Surreale Begegnungen: Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch

Surreale Begegnungen: Die Hamburger Kunsthalle zeigt bekannte und selten gezeigte Werke der wichtigsten Künstler des Surrealismus.

Surreale Begegnungen - Die Hamburger Kunsthalle zeigt bekannte und selten gezeigte Werke der wichtigsten Künstler des Surrealismus.

[Rezension] Motive aus Fieberträumen und verstörende Sehnsüchte – die Faszination für die Werke des Surrealismus scheint ungebrochen. Bis heute prägen die Werke von Salvador Dalí, Max Ernst, Joan Miró oder René Magritte die Popkultur. Jetzt zeigt die Hamburger Kunsthalle in der Ausstellung „Surreale Begegnungen“ über 180 Werke des Surrealismus – von weltbekannten Gemälden bis hin zu selten gezeigten Objekten.


Die Begegnung von vier Privatsammlungen

In der Hamburger Kunsthalle treffen vier europäische Privatsammlungen des 20. und 21. Jahrhunderts aufeinander. Die Werke aus den Sammlungen von Edward James, Roland Penrose, Gabrielle Keiller sowie Ulla und Heiner Pietzsch ergänzen sich in „Surrealen Begegnungen“ zu einem repräsentativen Überblick über die Kunst des Surrealismus. Um die enge Verbindung zwischen dessen Vertretern zu verdeutlichen, eröffnet die Ausstellung mit einem Diagramm zu den wichtigsten Ereignisse der Entstehungsgeschichte der Sammlungen.

Szenografisch ist der erste Ausstellungsraum besonders gelungen, denn hier wird jedem Sammler eine eigene Farbe zugewiesen: Penrose erhält Blau, James ist Grün, Keiller wird in Beige dargestellt und dem Ehepaar Pietzsch wird Weiß zugeordnet. Zunächst lernt man die Sammler und ihre Beziehungen zu den Künstlern des Surrealismus kennen, verdeutlich durch zahlreiche Dokumente, die etwa die Geschäftsbeziehungen oder den privaten Austausch mit den Surrealisten belegen. Ausgehend von einem quadratischen Aufsteller in der Raummitte, der an jeder Seite biographische Angaben zu den Sammlern vermittelt, ist so jede Ecke des Raumes in einer anderen Farbe gehalten und je einer Sammlung zugeordnet. Diese Farbgebung zieht sich durch die gesamte Ausstellung, denn jedes Werk ist nach diesem Farbcode mit den Initialen der Sammler markiert. Der Besucher kann so die einzelnen Kunstwerke den jeweiligen Sammlern zuordnen.


Die Sammler und ihre Verbindungen

Roland Penrose verfügte ab dem Ende der 1930er Jahre über eine der frühesten und wichtigsten Surrealismus-Sammlungen in England. Geprägt wurde der Sohn einer englischen Quäkerfamilie durch die Begegnung mit den frühen Werken von Max Ernst. Nachdem er 1932 das Erbe seiner Eltern antrat, unterstützte er befreundete Künstler durch den Ankauf ihrer Werke. 1937 übernahm er einen Großteil der Surrealismus-Sammlung des Belgiers René Gaffé, zudem kaufte er 1938 Teile der Sammlung von Paul Éluard. Nach dem Zweiten Weltkrieg veräußerte er aber auch wieder Werke seiner Sammlung, um junge Künstler fördern zu können. Viele der heute weltweit verstreuten Kunstwerke werden in der Ausstellung der Hamburger Kunsthalle wieder gemeinsam gezeigt. [1]

Edward James, der Erbe einer wohlhabenden anglo-amerikanischen Familie, verstand sich selbst in erster Linie als Dichter und Kunstförderer. Surrealismus verkörperte für ihn ein Lebensgefühl, weshalb er Künstler wie Dalí oder Magritte nicht nur finanziell förderte. Ihm war es wichtig, sich mit ihnen auszutauschen und auch eigene Ideen und Vorschläge zu äußern. Gewissermaßen als Auftragsarbeit entstand so z.B. Dalís „Hummertelefon“ oder das „Mae-West-Lippensofa“ von 1938. Mit Dalí schloss James zudem 1937 und ’38 einen Exklusivvertrag, der ihm alle Gemälde und Zeichnungen zusicherte. So entstand die bis in die 1950er Jahre hinein weltgrößte Dalí-Sammlung. Später sammelte James auch die surrealistischen Künstlerinnen Leonora Carrington, Leonor Fini und Dorothea Tanning. Ab den 1970er Jahren begann James allerdings, seine Sammlung nach und nach wieder zu veräußern, um eigene Projekte zu finanzieren. Die heute weltweit verstreuten Werke sind in der Ausstellung „Surreale Begegnungen“ teils wieder vereint. [2]

Gabrielle Keiller sammelte zunächst eher Antiquitäten und Kunst des 19. Jahrhunderts. Die Begegnung mit Peggy Guggenheim 1960 bei der Biennale in Venedig sowie der Austausch mit dem Künstler Eduardo Paolozzi weckten bei ihr aber das Interesse für Dada und Surrealismus. Die Werke ihrer Sammlung kaufte sie etwa von Roland Penrose, mit dem sie seit Ende der 1970er eine Freundschaft verband, oder von Edward James. So erwarb sie u.a. Bilder und Skulpturen von René Magritte und Alberto Giacometti oder Zeichnungen von Salvador Dalí. Ergänzend sammelte sie auch Künstlerbücher, Manuskripte und Ephemera, um die theoretischen und literarischen Hintergründe von Dada und Surrealismus zu verdeutlichen. [3]

Ulla und Heiner Pietzsch sammelten in den 1960er Jahren zunächst zeitgenössische Kunst. Eine Begegnung mit Max Ernst löste das Interesse am Surrealismus aus, dem sie sich in ihrer Sammlertätigkeit ab Anfang der 1970er Jahre widmeten. Neben Ernst, der im Zentrum der Sammlung steht, spielen für sie auch weitere Vertreter des deutschen Surrealismus eine wichtige Rolle, etwa Richard Oelze und Hans Bellmer. Doch auch Hans Arp, René Magritte oder Joan Miró finden sich in der Pietzsch-Sammlung wieder. [4]


Die inhaltlichen Schwerpunkte der Ausstellung

Neben Räumen, die sich einzelnen Künstlern widmen, wie Max Ernst, René Magritte oder Salvador Dalí, bringt „Surreale Begegnungen“ auch verschiedene Werke zu bestimmten Schwerpunktthemen zusammen. Unter der Überschrift „Kombinatorische Verfahren“ [5] geht es etwa um das Prinzip der Surrealisten, scheinbar unpassende Objekte neu zu kombinieren und miteinander zu überlagern. Erprobte Sehgewohnheiten sollten dabei überwunden und das vernunftbasierte Bewusstsein aufgebrochen werden. Ziel war es, das Wunderbare im Realen zum Vorschein zu bringen. Insbesondere die Technik der Collage wurde hier angewendet, etwa von Max Ernst. Auch Tanguy, Dalí und Magritte zeigten sich später von diesem Prinzip beeinflusst.

Im Schwerpunkt „Mythen des Weiblichen“ [6] wird das Frauenbild der Surrealisten diskutiert – ein durchaus komplexes Thema, handelte es sich doch zunächst um eine reine Männergruppe. Frauen traten in den Werken entsprechend eher als abstrakte Figuren auf, etwa als geheimnisvolle Naturwesen wie bei Paul Delvaux. Seit den späten 1920er Jahren schlossen sich schließlich auch Frauen den Surrealisten an und hinterfragten in ihren Werken klassische Rollenzuweisungen, wie etwa Leonor Fini oder Leonora Carrington.

Als Ergänzung zu diesem Konzept von Weiblichkeit lässt sich der Schwerpunkt „Objekte der Begierde“ [7] verstehen. Das Begehren betrachteten Surrealisten als treibende Kraft, welche es galt durch die Kunst zu ergründen. In diesem Ausstellungsabschnitt findet Marcel Duchamp seinen Platz, geht es doch um die Aufladung von Objekten mit widersprüchlichen Gefühlen und Assoziationen. Ein weiterer Künstler, der dieses Konzept verfolgte, war Hans Bellmer, der ab 1933 seine „Puppen“ als Objekte der Begierde und Bedrohung inszenierte.


Bereit für ein surreales Spiel?

Kaum eine große Kunstausstellung kommt heute noch ohne Gamification aus – Spiele scheinen für Museen fast obligatorisch. Die Ausstellung „Surreale Begegnungen“ bildet hier kein Ausnahme und setzt im dazugehörigen Online-Game auf eine Kombination aus Bildsprache und kollektiv generiertem Textinhalt. Das Konzept dahinter folgt dem Leitsatz des Dichters Lautréamont, der von den Surrealisten verehrt wurde. Dieser formulierte:

„Die Poesie muss von allen gemacht werden, nicht von einem einzelnen.“

Comte de Lautréamont, 1869

Ziel der Surrealisten war es, gemeinsam Werke zu schaffen, inspiriert durch Spieltechniken. Als Vorbild dient dem Spiel zu „Surreale Begegnungen“, das eigentlich vom kooperierenden Museum Boijmans Van Beuningen erstellt wurde, die Technik der „Cadavres exquis“ (Köstlicher Leichnam). Hierbei erstellten die Surrealisten kleine Zeichnungen, Collagen oder Texte auf Papier, falteten dies und reichten es weiter. Der nächste Künstler ergänzte etwas, ohne die vorherigen Beiträge zu kennen.

Nach diesem Prinzip funktioniert auch das Online-Game, in dem es darum geht, neue Titel für Kunstwerke zu finden – gewissermaßen ungewöhnliche Sätze als ein gemeinsam erstelltes „surreales“ Werk. Als Mitspieler kann eine andere Person gewählt werden, die gerade online ist, oder „die Nähmaschine“ – in Anlehnung an „Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch“ nach Lautréamont. Im Spiel werden dann drei Fragen gestellt, auf der Basis eines Werkes aus der Ausstellung. Am Ende entsteht daraus ein zusammengewürfelter Satz, der bei Facebook oder Twitter geteilt werden kann.


Der Katalog zur Ausstellung „Dalí, Ernst, Miró, Magritte … Surreale Begegnungen“ , herausgegeben von Annabelle Görgen und Hubertus Gaßner, ist im Hirmer Verlag erschienen (ISBN: 978-3-7774-2627-3). Der Ausstellungskatalog enthält neben zahlreichen Abbildungen der ausgestellten Werke auch eine vollständige Liste der Exponate. Zudem bietet er umfangreiche Hintergrundinformationen zu den vier präsentierten Sammlungen von Roland Penrose, Edward James, Gabrielle Keller sowie Ulla und Heiner Pietzsch.


Dalí, Ernst, Miró, Magritte … Surreale Begegnungen

Werke aus den Sammlungen Edward James, Roland Penrose, Gabrielle Keiller, Ulla und Heiner Pietzsch

Hamburger Kunsthalle
07. Oktober 2016 – 22. Januar 2017

musermeku dankt der Hamburger Kunsthalle für die kostenfreie Überlassung der Publikation als Rezensions-Exemplar.


Bilder: Angelika Schoder – Hamburger Kunsthalle, 2016


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Angelika Schoder

Über die Autorin

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Siehe: Keith Hartley: Roland Penrose – Persönliche Leidenschaften im Dienste des Gemeinwohls. In: „Dalí, Ernst, Miró, Magritte … Surreale Begegnungen“, Hg.v. Annabelle Görgen und Hubertus Gaßner, München 2016, S. 185-195.

[2] Siehe: Désirée de Chair: Gelebter Surrealismus – Edward James als Sammler, Künstlerfreund und Mäzen. In: Ebd, S. 205-207.

[3] Siehe: Elisabeth Cowling: Gabriele Keiller – Eine Sammelleidenschaft, In: Ebd., S. 233-244.

[4] Siehe: Annabelle Görgen: „Denken, Prüfen, sich Entscheiden“, Leben mit Kunst – Die Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch im Kontext der Surrealismus-Rezeption in Deutschland. In: Ebd., S. 253-267.

[5] Dazu: Kombinatorische Verfahren – Die Zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm, In: Ebd., S. 42.

[6] Dazu: Mythen des Weiblichen – Die Erde befiehlt durch die Frau, In: Ebd., S. 170.

[7] Dazu: Objekte der Begierde – Die Handgelenke Aufmerksamkeit, In: Ebd., S. 62.


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