Zusammenhänge geht es auch im Beitrag von Kelley Wilder, in dem unterschiedliche Genres der Wissenschaftsfotografie des 19. und frühen 20. Jhd. betrachtet werden, ebenso wie die damit verbundenen Netzwerke.

Die Vielfalt weiterer Beiträge reicht von der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle des Fotoalbums in bürgerlichen Salons bei Eva Ehninger, über die Diskussion des Status der Fotografie anhand eines historischen Kriminalfalls zum Diebstahl der „Mona Lisa“ bei Jan van Brevern, bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Werk wichtiger Fotografen wie Pier Luigi Catinella Chiarini und Hans Hinz, einem Pionier der Farbfotografie.


Die Publikation „Belichtungszeit. Fotografien aus der Sammlung Ruth und Peter Herzog“, herausgegeben von Paul Mellenthin und Olga Osadtschy, ist 2020 im Christoph Merian Verlag erschienen (ISBN: 978-3-85616-903-9). Der Band enthält, neben zahlreichen Fotografie-Abbildungen, Texte von u.a. Katja Petrowskaja, Peter Geimer, Eva Ehninger, Steve Edwards, Kelley Wilder, Vanessa R. Schwartz, Jan von Brevern, Martina Baleva, Valentin Groebner, Katja Müller-Helle, Michael Hagner und Peter Herzog.


The Incredible World of Photography

Kunstmuseum Basel
18.07.–04.10.2020

Mittelalter und Moderne

Historisches Museum Basel
18.07.-04.10.2020

Oriental Grand Tour

Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig
13.09.-13.12.2020

musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die kostenfreie Überlassung des Ausstellungskatalogs als Rezensions-Exemplar.


Header-Bild: Badende (Coney Island), ca. 1950-1960 – Unbekannt / © Aus der Sammlung Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel. Alle Rechte vorbehalten, Bildausschnitt


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Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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