[Ausstellung] So merkwürdig der Titel „Staged Circumstances and Piles of Things“ klingt, so passend beschreibt er, was diese Ausstellung im Amos Rex Museum bietet. Die in Katalonien geborene Künstlerin Anna Estarriola (*1980), die seit 2004 in Helsinki lebt und arbeitet, zeigt hier 17 elektronisch modifizierte Skulpturen, Video- und Klang-Installationen sowie Performance-Kunst rund um inszenierte Situationen und aufgetürmte Dinge. Das Herzstück der Ausstellung ist das titelgebende Werk „Piles of Things“ (2025), eine dreiteilige meterhohe Installation, die eigens für das Museum erstellt wurde. Um diese Installation herum platziert sind Werke und Installationen aus 10 Jahren Schaffenszeit, die mit Maßstäben, Distanzen und Wahrnehmungen spielen. Je nachdem, wie man sich ihnen nähert und sie betrachtet, offenbaren sich neue Ebenen, wie Szenen in einem fortlaufenden Theaterstück. Im Zentrum stehen Themen wie Kommunikation und Zusammenarbeit, aber auch Missverständnisse und das Gefühl des Scheiterns.
Piles of Things: Ein Haufen Dinge
Estarriola beginnt ihre künstlerische Arbeit oft mit kleinen Skizzen; für die Umsetzung arbeitet sie mit Fachleuten aus den Bereichen Design, Gesang, Tanz und Wissenschaft zusammen. Ihre künstlerische Inspiration zieht sie aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, aus Glaubenssystemen und menschlichem Verhalten. Dabei untersucht sie, wie Menschen funktionieren, fühlen und miteinander umgehen. Ihre Installationen beruhen auch auf sorgfältiger Recherche und persönlichem Austausch. So sind ihre Kunstwerke reich an Details und beschäftigen sich mit grundlegenden Fragen zu Leben und Tod sowie zu individuellen und gemeinschaftlichen Formen der Kommunikation und des Zusammenlebens.
Auch das Werk „Piles of Things“, das im Zentrum der Ausstellung steht, ist das Ergebnis eines solchen kreativen gemeinschaftlichen Prozesses. Für die Klanglandschaft arbeitete Estarriola mit Fachleuten aus dem Musikbereich zusammen, um ihre Grundidee als lebendiges und vielschichtiges Kunstwerk zu realisieren. Zu sehen sind in der Installation verschiedene menschliche Gestalten, die sich zusammen mit Gegenständen auftürmen. So sitzt eine Figur etwa auf einem Wäscheständer, der auf einer Person auf allen Vieren steht, die sich wiederum auf einem großen Plastiksack abstützt, der auf einer Matratze liegt. Daneben türmen sich weitere Gebilde, die sich diffus aus vermummten Menschen und Gegenständen zu einem „Haufen Dinge“ zusammenfinden, der jeweils kurz vor dem Umkippen zu stehen scheint. In der Installation finden sich viele Themen wieder, die Estarriola schon lange beschäftigen: Wie verhalten sich Menschen in bestimmten Situationen? Wie nehmen sie ihre Umwelt wahr? Und wie beeinflussen Beobachtung und Vorstellung unser Bild der Realität? Auch in anderen Werken in der Ausstellung konzentriert sich die Künstlerin auf diese Fragen und schafft Raum für Gedanken, die durch die außergewöhnliche Merkwürdigkeit der Objekte angeregt werden.
Was ist Realität?
Anna Estarriola hinterfragt mit ihrer Kunst verschiedene Blickwinkel auf die Realität: Mal zeigt sie etwas Vertrautes, mal merkwürdige Abweichung von der Norm und mal stellt sie mit einem überraschenden Spiel mit Größenverhältnissen alles auf den Kopf. Trotzdem wirken ihre Werke oft nahbar, selbst wenn es sich um eine sprechende Alien-Versandtasche handelt, wie in „The System“ (2017). In dieser Installation werden Ausstellungsbesucher dazu eingeladen, ein Konferenz-ähnliches Ereignis zu beobachten. Die zwölf teilnehmenden außerirdischen Figuren und Objekte stammen alle aus unterschiedlichen Realitäten und jede von ihnen nimmt in ihrer eigenen abstrakten Sprache an der Diskussion teil. Eine dreizehnte Figur, die die Diskussion moderiert und für das Publikum unsichtbar bleibt, übersetzt die Reden in Englisch.
Ziel der Diskussion ist es die Frage zu besprechen: Was soll als Nächstes geschehen? Die Installation erinnert an klassische Diskussions-Panels bei Konferenzen, jede Figur am Tisch erhält die Möglichkeit, zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels beizutragen und ein Statement vorzutragen. Aber ist eine gleichberechtigte Teilnahme an der Diskussion überhaupt möglich, wenn die Teilnehmenden so unterschiedlich sind? Das Kunstwerk legt nahe, dass es nur eine ästhetische Illusion ist, weil die Teilnehmenden ergebnislos aneinander vorbeizureden scheinen oder sogar völlig unverständlich sind. „The System“ zeigt, wie Estarriola mit Metaphern, Illusionen und Bildern arbeitet, um bedeutende aber auch scheinbar sinnlose Dinge des Lebens zu zeigen. Dabei geht es oft um das Gefühl der Hilflosigkeit, aber auch um den Versuch, Kontrolle über Situationen zu gewinnen. Fehler, Unsicherheiten oder Brüche sind für die Künstlerin kein Makel, sondern machen den Reiz und die Tiefe ihrer Werke aus. Daneben geht es in den Arbeiten oft auch um Macht und Ungleichgewicht und den Versuch dieses System aufzubrechen. Ein Zeichen dafür ist, dass sich in den Werken alle Elemente auf Augenhöhe begegnen: Objekte, Lebewesen und Phänomene erscheinen gleichwertig.
Auch die Wahrnehmung von Zeit ist in Estarriolas Werken besonders. Vieles was dargestellt wird, scheint gleichzeitig im Jetzt zu geschehen und sich endlos fortzusetzen. Ihre Installationen wirken oft wie eingefrorene Bewegungen oder wie kurze Momente, die sich dehnen. Obwohl sie aus festen Materialien bestehen, haben sie etwas Lebendiges und erinnern an Theaterstücke oder eine Performance. Auch Übergänge zwischen Momenten spielen eine zentrale Rolle für die Künstlerin. Sie tauchen in mehreren Werken auf, zum Beispiel in den den Werken „Transition“ (Assisted Breathing und See Through) oder in der Installation „Moment“ (2023). Hier zeigt die Künstlerin eine lila gekleideten Akrobatin, die unter einer hellen Wachstumslampe in einem Gewächshaus-ähnlichen Raum balanciert. Umgeben ist die schwebende Gestalt von Larven-artigen Kreaturen, die ein gedämpftes Knurren von sich geben, während sie warten. Die Beziehung zwischen den merkwürdigen Kreaturen und der menschlichen Figur ist unklar: Nähern sich die Larven ihr bedrohlich oder sind sie zahm? Die Arbeit stellt die Frage, was wir kontrollieren können und wo die Grenzen der Kontrolle liegen.
Jenseits der Gewissheit
Die Werke in der Ausstellung „Staged Circumstances and Piles of Things“ laden dazu ein, Bekanntes loszulassen und alles zu hinterfragen. Denn Anna Estarriolas Kunst spielt mit unserer Wahrnehmung und verändert Perspektiven, verschiebt Maßstäbe und bezieht immer auch den Raum und die Situation der Präsentation mit ein. Dabei nutzt die Künstlerin nicht nur klassische Bildhauerei, sondern auch moderne Medienkunst. Videos, Klänge und technische Elemente helfen hier, Erzählungen und Szenen zu gestalten, die zugleich real und wie eine Illusion wirken. Technologie, Geräte und ihre Wirkung auf uns Menschen sind in den Werken dabei ein zentrales Thema. In den Objekten und Installationen verschwimmen die Grenzen zwischen echt und künstlich, natürlich und technisch. Dabei geht es nicht nur um das, was wir sehen, sondern auch das Hören und Fühlen spielen eine wichtige Rolle.
In der Ausstellung lohnt es sich oft, genauer hinzuhören, etwa beim Objekt „Muffled“ (2019). Es zeigt die 2000-fache Vergrößerung einer Biopsie aus einem Kehlkopf; ein riesiges Stück Gewebe, das sich leicht auf einem Sockel kräuselt. Ein dumpfes Gemurmel ist zu hören, dessen Rhythmus von einer zuckenden Hautbewegung begleitet wird. Die Worte der Künstlerin dringen aus dem Inneren, bleiben aber unverständlich – ein gescheiterter Versuch der Kommunikation. Es wirkt so, als ob die Haut selbst versucht, den Ausstellungsbesuchern etwas mitzuteilen, selbst nachdem sie von ihrem Körper losgelöst wurde, wo sie einst Teil eines größeren Ganzen war.
Genau hinhören sollte man auch bei dem Werk „Emerging Thoughts“ (2019). Es ist eine riesige Strickmütze, in die man hinein schauen kann und in deren Innerem sich 60 größere und kleinere Haarbüschel befinden. Sie flüstern eine Vielzahl von fragmentarischen Ideen: verständlich sind einzelne Adjektive und Gefühle als unzusammenhängende Worte und gebrochene Sätzen. Die Stimmen sollen Zugänge zu verschiedenen Aspekten des Geistes eröffnen und zeigen gleichzeitig ein andauerndes inneres Chaos, das Einflüsse von überall her aufnimmt. Die zersplitterte Struktur des Geistes nimmt in diesem Kunstwerk eine visuelle Form an, die uns einlädt, über die vielen Aspekte und Dimensionen unserer eigenen Persönlichkeit nachzudenken.
Anna Estarriola. Staged Circumstances and Piles of Things
02.04.-31.08.2025
Amos Rex, Helsinki
Header-Bild: Angelika Schoder – Amos Rex, Helsinki 2025
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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