[Ausstellung] Die aktuelle Ausstellung zu William Kentridge ist vielleicht die aufwändigste, die in den Hamburger Deichtorhallen in den vergangenen Jahren realisiert wurde. Der großräumige Hallenbau wird dabei in zahlreiche Fragmente zerlegt, in Boxen und Räume im Raum, in kleine Kinos und eine Bibliothek. Nach Aussagen des Künstlers ist die Ausstellung „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“, die vom Zeitz Museum of Contemporary Art Africa (Zeitz MOCAA) in Zusammenarbeit mit William Kentridge konzipiert und organisiert wurde, seine bisher größte.
Zeichnungen und Drucke
William Kentridge (*1955) verarbeitet in seinen Werken Themen wie soziale Ungerechtigkeit, die Südafrikanische Geschichte und den Kolonialismus, aber auch Flucht und Vertreibung. Er greift hierzu auf die unterschiedlichsten Medien zurück, wobei Zeichnungen und Drucke stets eine zentrale Rolle einnehmen. Die Deichtorhallen zeigen nun Werke aus über 40 Jahren von Kentridges künstlerischem Schaffen, von Zeichnungen und Animationsfilmen über Videos, Drucke und Skulpturen bis hin zu Tapisserien und raumgreifenden Installationen. Man trifft auf vieles, was bereits bekannt ist – immerhin gab es in den letzten Jahren mehrere große Ausstellungen zu William Kentridge, etwa 2016 im Berliner Martin-Gropius-Bau oder 2019 im Kunstmuseum Basel. Der Ausstellung „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“, die von Azu Nwagbogu, Tammy Langtry und dem Kentridge Studio kuratiert und von der Bühnenbildnerin Sabine Theunissen entworfen wurde, gelingt es aber dennoch, neue Blickwinkel auf die Arbeiten des südafrikanischen Künstlers zu eröffnen.
Den Einstieg in die Ausstellung bilden die frühen Druckfolgen „Industry and Idleness“ (1989), in der Kentridge sich auf eine Serie des britischen Druckgrafikers und Malers William Hogarth bezieht, sowie „Little Morals“ (1991), in der es um Südafrikas Übergang zur Demokratie geht. Drucke wie „Domestic Scenes“ (1980) zeigen zudem Kentridges Interesse am Theater. Sie entstanden für das Stück „Dikhitsheneng (The Kitchens)“, für das er das Drehbuch schrieb und bei dessen Inszenierung am Market Theatre in Johannesburg er auch Regie führte.
In der Ausstellung folgen drei Siebdrucke aus dem Jahr 1988, in denen Kentridge sich mit der politischen Rolle der Kunst auseinandersetzt. In „Art in a State of Hope“ bezieht er sich auf die Kunst der Konstruktivisten in der Sowjetunion, in der es um utopisches Denken ging. In „Art in a State of Grace“ nimmt Kentridge Bezug auf die Scherenschnitte und Gemälde von Matisse und den Rückzug der Kunst in eine Sphäre der Schönheit. In „Art in a State of Siege“ setzt sich Kentridge hingegen mit seiner eigenen Biografie auseinander. Als Kind der Apartheid in Südafrika sieht er seine Kunst in einem Entstehungskontext eines Belagerungszustands, in dem kein Gedanke an Utopie oder an einen Rückzug aus der Realität möglich ist.
„Die Zeichnung entspricht mir als Medium des Bildermachens am meisten. Beim Zeichnen denkt man quasi laut nach. Ein Gemälde wird vor der Verwirklichung oft sorgfältig vorgeplant. Eine Zeichnung hingegen ist fast immer Ergebnis eines unmittelbaren Ausarbeitungsprozesses. Das Zeichnen mit Kohle und die Möglichkeit des Ausradierens sind sehr flexibel. Dies ist mit der Änderung und Verfeinerung eines Gedankens vergleichbar. Zeichnen ist wie Denken.“ [1]
William Kentridge
Bühnenwerke und Filme
In der Ausstellung „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“ sind zahlreiche Filme von William Kentridge zu sehen, etwa „Ubu Tells the Truth“ (1997) – ein Animationsfilm, der aus einer gleichnamigen Grafikserie entstand. Es ist zugleich ein Bühnenwerk, das Kentridge gemeinsam mit der Handspring Puppet Company und der Autorin Jane Taylor im Jahr 1997 gestaltete. Als Vorlage für die Radierungen zur Figur Ubu nutzte Kentridge Fotos von sich selbst. Im Theaterstück, ebenso wie im Animationsfilm, treffen Motive der Groteske „König Ubu“ (1896) von Alfred Jarry auf Motive des Beweismaterials, das der Truth and Reconciliation Commission vorgelegt wurde und bei dem es um Menschenrechtsverletzungen während der Apartheid in Südafrika ging.
Internationale Anerkennung erlangte William Kentridge durch seine 1989 begonnenen Reihe der „Soho“-Kurzfilme. Die Figuren Soho Eckstein und Felix Teitelbaum tauchen in zahlreichen Werken Kentridges immer wieder auf. Die Filme, die auf Kohlezeichnungen basieren, entstehen durch Zeichnen, Ausradieren und Neuzeichnen, woraus sich eine Bildabfolge ergibt – ganz ohne Skript. Inhaltlich spiegeln die Filme das Südafrika zur Zeit ihrer Entstehung.
In den Deichtorhallen ist auch die Videoinstallation „KABOOM!“ (2018) zu sehen. Sie zeigt die Zeichnungen und das Modell für die multimediale Theaterperformance „The Head and the Load“ (2018), bei der auf einer 55 Meter breiten Bühne 40 Schauspieler zum Einsatz kamen. Kentridge befasst sich hier mit dem Ersten Weltkrieg in Afrika, bei dem über eine Million Todesopfer zu beklagen waren, überwiegend aus der zivilen Bevölkerung. Ergänzend zur Videoinstallation zeigen die Deichtorhallen hier Kentridges Kohlezeichnungen mit dem Titel „Colonial Landscape Series“ (1994/95), in denen er sich ebenfalls mit der Kolonialgeschichte und der Stellung Afrikas im Ersten Weltkrieg auseinandersetzt.
In der gesamten Ausstellung sind zudem mehrere kleinere Holz-Boxen mit verschiedenen Videos platziert. Zu sehen ist hier etwa „Second-hand Reading“ (2008), ein Daumenkino aus dem ein Film entstand. Im Mittelpunkt steht die Figur des Künstlers, der sich über Buchseiten bewegt. Das Video erinnert an Kentridges Beschreibung, wir er sich auf der Suche nach einer Idee durch sein Atelier begibt.
Tapisserien und eine verliebte Maschine
Besonders beeindruckend sind die großformatigen Wandteppiche in der Kentridge-Ausstellung in den Deichtorhallen. Die meisten der Tapisserien stammen aus der „Porter Series“, die zwischen 2001 und 2007 entstand und in Johannesburg gewebt wurde. Basis hierfür sind kleine Skizzen der Silhouetten von Menschen und Pferden, deren Umrisse auf einer topographischen Landkarte platziert werden und die dann auf die tatsächliche Größe der Wandteppiche vergrößert werden. Für Kentridge kommt der Bildteppich einer digitalen Videoprojektion am nächsten, da diese wie eine bewegliche Wandmalerei seien.
Inmitten der Tapisserien befindet sich die Installation „O Sentimental Machine“, die für die 14. Istanbul Biennale im Jahr 2015 geschaffen wurde. Kentridge setzt sich hier mit Revolutionsführer Leo Trotzki auseinander, der von 1929 bis 1933 auf der vor Istanbul gelegenen Insel Büyükada im Exil lebte. Nach einem Feuer auf der Insel zog Trotzki in ein Hotel um – die Installation ist eine Rekonstruktion des Foyers im Hotel Splendid. Hier wurde „O Sentimental Machine“ auch während der Biennale gezeigt. Kentridges Idee hinter seinem Werk ist es, hier die Träume zu zeigen, die nachts durch die Flure des Hotels schweben. Zu sehen sind Projektionen, die eine Liebesgeschichte zwischen einem Megafon und der Sekretärin Trotzkis abbilden. Zentrale Themen sind Trotzkis Utopismus, aber auch die Unvollkommenheit von Maschinen.
Zur Installation gehört auch die im Nebenraum ausgestellte „Heartbeat Sewing Machine“, eine mechanische Nähmaschine der Jahrhundertwende, die von Kentridge mit moderner Technik ausgestattet wurde. Anstelle einer Nähnadel treibt die Maschine ein Megaphon im Rhythmus eines Herzschlags an. Die Maschine erhält damit in gewisser Weise ein Herz – und damit auch die Möglichkeit, sich zu verlieben. Es ist die Maschine, in die sich Trotzkis Sekretärin in „O Sentimental Machine“ verliebt.
Kentridges „Triumphs and Laments“
Die Figuren auf Kentridges Teppichen der „Porter Series“ erscheinen auch in seinen späteren Werken, etwa in der Videoinstallation „More Sweetly Play the Dance“ (2015) oder in „Triumphs and Laments“. Letzteres ist ein 550 Meter langer Fries, den William Kentridge im Jahr 2016 an den Ufern des Tiber in Rom schuf. Der Künstler nahm damit Bezug auf die wechselvolle römisch-italienische Geschichte, von der Gründung Roms bis zur aktuellen Situation von Geflüchteten, die über das Mittelmeer Italien zu erreichen versuchen.
Der Fries in Rom entstand durch das Abtragen von Verschmutzungen an der Flussmauer. Wenn im Laufe der Jahre die Verschmutzung zunimmt, wird der Fries mit der Zeit wieder verschwinden. Die Deichtorhallen zeigen zu „Triumphs and Laments“ Holzschnitte, Drucke und eine Videoaufzeichnung zur Entstehung – das einzige, was langfristig vom Projekt noch erhalten bleiben wird. Kentridge sieht diese Arbeit als eine Art Gedächtnisersatz für etwas, an das wir uns nicht erinnern wollen.
Das Lesezimmer und die Modelloper
Die zweite große Installation, neben „O Sentimental Machine“, ist der „Reading Room“. Das Lesezimmer dient als Bibliothek zur Ausstellung, da die Besucher hier an einem langen Tisch Platz nehmen und diverse Publikationen und Ausstellungskataloge zu William Kentridge lesen können. Es geht um den Akt des Lesens als eine Art kontinuierliche Suche nach Informationen, um eine Balance zwischen „Lesen und Schauen“, in der man zugleich in ein Buch hinein, aber auch in die Welt hinausgeführt wird.
Die Installation dient aber nicht nur den Besuchern als Leseort; gezeigt werden hier auch Kentridges Arbeiten, etwa Tuschzeichnungen auf gefundenen Buchseiten, in denen der Künstler Blumenbouquets mit Texten aus chinesischen Parabeln verschmilzt, ebenso mit Gedichten der Tang-Dynastie und Botschaften aus der Mao-Bibel. Die Bilder fertigte Kentridge für seine erste große Retrospektive in China mit dem Titel „Notes Towards a Model Opera“ (2015).
Bei „Notes Towards a Model Opera“ handelt es sich eigentlich um einen Film, der die Form der Modelloper aufgreift, wie sie in China während der Kulturrevolution aufgeführt wurde. Kentridge setzt sich hier mit dem gegenwärtigen Kolonialismus und den Beziehungen zwischen China und Afrika auseinander. Die Musik zur Installation stammt von Philip Miller und greift verschiedene Versionen des Arbeiterkampflieds „Die Internationale“ auf. Im Video zu sehen ist die Tänzerin Dada Masilo, die häufiger mit Kentridge zusammenarbeitet. Die Hamburger Deichtorhallen zeigen die Installation in einem Raum, der mit massiv wirkenden dunklen Korkplatten verkleidet ist.
Über „Notes Towards a Model Opera“ sagt der Künstler:
„Während der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China zwischen 1968 und 1976 gab es eine große Kontrolle darüber, welche Bilder und welche Theaterstücke gemacht werden konnten, und nur eine begrenzte Anzahl von Theatern durften die so genannten revolutionären Modellopern spielen. Diese benutzte ich als Grundlage für den Tanz und die Aufführungen in dieser Drei-Kanal-Projektion.“ [2]
William Kentridge
William Kentridges Atelier
Die Ausstellung „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“ bietet auch einen Blick in William Kentridges Atelier in Johannesburg, den zentralen Ort seines künstlerischen Schaffens. Radierungen, Lithografien, Siebdrucke, bemalte Bronzeskulpturen, experimentelle Zeichnungen in 3D und Vorarbeiten für verschiedene Projekte treffen hier aufeinander – in einem Video, das den Künstler zeigt, aber auch in Form von Objekten in Vitrinen. Besonders interessant ist hier ein Modell der „Halle für Aktuelle Kunst“ der Deichtorhallen, anhand der die Ausstellungsplanung erfolgt ist. Ersichtlich wird die Unterteilung der Halle, die Platzierung der Werke im Raum, aber auch Vorschläge zur Farbgestaltung der Wände und zu den in der Ausstellung verwendbaren Materialien.
Die Installation in der Ausstellung ist keine Rekonstruktion des tatsächlichen Ateliers; es geht eher darum, das Atelier als „Denkmaschine des Künstlers“ darzustellen. Für Kentridge ist das Atelier, ein Raum, „in den die Welt eingeladen ist.“
„Das Atelier wird nicht nur zum Diagramm, sondern zur greifbaren Demonstration dessen, was wir in unseren Köpfen ständig tun: Informationen aufnehmen und sie mit Dingen zusammen führen, die wir bereits kennen – Bilder, Gedanken, Assoziationen – und uns die Welt zusammenreimen, indem wir diese beiden unterschiedlichen Prozesse kombinieren.“
William Kentridge [3]
Platons Hölengleichnis als Totentanz
Zu den beeindruckendsten Werken in der Ausstellung „Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“ zählt die Installation „More Sweetly Play the Dance“ (2015). Das Video hierzu wurde in Kentridges Atelier in Johannesburg aufgenommen. Die Musik, die im Ausstellungsraum über große Megafone verbreitet wird, stammt von der African Immanuel Essemblies Brass Band. Die Musiker der Band sind im Video neben Schauspielern und Kunstakteuren zu sehen, wie sie mit ihren Instrumenten als Schatten-Prozession an den Betrachtern vorbeiziehen.
Das Video basiert auf animierten Kohlezeichnungen und wirkt wie eine endlose Reihe an verschiedenen Charakteren, die sich durch eine verdorrte oder zerstörte Landschaft bewegt. Woher sie kommen und wohin sie gehen, bleibt unklar; unter ihnen sind Kranke und Skelette, Politiker und Musiker, Soldaten und groteske Figuren.
Kentridge bezieht sich mit diesem Werk auf Platons Höhlengleichnis: Ziel ist der Aufstieg aus der Welt der vergänglichen Dinge (der Höhle) in die geistige Welt des Seins. Der Titel des Werks ist zudem an Paul Celans „Todesfuge“ (1948) angelehnt, in dem sich der Autor mit dem Holocaust auseinandersetzt.
„Der Totentanz besagt, dass jeder Mensch der Seuche jederzeit unterliegen kann, und dass sich der Tod den Papst ebenso holt wie das Kind. Ebola hat gezeigt, dass sich die Situation damals in Westafrika der Kontrolle entzieht – was auch der Schrecken von Covid-19 aktuell deutlich macht – und dass selbst die intensivsten Bemühungen der westlichen Medizin uns nicht automatisch ein Heilmittel bescheren können. Insofern ist meine Arbeit weder zeitlos noch auf eine bestimmte historische Periode gerichtet.“
William Kentridge [4]
William Kentridge. Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work
Deichtorhallen Hamburg
Halle für Aktuelle Kunst
23.10.2020-01.08.2021
Bilder: Angelika Schoder – Deichtorhallen, Hamburg 2020
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Zitiert nach: Belinda Grace Gardner: Das Absurde ist für mich eine wichtige Kategorie, In: HALLE4 – Magazin der Deichtorhallen, 22.10.2020
[2] Zitat aus dem Ausstellungstext zu „William Kentridge. Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work“ in den Deichtorhallen.
[3] Ebd.
[4] Zitiert nach: Gardner, siehe oben.
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