Von Stonewall bis Ballroom: Das Museum of Trans Hirstory & Art

Nicht alles in unserer Gesellschaft ist binär, das zeigt das Museum of Trans Hirstory & Art, kurz MOTHA, mit der Ausstellungsreihe und der Publikation „Trans Hirstory in 99 Objects“.

Nicht alles in unserer Gesellschaft ist binär, das zeigt das Museum of Trans Hirstory & Art, kurz MOTHA, mit "Trans Hirstory in 99 Objects".

[Rezension] Jenseits von History, der Geschichtsschreibung aus männlicher Sicht, und auch jenseits von Herstory, also dem Blick auf die Geschichte aus weiblicher Perspektive, gibt es noch eine dritte Möglichkeit, Geschichte zu betrachten – die Hirstory, abgeleitet vom geschlechtsneutralen Pronomen hir, als Abgrenzung zu den Pronomen his und her. Dieser Form der geschlechtsneutralen, trans-zentrischen Kunst- und Aktivismus-Geschichte widmet sich das Museum of Trans Hirstory & Art, kurz MOTHA, das im Jahr 2013 vom US-amerikanischen Künstler Chris E. Vargas gegründet wurde. Die Mission der Institution ist es, die Bedeutung von Trans-Kunst und -Geschichte in der aktuellen kulturellen und politischen Landschaft zu verorten. Im Zentrum steht dabei die Ausstellungsserie „Trans Hirstory in 99 Objects“, die zwischen 2015 und 2019 unter anderem im Portland Art Museum, im Oakland Museum of Art oder im New Museum in New York zu sehen war.

Anlässlich des zehnten MOTHA-Jubiläums ist nun im Hirmer Verlag die englischsprachige Publikation „Trans Hirstory in 99 Objects“ erschienen, die erstmals einen Überblick über 99 Objekte und Themen aus der Ausstellungsreihe und auch darüber hinaus bietet – von einer historischen Darstellung einer Schwarzen, nicht-binären Person durch Giovanni Antonio Cavazzi aus dem Jahr 1665 [1] bis hin zum Kunstprojekt „Clothing Hospital“ von 2022, das zum Gedenken an AIDS-Tote in Mexico ins Leben gerufen wurde. [2]


„Ich wollte [mit dem Museum] untersuchen, was passiert, wenn marginalisierte Geschichten in die Mainstream-Institutionen aufgenommen und auf großen Plattformen ausgestellt werden. Geschichte ist nie stabil. Wir haben immer einen Anteil an ihr, und sie ist immer abhängig von der Subjektivität von Erzählenden und den politischen Zielen in der Gegenwart.“ [3]

Chris E. Vargas, Gründer des Museum of Trans Hirstory & Art

Der Transgender Tipping Point in den USA

Im Mai 2014 verkündete das amerikanische TIME Magazine den „Transgender Tipping Point“, als Laverne Cox auf dem Titelblatt abgebildet wurde. Die Schwarze Schauspielerin war damals nicht nur Star der Netflix Hit-Serie „Orange Is the New Black“. Der Magazin-Titel sorgte vor allem deshalb für Aufmerksamkeit, weil Cox auch als Gesicht der amerikanischen Transgender-Bewegung galt. Nur ein Jahr nachdem der US-Supreme Court die „Ehe für alle“ legalisiert hatte, und damit die Rechte von Homosexuellen stärkte, wies das Magazin auf „America’s next civil rights frontier“ hin – die Bürgerrechte von Trans-Personen. Im Jahr 2015 legte TIME dann noch einmal nach mit dem „TransJenner Tipping Point“ – diesmal auf dem Cover abgebildet war Reality-TV-Star Caitlyn Jenner, bekannt aus „Keeping Up with the Kardashians“. Jenner löste mit ihrem Coming-Out als trans Frau in den USA eine regelrechte Welle der Medienfaszination für das Thema Transgeschlechtlichkeit aus.

Erstmals fand Trans-Kunst und -Kultur in vielen Institutionen statt, die dem Thema bisher verschlossen geblieben waren. So waren bei der Whitney Biennale 2014 plötzlich mehrere Trans-Kunstschaffende prominent vertreten, darunter Zackary Drucker, Rhys Ernst und Yve Laris Cohen. Ebenfalls 2014 rief Susan Stryker das erste akademische Trans-Studienprogramm, den Trans Studies Research Cluster (TSRC), an der University of Arizona in Tucson ins Leben und gab zusammen mit Paisley Currah „TSQ: Transgender Studies Quarterly“ heraus, die erste nicht-medizinische akademische Zeitschrift für Trans-Studien.

Diese Welle der medialen Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit führte zum weit verbreiteten Irrglauben, dass sich in den USA das Leben für Trans-Personen verbessern würde – doch das war nicht der Fall. Wie MOTHA-Gründer Chris E. Vargas im Vorwort der Publikation „Trans Hirstory in 99 Objects“ betont, bedeutete mehr Sichtbarkeit für viele eine größere Verwundbarkeit, vor allem für diejenigen, deren Leben bereits prekär ist, die also weniger Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen wie Arbeit, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Bildung haben. Besonders gefährdet sind hier Schwarze und POC sowie Menschen mit Behinderung oder Erkrankungen, hierunter insbesondere trans Frauen. Vor allem in den USA hat sich die Situation in den letzten Jahren für Mitglieder der Trans-Communitys immer weiter verschlechtert, angetrieben durch eine Medienhysterie und verbunden mit einer Flut von Anti-Trans-Gesetzen in diversen US-Staaten, die den Zugang zu Toiletten, Sport, Bildungseinrichtungen und geschlechtergerechter medizinischer Versorgung einschränken.

Vor diesem Hintergrund wurde das Museum of Trans Hirstory & Art gegründet, zum einen um die Nachteile der medialen Hypervisibilität zu untersuchen, zum anderen aber auch um auf die künstlerische Arbeit, den politischen Aktivismus und die gesellschaftliche Bedeutung von Trans-Personen aufmerksam zu machen.


Mehr Konzept als klassisches Museum

Ausgangspunkt bei der Gründung des MOTHA war die Frage, wie ein Trans-Kunst- und Geschichtskanon aussehen könnte und ob es möglich wäre, diesen Kanon inklusiv zu gestalten – was eigentlich dem Prozess der Kanonisierung widerspricht. Gleichzeitig sollte auch über die Funktion eines Museums selbst reflektiert werden, also über die Fragen, wer entscheidet was kulturell wichtig ist und was bewahrens- und ausstellungswürdig ist. Das Museum of Trans Hirstory & Art soll zudem über die Geschichte des Sammelns und dessen Beziehung zum Kolonialismus reflektieren und Kunstschaffende unterstützen, die sich kritisch mit Museen auseinandersetzen.

Seit seiner symbolischen Gründung im Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco im Jahr 2013 ist das MOTHA bis heute ein rein konzeptionelles Museum, ohne physischen Standort. Dennoch beansprucht die Institution den Museumsstatus, weil Museen kulturelles Gewicht haben und öffentliches Vertrauen schaffen. Diesen Status nutzt das MOTHA, um über die Ressourcen etablierter Museen und Kultureinrichtungen die Arbeit von Trans-Akteuren aus Kunst und Kultur zu fördern. Die wahre Stärke der Institution ist nämlich das große Netzwerk, das sich aus trans- und nicht-binären Akteuren aus Kunst, Literatur, Wissenschaft, Aktivismus, Politik und Kultur zusammensetzt.

Gemeinsam stellt sich das Netzwerk der Frage, wie man eine Geschichte von Trans-Personen erforschen und bekannt machen kann, wenn sich die Sprache und die Identitätskategorien ständig verändern. Die Trennung von Sexualität und Geschlechtsidentität ist zum Beispiel relativ neu. Und obwohl der Begriff „Transgender“ noch nicht so alt ist, bedeutet er heute schon etwas anderes als noch vor ein paar Jahrzehnten. Der Begriff „nicht-binär“ hat zum Beispiel heute eher die Bedeutung wie einst „Transgender“. Vor diesem Hintergrund stellt sich für das MOTHA auch die Frage, wo angesichts so vieler gesellschaftlicher Veränderungen nach der Geschichte von Transgeschlechtlichkeit und Transidentität gesucht und wie diese bewahrt werden soll, und welche ethische Verantwortung damit verbunden ist, das heutige Verständnis auf historische Schicksale anzuwenden, und zwar über geografische und kulturelle Grenzen hinweg.


Das Buch „Trans Hirstory in 99 Objects“ ist „ein spielerischer (und unmöglicher) Versuch, eine zusammenhängende Geschichte der Trans-Kunst und -Kultur zusammenzustellen, während es auch die Herausforderungen anerkennt. Es ist eine vergebliche, aber notwendige Arbeit.“ [4]

Chris E. Vargas, Gründer des Museum of Trans Hirstory & Art

Trans Hirstory in 99 Objects

Zu den zentralen Projekten des MOTHA zählt „Trans Hirstory in 99 Objects“, was zunächst als eine Reihe von Ausstellungen konzipiert war und nun als Buch erschienen ist. Vorbilder für das Projekt waren Konzepte wie „A History of the World in 100 Objects“ (2011) des British Museum oder „A History of America in 101 Objects“ (2013) des Smithsonian. Bei „Trans Hirstory in 99 Objects“ werden insgesamt 99 Objekte und Konzepte vorgestellt, die für die Erzählung der Geschichte von Trans-Communitys von Bedeutung sind, von Kunstwerken über Archivdokumente und Publikationen bis hin zu Filmen, Videos und anderen Artefakten. Die Anzahl von 99 wurde dabei bewusst gewählt – als ein Sinnbild für Unvollständigkeit, denn die Trans-Geschichte wird fortwährend weiter geschrieben.

Die ersten drei Ausstellungen der Reihe „Trans Hirstory in 99 Objects“ waren kreative und kritische Erkundungen von LGBTQ-Archiven und Sammlungen, die sich auf regionale Geschichten konzentrierten, und zwar 2015 in den ONE National Gay & Lesbian Archives an der University of Southern California in Los Angeles, 2016 in der Henry Art Gallery an der University of Washington in Seattle und 2018 in den Transgender Archives an der University of Victoria in British Columbia. Die Ausstellungen untersuchten, welche Geschichten und Biografien in den queeren Archiven enthalten waren und welche nicht, und kombinierten eine Mischung aus neu recherchierten Objekten aus den Archiven sowie Rekonstruktionen und Neuinterpretationen fehlender Geschichten.

Die vierte Ausstellung fand 2018 im Portland Art Museum statt und konzentrierte sich auf bewegte Trans-Bilder. In einem an eine Videothek erinnernden Raum wurden hier neun Kurzfilme von zeitgenössischen transsexuellen Kunst- und Filmschaffenden vorgeführt. Die fünfte Ausstellung „Consciousness Razing – The Stonewall Re-Memorialization Project“ fand 2018 im New Museum in New York City statt, im Vorfeld des fünfzigsten Jahrestages des Stonewall-Aufstands in New York City im Jahr 1969, der oft als Beginn der modernen LGBTQ-Bewegung gefeiert wird. In der Ausstellung untersuchte Chris E. Vargas Stonewall als geografisch, demografisch und historisch umstrittenen Ort, indem er zwölf Kunstschaffende dazu aufforderte, neue Gedenkstätten für den Aufstand als Modelle zu entwerfen. Die bisher letzte Station der Reihe war 2019 im Oakland Museum of California ein Teil der Ausstellung „Queer California: Untold Stories“, in der ebenfalls dem fünfzigsten Jahrestag von Stonewall gedacht wurde.

Die nun im Hirmer Verlag erschienene Publikation „Trans Hirstory in 99 Objects“ ist kein klassischer Katalog dieser Ausstellungen. Während sich diese auf physische, ausstellungsfähige Objekte konzentrierten, erlaubt das Buch auch die Einbeziehung von verloren gegangenen Geschichten und Objekten, ebenso wie von historischen Ereignissen, wie etwa Crystal LaBeijas ikonischem Auftritt in der Ballroom-Dokumentation „The Queen“ (1968). [5] In insgesamt neun Abschnitten geht es in der Publikation unter anderem um Objekte und Artefakte zu den Themen Transformation, um die mediale Sichtbarkeit von Trans-Themen und die kulturellen Reaktionen darauf, um spirituelle Aspekte oder um Orte der Trans-Kultur. Den 99 Objekten und Themen sind jeweils Texte verschiedener Personen aus Kunst, Wissenschaft, Literatur oder Aktivismus zugeordnet; auch Interviews mit diversen Kunstschaffenden und Community-Legenden finden sich hier. So bildet die Publikation einen umfangreichen Einblick in die Trans-Kultur und -Geschichte – und macht neugierig auf eine Fortsetzung.


Die von David Evans Frantz, Christina Linden und Chris E. Vargas herausgegebene Publikation „Trans Hirstory in 99 Objects“ erschien 2024 im Hirmer Verlag (ISBN: 978-3-7774-4108-5). Der Band enthält die bebilderte Vorstellung von 99 Objekten zur Trans-Geschichte und eine Chronologie zum MOTHA.


Header-Bild: Antonio Canova: Reclining Naiad (1819–24) – Metropolitan Museum of ArtPublic Domain


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Angelika Schoder

Über die Autorin

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Objekt 57: Giovanni Antonio Cavazzi: Depiction of a Jinbandaa (ca. 1665-68), SA Smythe, In: Trans Hirstory in 99 Objects, 2024, S. 174f.

[2] Objekt 77: Brandy Basurto, Emma Yesica Duvali, César González-Aguirre, Terry Holiday, Erika Molina, Samuel Nicolle, and María Ponce: Clothing Hospital (2022), César González-Aguirre, In: Ebd., S. 228f.

[3] Chris E. Vargas: Welcome to MOTHA, In: Ebd., S. 10.

[4] Ders., S. 14.

[5] Objekt 11: Crystal LaBeija’s Iconic Read In The Queen (1968), Sydney Baloue, In: Ebd., S. 48.


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