[Ausstellung] Mit dem Kunstmuseum Basel, der Kunsthalle und dem Museum Tinguely verfügt die Stadt Basel nicht nur über einige der wichtigsten Museen für zeitgenössische Kunst in der Schweiz. Auch im Basler Umland sind wichtige Kunstmuseen zu finden, allen voran die Fondation Beyeler und das Vitra Design Museum an der deutschen Grenze. Doch auch in Richtung Frankreich lässt sich ein außergewöhnliches Kunstmuseum entdecken: die Fondation Fernet-Branca in Saint-Louis. Aktuell zeigt das Museum, das nur wenige Minuten außerhalb von Basel liegt, die Werke von Christophe Hohler und Raymond E. Waydelich. In der Ausstellung „anonymous – famous“ treffen poetische Arbeiten rund um düstere Wälder, Totentanz-Szenarien und einsame Gestalten auf dadaistische Installationen und skurrile Fabelwesen.

Eine Brennerei als Ort für Kunst
Wer den Namen Fernet-Branca hört, denkt zunächst an Hochprozentiges. Doch in der ehemaligen Brennerei im elsässischen Saint-Louis sind längst keine Destillerie-Kessel mehr in Betrieb. Statt dessen wurde der Gebäudekomplex im Jahr 2003 von Architekt Jean-Michel Wilmotte zu einem Museum umgestaltet, in dem nun die Fondation Fernet-Branca wechselnde Ausstellungen zu zeitgenössischer Kunst präsentiert.
Das unter Denkmalschutz stehenden Industriegebäude, in dem sich der Eingang zum Museum befindet, ist schon von weitem durch das heute noch sichtbare Logo der Spirituosenfirma erkennbar: eine riesige Adler-Skulptur, welche die Dächer von Saint-Louis überragt. Im Inneren dient nicht nur der luftige Hof der ehemaligen Brennerei als Ausstellungsort; auch die Produktions- und Verwaltungsräume des italienischen Spirituosenherstellers werden nun auf zwei Stockwerken für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt.

Stille Reflexion über das Menschsein
Die aktuelle Ausstellung der Fondation Fernet-Branca mit dem Titel „anonymous – famous“ widmet sich zunächst den Werken von Christophe Hohler (*1961). Gezeigt werden Zeichnungen in Kohle, Aquarell und Tusche, druckgrafische Arbeiten wie Radierungen und Zinkografien sowie Terrakotta-Skulpturen. Besonders beeindrucken aber seine großformatigen Arbeiten auf Leinwand, bei denen die menschliche Figur im Zentrum steht.
Bei Hohler erscheinen Menschen als Einzelgestalt, in Begegnungen oder auch in dicht gedrängten Gruppen. Auffällig ist dabei die Zeitlosigkeit seiner Figuren; ihre Kleidung lässt sich historisch nicht verorten und auch die Hintergründe bieten keine Hinweise auf geografische oder kulturelle Zuschreibung. Die dargestellten Personen scheinen dadurch losgelöst von Raum und Zeit, als würden sie eine Zwischenwelt ohne Anfang und ohne Ziel durchqueren.
Hohler reduziert die Darstellung in seinen Werken auf das Wesentliche: Körperhaltungen, Bewegungen, Gesten und Blicke. Seine Figuren sind nicht durch Besitz oder soziale Funktion definiert, sondern durch ihr bloßes Dasein. Wo sie auf Widerstand treffen, ist es meist die Natur, sei es eine karge Landschaft oder die Weite des Meeres. Trotz der oft düsteren Bildsprache, vor allem in seinem Bilderzyklus „Danses macabres“ (2018), schwingt in vielen Werken von Christophe Hohler auch Optimismus mit. Besonders spürbar wird dies in den menschenleeren Waldbildern „Forêt“ (2023), die Ruhe und etwas Geheimnisvolles ausstrahlen.

Ein Archäologe der Imagination
Den Arbeiten von Christophe Hohler werden in der Fondation Fernet-Branca die Werke von Raymond E. Waydelich (1938-2024) gegenübergestellt. Zu sehen sind hier Grafiken, Installationen, Objektkunst und multimediale Projekte des Künstlers.
Bereits auf der Biennale in Venedig 1978 hatte er mit seiner Installation „Homme de Frédehof“ im französischen Pavillon für Aufsehen gesorgt. Diese Arbeit markierte den Beginn seines langjährigen Projekts einer „Archäologie der Zukunft“, das er u.a. im Rahmen der documenta X 1997 in Kassel präsentierte. Waydelichs künstlerisches Anliegen war es, Spuren des Alltags zu bewahren; dafür konservierte er Gegenstände des täglichen Lebens in Betonkammern im öffentlichen Raum. Es war ein Versuch, das scheinbar Banale vor dem Vergessen zu retten. Zentral in seinem Werk ist auch die Geschichte um „Lydia Jacob“, ein imaginäres Biografieprojekt, das er über Jahrzehnte entwickelte. In der Geschichte verband er historische Fundstücke, fiktive Elemente und persönliche Reflexionen, oft auch zu Themen wie Umweltzerstörung oder der Bedrohung indigener Kulturen.
Sein bevorzugtes Ausdrucksmittel war die sogenannte „Mémorisation“, das sind Objektkästen, die er ganz nach dadaistischen Vorbildern mit diversen Objekten arrangierte, von Insekten bis hin zu Puppenköpfen. In den Kästen verknüpfte er Erinnerung, Erfindung und künstlerische Ideen, sie wurden so zum Sinnbild seiner ganz eigenen Bildsprache, in der Realität und Fiktion kunstvoll ineinandergreifen. Inspirieren ließ sich Waydelich durch Reisen zu archäologischen Stätten und durch das Studium diverser Kulturen, etwa in Kreta, Kanada oder Namibia.

Unbekanntheit und Ruhm
Den gedanklichen Ausgangspunkt für die Ausstellung in der Fondation Fernet-Branca bildet Andy Warhols Ausspruch „In Zukunft wird jeder 15 Minuten weltberühmt sein“. Die ironische Vorhersage des Pop-Art Künstlers zur medialen Aufmerksamkeitsökonomie liefert auch heute noch einen passenden Kommentar zur Vergänglichkeit von Ruhm. Vor diesem Hintergrund setzen sich die beiden Künstler Christophe Hohler und Raymond E. Waydelich auf sehr unterschiedliche Weise mit Fragen der Sichtbarkeit, Identität und Erinnerung auseinander.
Um den Weg aus der Anonymität zum Ruhm geht es etwa in der Geschichte von Lydia Jacob. Raymond E. Waydelich entdeckte 1973 das Tagebuch der verstorbenen Schneiderin und begann aus dieser Entdeckung ein außergewöhnliches Kunstprojekt zu entwickeln. Lydia Jacob hatte stets davon geträumt, Modedesignerin zu werden; ein Traum, der sich zu ihren Lebzeiten nie erfüllte. Fasziniert von ihrer Geschichte verlieh Waydelich ihr posthum eine zweite Identität: Er signierte seine Werke auch mit ihrem Namen, so als wäre sie seine künstlerische Kooperationspartnerin. Im Jahr 1978 trat „Lydia Jacob“ als künstlerisches Alter Ego Waydelichs sogar auf der Biennale in Venedig in Erscheinung. Damit verwandelte der Künstler eine anonyme Figur in eine symbolische Vertreterin der „Archäologie der Zukunft“, einem Werkkomplex von Waydelich, der Alltagsgegenstände in poetische Zeitzeugnisse verwandelt.
Auch Christophe Hohler macht das Anonyme zum Bekannten. In seinen großformatigen Gemälden zeigt er Menschen, die er zuvor in der Öffentlichkeit oder vom TV-Bildschirm fotografiert hat. Diese Figuren, herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext, gewinnen durch Hohlers malerische Transformation eine neue Bedeutung. Ihre Anonymität wird zur Projektionsfläche für existenzielle Fragestellungen. Die Ausstellung in der Fondation Fernet-Branca zeigt neben diesen bekannten Arbeiten auch einige weniger bekannte Werkserien Hohlers, etwa Landschaften, Blumen und Bäume, inspiriert von Kindheitserinnerungen an den elsässischen Sundgau.
„Meine Arbeiten sind nicht homöopathisch, sie sind vielmehr wie ein komisches Tier, das man bestaunt, vor dem man sich aber auch fürchtet.“ [1]
Cristophe Hohler
Verbindungen zweier gegensätzlicher Künstler
Trotz ihrer stilistischen Unterschiede verbinden Hohler und Waydelich mehrere Themen, so spielt Musik bei beiden eine zentrale Rolle. Hohler, selbst Musiker, bringt Klang performativ in seine Arbeiten ein, etwa durch Klaviersaiten-Abdrücke oder Live-Improvisationen. Waydelich hingegen war fasziniert von der Geschichte des Tonträgers und inszenierte Schallplatten als kulturelle Relikte. Auch Boote und Fischerei bilden ein gemeinsames Motivfeld der Künstler. Hohler zeigt diese Themen in Acryl-Öl-Pigment-Bildern und Skulpturen aus Gusseisen und Terrakotta; Waydelich nähert sich ihnen mit Mixed-Media-Werken. Eine interessante Verbindung entsteht in der Ausstellung auch zwischen Waydelichs „L’Angelus“-Variationen und einem Triptychon, das Hohler 2024 dem gleichen Thema widmete. Die Werke beziehen sich auf Darstellungen des „Angelusläuten“, wie etwa im Werk „L’Angelus“ (1859) des französischen Maler Jean-François Millet.
„anonymous – famous“ stellt die Frage nach Sichtbarkeit, Erinnerung und individueller Präsenz im Spannungsfeld zwischen Alltag und Kunst. Christophe Hohler und Raymond E. Waydelich zeigen auf ihre ganz eigene Weise, wie aus vergessenen Existenzen eindringliche Bilderwelten werden und wie Kunst anonymen Figuren eine Stimme geben kann.
Begleitend zur Ausstellung erschien 2025 die Publikation „anonymous – famous. christophe hohler“, herausgegeben von Christophe Hohler und Ute Dahmen für die Fondation Fernet-Branca (ISBN: 978-2-9570552-1-0). Der Band mit zahlreichen farbigen Werkabbildungen beinhaltet auch Kommentare des Künstlers sowie Texte von u.a. Ute Dahmen, Hélène Arrouays und Daniel Ehret.
anonymous – famous. Christophe Hohler et Raymond E. Waydelich
05.04.-31.08.2025
Fondation Fernet-Branca – Espace d’Art Contemporain, Saint-Louis
Bilder: Angelika Schoder – Fondation Fernet-Branca, 2025
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnote
[1] Zitiert nach: Ute Dahmen: Wovon lebt der Mensch?, In: anonymous – famous. christophe hohler, Hg.v. Christophe Hohler und Ute Dahmen, 2025, S. 12ff, hier S. 13.
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