[Ausstellung] Was verbirgt sich auf der Rückseite eines Gemäldes? Die Ausstellung „Verso“ im Kunstmuseum Basel geht dieser Frage nach und lädt dazu ein, den üblicherweise verborgenen Teil von Kunstwerken aus dem 14. bis 18. Jahrhundert zu entdecken. Diese ungewöhnliche Perspektive gibt Hinweise auf die Herkunft der Werke, aber auch auf frühere Funktionen und Kontexte, noch bevor sie ihren Platz im Museum fanden. So sind in der Ausstellung zum Beispiel Flügelaltäre zu sehen, die je nach Kirchenkalender geöffnet oder geschlossen wurden, Rückseiten mit Wappen einstiger Besitzer oder bemalte Tafeln, die später für andere Zwecke wiederverwendet wurden. Ein besonderes Highlight ist ein doppelseitiges Werbeschild von Ambrosius und Hans Holbein dem Jüngeren. Daneben werden Werke gezeigt, die bewusst so gestaltet wurden, dass sie von beiden Seiten betrachtet werden können. Die Ausstellung „Verso. Geschichten von Rückseiten“ eröffnet damit neue Blicke auf bekannte Künstler wie Hans Baldung gen. Grien, Lucas Cranach oder Konrad Witz und macht gleichzeitig auf weniger bekannte Künstler aufmerksam, deren Werke ebenfalls einen zweiten Blick wert sind, wie Hans Pleydenwurff, Jan Polack oder Pieter Snyers.

Altarflügel von allen Seiten betrachtet
Die Ausstellung konzentriert sich auf Kunstwerke aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, allen voran kirchliche bzw. religiöse Kunst. Sie spielte im mittelalterlichen Europa, das vom christlichen Glauben geprägt war, eine wichtige Rolle. Da die meisten Menschen zu dieser Zeit weder lesen noch schreiben konnten, wurden in den Kirchen vor allem Bilder genutzt, um die Themen des Christentums zu vermitteln. Ein besonders wichtiger Bestandteil des Kirchenraums war hier das sogenannte Retabel, der Aufsatz auf dem Altartisch. Ab dem 12. Jahrhundert waren diese oft mit seitlichen Flügeln versehen, die doppelseitig dekoriert waren. Im geschlossenen Zustand zeigten sie eine andere Bildwelt als im geöffneten, wobei eine Öffnung nur zu hohen Feiertagen stattfand. Heute sind die Innenseiten der Altäre daher meist besser erhalten, weil sie seltener gezeigt wurden.
Solche Altäre wurden „Wandelaltäre“ genannt, sie stehen im Zentrum der Ausstellung „Verso“. Die doppelseitige Gestaltung der Wandelaltäre ermöglichte eine wechselnde Inszenierung des christlichen Heilsgeschehens. Sie waren beliebte Stiftungsobjekte, denn wer solche Werke finanzierte, sicherte sich spirituelles Ansehen und Einfluss, auch im weltlichen Bereich. Wie die Exponate der Ausstellung zeigen, wurden Stifter oft in die Darstellungen mit aufgenommen, meist als kleine Figuren im Vordergrund. Zwei vollständig erhaltene Wandelaltäre aus dem Kunstmuseum Basel aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigen hier die Anbetung des Christuskinds durch die Heiligen Drei Könige, ein beliebtes Motiv zu dieser Zeit. Durch die Wiederholung bestimmter Motive lassen sich heute auch unvollständig erhaltene Altäre rekonstruieren, wie etwa zwei Flügel eines Flämischen Meisters, bei denen der Mittelteil fehlt, der aber klar erkennbar die Königsanbetung zeigt.
Auch im zweiten Ausstellungsabschnitt stehen Altarflügel im Mittelpunkt. Sie zeigen in ihrer Gestaltung, wie sich in der christlichen Bildwelt des Mittelalters die göttliche Rangordnung widerspiegelt. Im Zentrum der Altaraufsätze auf den Innenseiten der Flügel standen meist Christus und Maria, die Außenseiten der Flügel waren den Heiligen vorbehalten. Diese Anordnung entsprach nicht nur der theologischen Hierarchie sondern hatte auch eine liturgische Funktion: Wurden die Flügel geschlossen, traten die Heiligen sichtbar in Erscheinung. An hohen Feiertagen wurden sie zurückgenommen, um Christus und Maria den Platz im Zentrum der Feier zu überlassen. Die Auswahl der dargestellten Heiligen war dabei nicht zufällig, sie spiegelte lokale und gesellschaftliche Verhältnisse wider, etwa als Schutzpatrone von Kirchen, von Orden oder Stiftern. So verschränkten sich religiöse Bedeutung und weltliche Macht. Heilige traten dabei meist als stehende Figuren mit ihrem Attribut auf oder anhand von Szenen aus ihrem Leben, wie bei den in der Ausstellung gezeigten Flügeln des Meisters von St. Sigmund aus Tirol, welche die Geschichte des Heiligen Stephanus erzählen.

Gesamtkunstwerke aus Malerei und Skulptur
Vor der Reformation war die Ausstattung von Kirchen eine der wichtigsten Einnahmequellen für Kunstschaffende. Entsprechend dominierten religiöse Themen, die allerdings auf ganz unterschiedliche Art umgesetzt wurden. Ab dem 14. Jahrhundert trafen in Wandelaltären Malerei, Skulptur und Architektur aufeinander und bildeten Gesamtkunstwerke, die als eigene „heilige Räume“ innerhalb der Kirche fungierten. Die Herstellung dieser komplexen Altäre war arbeitsteilig organisiert: Eine Werkstatt übernahm meist die Malerei und die Gestaltung des Gesamtwerks, eine andere war für die Skulpturen zuständig. Nur große Werkstätten boten beides aus einer Hand. Malerei fand sich häufig auf den Flügeln, außen wie innen, der Mittelteil der Altäre war meist den Skulpturen vorbehalten. Diese wurden oft farbig gefasst, vor allem mit leuchtendem Blau, um Tiefe und Lebendigkeit zu erzeugen. Die Gestaltung zeigte auch die Hierarchie: Von der flachen Malerei bis zur vollplastischen Figur steigerte sich die Bedeutung, wobei Christus und Maria im Zentrum standen. Gotische Architekturformen verankerten zusätzlich die dargestellten Szenen in der Zeit ihrer Entstehung, ein Beispiel dafür ist ein Altarflügel aus der Werkstatt von Konrad Witz (um 1445/47), der für ein Basler Dominikanerinnen-Kloster entstand und der Szenen der Fürbitte und des Ungläubigen Thomas zeigt.
Auf den Rückseiten von Altartafeln finden sich zudem oft Ornamente. Manche dieser dekorativen Muster mit symbolischer Bedeutung zeigen Pflanzenranken, andere bestehen aus Buchstaben auf einfarbigem Grund oder imitieren die Struktur von Stein. Diese Motive sind mehr als reine Verzierung, sie verweisen auf zentrale biblische Bilder. Die Ranke etwa steht für den „Baum des Lebens“ oder die „Wurzel Jesse“, aus der Jesus hervorgeht, Steintafeln erinnern an die Zehn Gebote. Die malerische Imitation von Stein, in der mit feinen Farbverläufen, Sprenkeln oder Aderungen die Illusion von Marmor erzeugt wurde, stammt ursprünglich aus Böhmen und den Niederlanden. Pflanzenranken wiederum waren vor allem im süddeutschen Raum verbreitet.
Auch Monogramme wurden kunstvoll integriert, etwa IHS für Jesus oder MRA für Maria. Auf zwei Altarteilen mit Szenen des Passahmahls und der Mannalese eines Niederländischen Meisters von 1450/60 verschmelzen sie zum Zeichen IM, eine Einheit von Mutter und Sohn. Neben der spirituellen Bedeutung hatten bemalte Rückseiten von Altären auch eine praktische Funktion: Sie schützten das Holz vor dem Austrocknen. Das Werk von Wolfgang Katzheimer zur Kreuztragung Christi (um 1480) in der Ausstellung zeigt eindrucksvoll, was passiert, wenn die Rückseite beschädigt ist: Hier wurden Ranken abgeschliffen, um gebrochene Tafeln mit Holzstücken zu stabilisieren.

Künstlerische Umgestaltungen
Die Rückseiten von Gemälden oder Altarteilen wurden oft erst später bemalt, teils kurz nach der Entstehung, teils viele Jahre oder sogar Jahrhunderte später. Ein Beispiel für eine frühe Ergänzung ist das „Doppelbildnis des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen und seiner Frau Dorothea Kannengiesser“. Die Vorderseite malte Hans Holbein d. J. im Jahr 1516, das rückseitige Wappen stammt von einem anderen Künstler und wurde nur vier Jahre später ergänzt. Auch ältere Werke zeigen spätere Eingriffe, etwa eine Flügelhälfte eines sogenannten Baldachin-Altars, der um 1350/60 von einem Nürnberger Meister für das Nürnberger Klarissenkloster geschaffen wurde. Hier wurde die Außenseite gegen Ende des 14. Jahrhunderts übermalt, vielleicht sogar von einer Nonne aus dem Konvent.
Ein anderes Beispiel ist ein Diptychon mit Christus und Maria, das auf niederländische Vorbilder zurückgeht und das um 1480 von Hans von Hallwil in Frankreich in Auftrag gegeben wurde. 1511 ließ ein Nachfahre die Wappen beider Familien auf der Rückseite ergänzen, wohl anlässlich seiner Hochzeit. Besonders deutlich wird die Umnutzung auch bei einem anderen Werk, zwei Orgelklappen mit einer Königsanbetung aus dem Umkreis des Hans Baldung gen. Grien. Sie bedeckten einst die Orgelpfeifen, wurden aber später überarbeitet und zeigen heute eine Verkündigung aus dem 17. Jahrhundert, allerdings mit vertauschten Figuren.
Zur künstlerischen Umgestaltung gehören auch nachträgliche Inschriften, wie zwei Beispiele in der Ausstellung „Verso“ zeigen: Es ist zum einen das Bildnis des Wiedertäufers David Joris (um 1540/44), der 1544 unter falschem Namen nach Basel zog. Nach seinem Tod stellte sich der vermeintlich ehrbare Edelmann als geheimer Sektenführer heraus. Eine nachträglich angebrachte Inschrift auf der Rückseite des Bildes erzählt auf Latein und Deutsch die Geschichte des Betrügers als mahnendes Beispiel. Ein anderes Werk in der Ausstellung zu diesem Thema ist das Bild der Heiligen Barbara eines Basler Meisters. Die Tafelrückseite nennt das Todesdatum von Bärbel Jungermann (4. Mai 1509) und enthält eine kurze Fürbitte. Das Bild diente also als Epitaph, als Erinnerung an die Verstorbene. Die Inschrift entstand aber wohl erst später, vielleicht als Kopie einer verlorene Originalinschrift vom ehemaligen Rahmen.

Außergewöhnliche Rückseiten
Im letzten Abschnitt zeigt die Ausstellung noch drei Spezialfälle, die unter Beweis stellen, wie vielseitig und überraschend Rückseiten gestaltet sein können. In allen Fällen nutzten die Künstler bewusst beide Seiten, um etwas Besonderes zu schaffen. Zunächst sind das zwei Stillleben mit Früchtekorb und Nelkenstock, Primelstöcke und Gemüse von Pieter Snyers. Die Tafel war ursprünglich eine Kupferplatte für Druckgrafik; als sie nach rund 150 Jahren zu abgenutzt war, um noch gute Abzüge zu liefern, wurde ihre glatte Rückseite bemalt. Aus der alten Druckplatte entstand so ein neues Kunstwerk – historisches „Upcycling“ sozusagen.
Das zweite hier im Ausstellungsabschnitt gezeigte Werk stammt von den Brüdern Ambrosius und Hans Holbein d. J., eine doppelseitige Tafel von 1516, gestaltet wie ein Schild für einen Schulmeister. Vermutlich war es ein persönliches Geschenk an den Lehrer Oswald Geisshüsler (Myconius), mit einem kleinen Scherz: Der Junge auf der Kinderseite schreibt das Alphabet, aber das „h“ fehlt, ein Hinweis auf den Namen Holbein. Später wurden beide Seiten getrennt präsentiert, wie eigenständige Gemälde.
Das letzte Werk in der Ausstellung „Verso“ stammt von Niklaus Manuel gen. Deutsch. Es kombinierte auf einer Tafel zwei provokante Szenen: vorne die Badende Bathseba, auf der Rückseite der Tod mit einer jungen Frau (Der Tod als Kriegsknecht umfasst eine junge Trosshure, 1517). Beide Darstellungen imitieren mit raffiniertem Lichteffekt gezeichnetes Papier, eine Trompe-l’Œil-Technik, die das Auge täuschen soll. Das Werk war aufgrund seiner heiklen Darstellungen vermutlich für den privaten Bereich gedacht, vielleicht für eine Kunst- und Wunderkammer.
Verso. Geschichten von Rückseiten
01.02.2025–04.01.2026
Kunstmuseum Basel, Neubau
Bilder: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2025
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
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