[Online-Tipp] „Such dir eine Lücke“, fordert der libanesische Künstler Shakeeb Abu Hamdan in seinem Werk mit dem Titel „_“ die Online-Nutzer auf. „Deine Lücke kann alles Mögliche sein“. Man kann die Lücke in seiner unmittelbaren Umgebung finden, sie kann ein Wort sein, ein Bild oder ein Geräusch; sie kann räumlich, temporär oder abstrakt sein. Zweitens: „Denk über das Material der Nicht-Lücke nach.“ Dies ist das, wozwischen sich die Lücke befindet, das was die Lücke definiert. Drittens: „Miss deine Lücke oder betrachte sie als Öffnung. Passe etwas darin an, durch sie hindurch oder fülle die Lücke.“ Shakeeb Abu Hamdans Arbeit ist nur eine von zahlreichen Online-Performances im Rahmen von „1000 Scores – Pieces for Here, Now & Later“. Für alle, die auch in der Pandemie nicht auf Theater und Performance verzichten möchten.
1000 Scores: Das Publikum als Performance-Akteur
Das Projekt „1000 Scores. Pieces for Here, Now & Later“ wurde ins Leben gerufen von Helgard Haug, Autorin und Mitbegründerin der Performance-Gruppe Rimini Protokoll, von David Helbich, Komponist und Performance-Künstler, sowie von Cornelius Puschke, Dramaturg und Autor. Im Zentrum stehen sogenannte „instructional pieces“, also anleitungsbasierte Performances von internationalen Kunstakteuren. Koproduziert wird „1000 Scores“ von PACT Zollverein, dem Goethe Institut/Auswärtiges Amt sowie KANAL – Centre Pompidou und Tanz im August.
Als Inspiration für „1000 Scores“ diente eine Anekdote um den französischen Maler und Konzeptkünstler Marcel Duchamp: Im Jahr 1919, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, konnte Duchamp nicht an der Hochzeit seiner Schwester in Frankreich teilnehmen. Aus Buenos Aires sendete er als Geschenk deshalb Anweisungen für ein Kunstwerk: Duchamps Schwester Suzanne sollte sich ein Geometrie-Lehrbuch beschaffen und es an Schnüren von ihrem Balkon mit Blick auf die Rue la Condamine in Paris aufhängen. Die künstlerische Anweisung lautete: „Der Wind muss durch das Buch gehen, seine eigenen Probleme wählen, die Seiten umblättern und zerreißen.“
Unter dem Einfluss der COVID-19 Pandemie sahen die Initiatoren von „1000 Scores“ im Frühjahr 2020 die Notwendigkeit, ganz ähnliche „Do-it-yourself-Performances“ zu schaffen. Schließlich war ein Theater- und Kunstbetrieb vor Live-Publikum nicht mehr möglich. Das Konzept sah also ein Projekt vor, das „eingeschlossen, sozial eingeschränkt oder auf Distanz gehalten“ organisiert werden konnte – ohne einen Ort wie ein Theater, eine Galerie, einen Konzertsaal oder einen Club, an dem man sich treffen und austauschen kann. Was bleibt, ist das Digitale. Das private Umfeld wird hier zum Ort der Interaktion. So entstand „1000 Scores“. Als Score wird dabei eine Disziplin-übergreifende künstlerische Praxis verstanden, deren Ziel es ist, Menschen aus ihrer heimischen Isolation heraus mit ihrer Umgebung zu verbinden. Die Online-Nutzer werden also zu Protagonisten in Performances, die eigens für sie konzipiert wurden.
Anweisungen für zu Hause
Ein Score kann ein Gedicht sein, eine Skizze, ein Text oder ein Bild. Immer ist damit eine Handlungsaufforderung verbunden. Jedes der Werke ist dabei eine Auftragsarbeit, die von den internationalen Kunstakteuren eigens erstellt wurde.
Ohne das Publikum „funktionieren“ die Arbeiten nicht. Die Performance entsteht im Kopf des Online-Nutzers – oder wird bestenfalls auch in einer Aktion vom Nutzer ganz praktisch umgesetzt. Ähnlich funktioniert übrigens auch die „Schule der Folgenlosigkeit“, ein Projekt des Architekten und Designtheoretikers Friedrich von Borries für das MK&G Hamburg. Das Projekt versteht sich als Aufforderung zu künstlerischen oder „Urbanen Interventionen“ – ob Selfies machen, jemandem für eine kurze Zeit folgen oder eine Warteschlange starten. Alles kann unter dem Hashtag #folgenlos in Social Media geteilt werden. Auch einige der „1000 Scores“ laden zum Teilen mit anderen Menschen ein.
So leitet der Projekt-Mitinitiator David Helbich in seiner Arbeit „Some Things Cannot Be Undone. Others Can.“ etwa dazu an, ein Musikstück aufzunehmen und es dann zu versenden:
- 1) Man füllt ein Weinglas mit einem Getränk nach Wahl.
- 2) Dann erzeugt man mit dem Finger auf dem Glasrand einen Ton und nimmt diesen mit dem Smartphone auf.
- 3) Nun prostet man in Gedanken einem Menschen zu, den man schon einige Jahre nicht getroffen hat, und trinkt einen Schluck.
- 4) Man wiederholt Punkt 2) und 3) bis das Glas leer ist. Punkt 3) wird dabei jedes mal abgewandelt. Man denkt etwa an ein Objekt, das man seit Jahren nicht mehr hatte, an einen Ort, an dem man seit Jahren nicht mehr war, oder an eine Tätigkeit, die man seit Jahren nicht getan hat.
- 5) Nun werden die Aufnahmen nach und nach auf dem Smartphone abgespielt. Die Gedanken werden wiederholt, aber statt zu trinken füllt man nun jedes Mal das Glas wieder ein bisschen auf. Am Ende ist das Glas wieder voll.
- 6) Die Tonaufnahme kann nun an jemanden gesendet werden. Dann kann die Aufnahme auf zwei Geräten gemeinsam abgespielt werden.
Anderen Scores sind nur für den Online-Nutzer selbst gedacht. So wird man zum Beispiel dazu aufgefordert, sich und andere „Versionen“ von sich zu malen und die Bilder im Anschluss zu verbrennen (Tracy Chahwan: How to completely lose your sense of identity…), seinen Kopf in eine Waschmaschine zu stecken und hier zu lachen, zu weinen oder zu singen (Laila Soliman: Dear You) oder über die Mikroben auf den eigenen Händen nachzudenken und sie dann mit Stiften zu malen, wie sie auf der Haut eine Party feiern (Elaine Whittaker: Microbial Gestures).
Nach und nach werden übrigens immer wieder neue Werke auf der Website des Projekts unter 1000scores.com veröffentlicht. Wer allen Handlungsanweisung folgen würde, hätte sehr viel zu tun. Zum Glück kann man aber auch einige Scores umsetzen, wenn die Corona-bedingten Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden. Denn nicht für alle Aufgaben muss man alleine sein – einiges ist zusammen vielleicht noch schöner.
1000 Scores: Pieces for Here, Now & Later
Rimini Apparat, 1000 Scores
Projektzeitraum: 18.06.2020 – 31.12.2021
Header-Bild: Eduard Wasow: Großrundfunksendeanlage bei München, Vorhalle (vor 1934) – Münchner Stadtmuseum, FM-2018/94.6 – CC BY-SA 4.0 – bearbeitet und beschnitten
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