[Pressereise] Der Teufel lebt im Paris der Nachkriegszeit und betreibt dort einen Voodoo-Shop. Es ist Mephistopheles, der sich in Frank Castorfs Neuinszenierung von Charles Gounods Oper „Faust“ durch die Straßen rund um die Metro-Station „Stalingrad“ treibt und dafür sorgt, dass die Sünde nicht zu kurz kommt. Doch nicht nur das Umfeld und die Zeit unterscheidet die Inszenierung deutlich von Goethes Drama, denn Faust ist hier nicht der nach Wissen strebende Akademiker – und Gretchen auch nicht die Verkörperung der sittsamen Helena.
Faust im Frankreich des 19. Jahrhunderts
Der Pakt mit dem Teufel ist verführerisch. Kein Wunder also, dass die Legende um Doktor Faustus – und insbesondere Goethes Drama von 1808 – nicht nur im deutschsprachigen Raum rezipiert wurde, sondern sich auch in Frankreich großer Beliebtheit erfreute. Die Thematik wurde hier in einer Reihe von Theaterstücken aufgegriffen und diente 1859 dem Komponisten Charles Gounod als Vorlage für eine Oper. Im Zentrum steht, neben dem Teufelspakt, Fausts Drang nach Jugend und Vergnügen – und damit auch die tragische Beziehung zu Gretchen, hier Margarethe.
In Deutschland wurde Gounods Oper früher unter dem Titel „Margarethe“ aufgeführt, wohl um die Abgrenzung zum klassischen Stoff herauszustellen, von dem die Oper inhaltlich deutlich abweicht. In Stuttgart ist Gounods „Faust“ nun in einer schillernden Inszenierung von Frank Castorf zu sehen, die erste Neuinszenierung seit 1952.
Reality-TV mit Kriegsszenen
Frank Castorfs „Faust“ spart nicht an Komplexität. Neben der Handlung auf der Bühne existiert noch eine zweite Handlungsebene auf Leinwänden, die über die Bühne gespannt sind. Hier vermischen sich Straßenszenen aus dem heutigen Paris mit Livebildern, die von Kameramännern auf der Bühne von den Darstellern aufgenommen werden, und Filmsequenzen, die mit den Akteuren an anderen Orten gedreht wurden und etwa auf den Algerien-Krieg verweisen. Die Leinwände zeigen so zusätzlich zum Bühnengeschehen auch Parallelhandlungen, aber auch Verfremdungen.
Ganz nach Brechts Idee des V-Effekts stören die Kameramänner (Videoregie: Martin Andersson) immer wieder unauffällig die Szenerie, verdeutlichen die Inszeniertheit und ermöglichen mit ihren Aufnahmen sogar Backstage-Einblicke, etwa wenn Mephisto (Adam Palka) mitten im Stück die Bühnentechniker grüßt.
Zwischen Coca-Cola und Notre Dame
Die Komplexität der Inszenierung wird durch das drehbare Bühnenbild von Aleksandar Denić aufgegriffen und verstärkt. So liegt Notre Dame, der Ort an dem Margarethe (Mandy Fredrich) betet, nicht nur über der Pariser Metro-Station „Stalingrad“, sondern bildet auch die Rückseite von Mephistos „Voodoo-Laden“, der mit Pentagrammen verziert ist und in dem eine große Würgeschlange in einem Terrarium lauert. Nebenan befindet sich ein typisches Pariser Café, in dem Faust (Atalla Ayan) seiner Margarethe erstmals begegnet.
Gleich nebenan feiern Margarethes Bruder Valentin (Gezim Myshketa) und sein Freund Wagner (Michael Nagl) mit anderen Soldaten, bevor sie in den Krieg ziehen. Um die Ecke befindet sich Margarethes Wohnung, bekrönt mit teuflisch rot-leuchtender Neon-Reklame, die eine Mischung aus Coca-Cola Schriftzug und Jugendstil-Elementen ist. Darunter ist eine Art Scheune, in der Siebel (hier weiblich: Josy Santos) mit Margarethes Nachbarin Marthe (Iris Vermillion) von Mephisto heimgesucht wird. An diesem Ort findet auch die Walpurgisnacht-Szene statt, in der sich der Chor mit Masken, die an den mexikanischen Dia de los Muertos erinnern, um Faust und Mephisto drängen. Ein in sich verschachtelter Mikrokosmos auf wenigen Quadratmetern.
Verderben und Verderbtheit
Ähnlich aufwändig wie das Bühnenbild sind auch die Kostüme von Adriana Braga Peretzki gestaltet. In ihrer Vielfalt entziehen sie sich jeder Einordnung in eine bestimmte Zeit. Während Mephisto mal als Mafia-Gangster der 40er-Jahre auftritt, mal als pferdefüßiger Teufel oder Voodoo-Priester, erscheint Faust zeitlos im Anzug. Margarethe, die hier keine keusche Magd ist, sondern eine Opium-rauchende schillernde Person, durchläuft gleich mehrere Epochen – von einem 70er Jahre Blumenkleid zu einer Mata Hari Pailletten-Robe der Jahrhundertwende, bis hin zu einem kurzen 60s Kleid und wieder zu einer üppigen Feder-Robe der 40er Jahre. Der Chor (Leitung: Johannes Knecht) trägt sogar eine ganze Vielfalt an Kleidungsstilen von 1880 bis 1930.
Alles in allem erscheint die Inszenierung dadurch ihrer Zeit entrückt. Einzig der Name der Pariser Metro-Station „Stalingrad“ gibt einen Hinweis darauf, dass die Handlung mindestens nach dem Zweiten Weltkrieg spielen muss, denn die Station wurde erst 1946 so benannt. Plakate und Hefte verweisen sogar etwa 10 Jahre weiter, in die Zeit der Staatskrise der Vierten Französischen Republik, Ende der 1950er Jahre.
Komplexe Chor-Oper
Im Jahr 1861 wurde Gounods „Faust“ in der Stuttgarter Oper erstmals aufgeführt. 155 Jahre später überzeugt die Spielstätte, die als „Opernhaus des Jahres 2016“ ausgezeichnet wurde, jetzt mit einer komplexen Neuinszenierung. Frank Castorf hat Gounod entstaubt und eine neue politische Dimension hinzugefügt, in der es um Demokratie-Verständnis und Kapitalismus-Kritik geht. Fehlende Ecken und Kanten der historischen Komposition treten durch eine bildgewaltige Inszenierung und durch das beeindruckende Bühnenbild sowie die aufwändigen Kostüme in den Hintergrund, umso deutlicher treten dadurch aber auch die Akteure mit ihren Gesangsparts hervor. Neben einer sehr klug gewählten Besetzung (besonders Adam Palka als Mephisto und Josy Santos als Sibel), zählt der internationale Staatsopernchor Stuttgart zu den Stärken der Inszenierung.
Oper Stuttgart – „Faust“
von Charles Gounod
franz. mit dt. Übertiteln
musermeku dankt der Stuttgart Marketing GmbH und den beteiligten Kulturinstitutionen für die Einladung und für die Übernahme der Kosten der Reise.
Bilder: Angelika Schoder – Oper Stuttgart, 2016
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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