Leiko Ikemura: Nach neuen Meeren

Das Kunstmuseum Basel widmet der japanisch-schweizerischen Künstlerin Leiko Ikemura mit der Ausstellung „Nach neuen Meeren“ eine Retrospektive.

Das Kunstmuseum Basel widmet der japanisch-schweizerischen Künstlerin Leiko Ikemura mit der Ausstellung "Nach neuen Meeren" eine Retrospektive.

[Pressereise] Die Künstlerin Leiko Ikemura taucht seit den 1980ern in ihrem kreativen Schaffensprozess in die westliche Kunst ein und nähert sich gleichzeitig ihrer kulturellen Heimat Japan an. In ihren Werken finden sich Einflüsse der europäischen und der japanischen Kulturen zu einer Synthese zusammen. Das Kunstmuseum Basel widmet der Künstlerin jetzt eine Retrospektive, in der ihre phantastischen Mischwesen, merkwürdigen Mädchenfiguren und mystischen Landschaften in Form von Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen zu sehen sind. Begleitend zur Ausstellung „Nach neuen Meeren“, die in Zusammenarbeit mit der Künstlerin und dem National Art Center in Tokyo entstand, ist zudem ein Ausstellungskatalog erschienen, der einen tieferen Einblick in das Werk von Leiko Ikemura ermöglicht.


Nach neuen Meeren

Dorthin – will ich; und ich traue
mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit -:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!

Friedrich Nietzsche (1887)

Nach neuen Meeren

Leiko Ikemura wurde 1951 in Japan geboren und lebt seit 1972 in Europa. Nach einem Sprach- und Kunst-Studium in Sevilla zog sie 1979 in die Schweiz, später dann nach Deutschland. Inspirationsquelle ihres Schaffensprozesses ist die Auseinandersetzung mit dem Fremdsein in einer Kultur und die Begegnung mit dem Neuem. Auf diesen immer wieder neu gewagten Aufbruch – persönlich und auch künstlerisch – verweist auch der Titel der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Basel: „Nach neuen Meeren“ ist einem Gedicht von Friedrich Nietzsche entlehnt.

Die Künstlerin, die ihre japanische Herkunft und das damit verbundene kulturelle Erbe in ihre Werke einfließen lässt, bedient sich vieler Medien. Leiko Ikemura fertigt Zeichnungen und Druckgrafiken an, sie malt und fotografiert, sie verfasst Poesie und erschafft Skulpturen, insbesondere Keramiken. Ihre Werke zeigt das Kunstmuseum Basel in einer Retrospektive, die sich auf die wichtigsten Schaffensphasen der Künstlerin konzentriert.

Ähnlich wie in Nietzsches Gedicht, ist Ikemuras Werk von einer stetigen Aufbruchstimmung geprägt. Ihr Ziel ist aber weder die Entdeckung noch die Eroberung des Neuen, sondern es geht eher darum, den Mut aufzubringen, den der Aufbruch ins Unbekannte erfordert. [1]


Reflexion, Fabelwesen und Zwischenwelten

Leiko Ikemura befasst sich in den ersten Jahren ihrer künstlerischen Tätigkeit mit dem Kampf der Geschlechter. In düsteren Kohlezeichnungen versucht sie emotionale und körperliche Zustände als Momentaufnahmen festzuhalten, als eine Art in sich abgeschlossene Haiku-ähnliche Notizen. Dem gegenüber stehen großformatige Gemälde, etwa „Vogelspinnen“ (1983), in denen die Künstlerin ebenfalls Aggression und Gewalt thematisiert. [2]

Ende der 1980er entwickelt die Künstlerin eine neue visuelle Sprache. Ihr Aufenthalt in Graubünden und die Eindrücke der Berge verarbeitet sie zu einer Idee, die Körper und Landschaft verschmelzen ließ. Ihre Werkgruppe „Alpenindianer“ (1989/90) und spätere Werke zeigen archaisch anmutende Hybridwesen, die der schweizerischen Sagenwelt ebenso entsprungen sein könnten wie einem japanischen Manga-Comic. [3]

In den 1990ern entstehen die „Girls“ – weibliche Figuren, die zu Leiko Ikemuras Erkennungszeichen wurden. Die „Mädchen“ haben keine Gesichtszüge und bleiben damit rätselhaft, alterslos und emotional nicht näher bestimmbar. Nur ihre Hände und Körperhaltungen lassen eine Interpretation zu – es könnte, so wie in Ikemuras Frühwerk, auch hier um Gewalt und (Selbst-)Zerstörung gehen. [4]

Mit der Transformation des Menschen in seiner Umwelt setzt sich die Künstlerin zunehmend ab dem Jahr 2000 auseinander. Leiko Ikemura erschafft in ihren jüngsten Werken mystische Landschaften mit amorphen Figuren. Es zeigen sich Einflüsse des japanischen Shintoismus, der auf eine Belebung von Natur verweist. In Ikemuras Bildern, die in ihrer Technik an ostasiatische Tuschemalerei angelehnt sind, geht es um Geister in Bergen oder Pflanzen. Die Künstlerin verweist damit auch auf die zunehmende Bedrohung des menschlichen Lebensraums durch die Zerstörung der Natur. [5]


Fremdsein und Aneignung

Alles begann bei Leiko Ikemura mit Zeichnungen, die sie einmal als „Seelen-Seismograf“ bezeichnete. [6] Die in schneller, prozesshafter Abfolge entstandenen Blätter, bei denen es nie eine Korrektur gibt, spiegeln ihre seelische Befindlichkeit. Ihre Zeichnungen veröffentlicht die Künstlerin von Anfang an zusammen mit Texten. Damit stellt sie eine Beziehung zwischen Gedichten, allen voran dem Haiku, mit ihrer graphischen Arbeit her. Dieser Bezug zwischen zwei künstlerischen Ausdrucksformen zeigt zugleich die Synthese von europäischen und japanischen Einflüssen in Ikemuras Werk. Das Haiku ist in seiner knappen Form als Gedicht bereits eine Art suggestives Stillleben für sich. Die Form und das „zwischen den Zeilen“ charakterisieren auch die Zeichnungen der Künstlerin. Gemeinsam bilden Text und Bild einen Resonanzraum, obwohl sie sich nicht aufeinander beziehen. [7]

In den Zeichnungen von Leiko Ikemura sind Menschen, Pflanzen, Tiere und Häuser erkennbar, doch oft sind sie verzerrt oder verfremdet. Häufig tauchen auch abstrakte Inhalte auf, die sich nur schwer interpretieren lassen. Auffällig ist, dass sich die Elemente in den Bildern oft berühren oder einander sogar durchdringen. Interpretierbar sind diese Motive als Anziehung und Verführung, aber auch als Entwurzelung, Gefahr oder Verlorenheit. Ähnlich einem Haiku wird die Lesbarkeit von Ikemuras Werken in der Schwebe gehalten. [8]

Metamorphose Figuren zeigen sich nicht nur in Leiko Ikemuras Zeichnungen, sondern auch in ihren Skulpturen und Gemälden, die ab den 1990ern entstanden. Ihre mädchenhaften Wesen sind mitunter Mensch, Pflanze, Landschaft oder Muschel zugleich. Sie befinden sich in einem unbestimmbaren Zustand zwischen Sinnlichkeit, Bedrohlichkeit und Zerbrechlichkeit. Der Verweis auf Gewalt und Krieg, der Ikemuras frühes Schaffen prägte, wird seit den 2000ern ergänzt durch das Thema der Zerstörung der Natur durch den Menschen. [9] Die Fragen und Mahnungen, die Leiko Ikemura hier in ihrem Werk aufgreift, sind damit heute aktueller denn je.


Der Begleitband zur Ausstellung „Leiko Ikemura. Nach neuen Meeren / Towards New Seas“, herausgegeben von Anita Haldemann im Auftrag des Kunstmuseum Basel, ist 2019 bei Prestel erschienen (ISBN: 978-3-7913.5890-1). Der Band in Deutsch und Englisch enthält, neben zahlreichen Werk-Abbildungen und einer Biografie, Texte von Anita Haldemann, Mitsue Nagaya und Stefan Kraus.


Leiko Ikemura. Nach neuen Meeren

Kunstmuseum Basel
11.05. – 01.09.2019

musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die Einladung zum Besuch des Museums und für die Übernahme der Kosten der Reise.


Header-Bild: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2019


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Angelika Schoder

Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.

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Fußnoten

[1] Anita Haldemann: Leiko Ikemura – Zeichnungen und Aquarelle, In: Leiko Ikemura. Nach neuen Meeren / Towards New Seas, Hg.v. Anita Haldemann im Auftrag des Kunstmuseum Basel, Prestel Verlag 2019

[2] Dazu: Dies.: Katalog, In: Ebd., S. 47 und S. 65

[3] Dazu: Ebd., S. 85 und S. 99

[4] Dazu: Ebd., S. 113 und S. 131

[5] Dazu: Ebd., S. 143

[6] Dies.: Leiko Ikemura – Zeichnungen und Aquarelle, In: Ebd., S. 13, nach: Leiko Ikemura im Gespräch mit Friedemann Malsch, In: Kunst heute, Nr. 20/ 1998, S. 79

[7] Ebd., S. 15

[8] Ebd., S. 17, nach: Roland Barthes: Das Reich der Zeichen, 1981, S. 98

[9] Ebd., S. 21


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