[Pressereise] Aktuell wirft die Tate Modern in London in der Ausstellung „Forms of Life“ einen Blick auf das Werk von Hilma af Klint (1862-1944) und Piet Mondrian (1872-1944). Ein Aufeinandertreffen zweier Kunstschaffender, die sich zwar nie begegneten, die aber beide durch ihren eigenen Zugang zur abstrakten Kunst verbunden sind, angetrieben durch den Wunsch, die Kräfte der Natur zu verstehen. Die schwedische Künstlerin und der niederländische Maler teilten ein Interesse für Wissenschaft, Spiritualität und Philosophie, doch während Mondrian einer rationalen Abstraktion folgte, spiegeln af Klints rätselhafte Arbeiten ihren Glauben an übersinnliche Mächte wieder. Wie eine perfekte Ergänzung zur Londoner Ausstellung wirkt die aktuelle Retrospektive zu Charmion von Wiegand im Kunstmuseum Basel. Die amerikanische Künstlerin verbindet in ihrem abstrakten Werk nicht nur die Faszination für die Natur und das Spirituelle. Sie war auch mit Mondrian eng verbunden und entwickelte insbesondere in ihrem Spätwerk eine Formensprache, die stark an die von af Klint erinnert.
„Die Geburt der abstrakten Kunst bedeutete einen grundlegenden Wechsel von einer sinnlichen zu einer neuen ideellen Kultur. Nachdem das Bild des einzelnen Menschen als Herrscher über die Natur – das zentrale Thema der Renaissance – überwunden war, wurden die Grenzen der Kunst auf das gesamte Universum und den Geist des Menschen ausgedehnt. Der Mensch nahm nun seinen Platz im Kosmos ein, zusammen mit allen anderen lebenden Organismen. Dieser ‚Tod des Humanismus‘ war in Wirklichkeit die Ausweitung seines Ethos auf eine höhere Ebene. So wurde die westliche Kunst in die Nähe der metaphysischen Spekulationen des orientalischen Denkens gerückt: Vedantismus, Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus.“ [1]
Charmion von Wiegand
Zwischen Hilma af Klint und Piet Mondrian
So wie Hilma af Klint verstand auch Charmion von Wiegand die Geometrie und Abstraktion als Mittel zur Verbindung mit etwas Metaphysischem. Doch die Ansätze beider Künstlerinnen waren völlig verschieden. Af Klint war als Mystikerin davon überzeugt, in spirituellem Kontakt mit übernatürlichen Kräften zu stehen, von denen sie 1906 die Eingebung für ihre „Gemälde für den Tempel“ erhielt. Bis 1915 schuf sie unter diesem vermeintlich übernatürlichen Einfluss insgesamt 193 farbenfrohe, geometrische und radikal abstrakte Werke, die zu ihrer Entstehungszeit kaum vergleichbar mit den Werken anderer Kunstschaffender waren. Bis zu ihrem Tod 1944 verwirklichte af Klint weitere Gemälde, in ihrem Spätwerk vor allem inspiriert durch Rudolf Steiners Lehre der Anthroposophie.
Nicht nur weil Hilma af Klint anwies, dass viele ihrer Arbeiten bis 20 Jahre nach ihrem Tod geheim gehalten werden sollten, geriet ihr Werk lange Zeit in Vergessenheit. Erst in den letzten 10 Jahren wurde die Künstlerin in der Museumswelt quasi wiederentdeckt: Auf eine erste große Ausstellung im Moderna Museet in Stockholm im Jahr 2013 folgte 2018 eine Retrospektive im Guggenheim Museum in New York; nun sind af Klints Arbeiten zusammen mit Werken von Piet Mondrian in London zu sehen. Das Aufeinandertreffen in der Ausstellung der Tate Modern ist ungewöhnlich, schließlich standen beide Kunstschaffende in keinem direkten Bezug zueinander. Wie ein Bindeglied zwischen beiden wirkt nun eine andere Künstlerin, die jetzt erstmals in Europa in einer großen Einzelausstellung gezeigt wird: Charmion von Wiegand (1896-1983).
Die Amerikanerin wurde in der New Yorker Kunstwelt der 1950er Jahre dadurch bekannt, dass sie strenge Formen geometrischer Abstraktion mit fernöstlicher Bildsymbolik in Einklang brachte. Ihr Weg zur Kunst führte dabei zunächst über Piet Mondrian. Als Kunstkritikerin rezensierte sie den Essay-Band „5 on Revolutionary Art“ (1935), in dem Mondrian als „wahrer revolutionärer Künstler“ bezeichnet wurde. Im Jahr 1941 nahm von Wiegand daraufhin Kontakt mit dem kürzlich in die USA emigrierten Künstler auf. Sie führte ihn nicht nur in die New Yorker Gesellschaft ein, sondern verfasste auch Texte zu seinem Werk und redigierte seine Schriften. Doch von Wiegand wurde auch künstlerisch von Mondrian beeinflusst, fertigte Skizzen seines unvollendeten Gemäldes „Victory Boogie-Woogie“ (1942-44) an und ließ sich von der geometrischen Abstraktion des Künstlers für eigene Werke inspirieren, etwa für ihre „Stadtbilder“, die ab 1944 nach Mondrians Tod entstanden. Charmion von Wiegand bewegte sich zudem in der Künstlergruppe des „Mondrian Circle“, ließ sich aber auch von den Werken von Wassily Kandinsky und Hans Arp inspirieren.
„Die innere Malerei beginnt mit dem Zeichen. In seinen Anfangsstadien ist es eine Beschwörung – ein Mittel zum Erfassen des Unbekannten. Es ist das Orakel, die Weissagung, das Symbol der Macht, das sich aus subjektiven Zuständen entwickelt und sich auf seine objektive Verkörperung in einem einzigen plastischen Bild zubewegt. Die äussere Malerei hat sich mit der äusseren Erscheinungswelt auseinandergesetzt. Zusammen bilden sie die beiden großen, gegensätzlichen Kategorien in der Kunst.“ [2]
Charmion von Wiegand
Spiritualität im Werk von Charmion von Wiegand
Die frühen Gemälde von Charmion von Wiegand erinnern tatsächlich an Kandinsky, Arp oder mit der Reduktion auf Rot, Gelb, Blau auch häufig an Mondrian. Doch ihre Auseinandersetzung mit philosophischen und spirituellen Schriften beeinflusste zunehmend die Farb- und Formensprache der Künstlerin; insbesondere die Lektüre von taoistischen Texten wie des chinesischen „I Ging. Buch der Wandlungen“ inspirierte sie dazu, ihren geometrisch-abstrakten Werken auch eine spirituelle Bedeutung zuzuweisen. Das kreative Prinzip des „I Ging“ mit seiner Kobinatorik aus Hexagrammen entwickelte die Künstlerin weiter durch ihre Lektüre der Schriften von Helena Petrovna Blavatsky, der Begründerin der Theosophie. Von Wiegand war dabei besonders von den Ausführungen zu buddhistischen Farbkodierungen und geometrischen Formen fasziniert und befasste sich intensiv mit dem Konzept der Mandalas, also mit den geometrischen Schaubildern, die im Hinduismus und Buddhismus eine magische oder religiöse Bedeutung besitzen.
Insbesondere ab den 1950er Jahren wandte sich Charmion von Wiegand durch das Studium ethnologischer Bücher der Ästhetik der tibetischen Kunst zu und widmete sich der spirituellen Praxis des Buddhismus. Als praktizierende Buddhistin war die Künstlerin schließlich nicht nur am Aufbau des Tibet Center in New York beteiligt, sondern arbeitete auch intensiv an der Entwicklung eines künstlerischen Vokabulars, um durch Formen und Farben ihrer Spiritualität Ausdruck zu verleihen. Ihre Malerei diente ihr vor allem ab den 1960er Jahren als Mittel, um innere Erfahrungen und höhere Bewusstseinszustände darzustellen. Stilistisch erinnern ihre Werke dabei formell-geometrisch an das Prinzip der Mandalas, wobei sie teils versuchte, architektonische Räume, das körperlich Innere des Chakren-Systems und den Raum des Kosmos miteinander zu verbinden. Ein außergewöhnliches Beispiel ist hier ihr Werk „Sanctuary of the Four Directions“ (1959-60), das mit der Reduktion auf Gelb, Rot und Blau zugleich wieder an die Werke von Mondrian erinnert.
Um Charmion von Wiegands enge Verbindung zum Buddhismus aufzugreifen, plant das Kunstmuseum Basel begleitend zur Ausstellung eine besondere Aktion: In Zusammenarbeit mit dem Namgyal-Kloster aus Dharamsala in Indien soll im Museum ab dem 24. Juli ein Kalachakra-Sandmandala entstehen. Bis zum Ende der Ausstellung am 13. August können Museumsbesucher hier vier Mönchen dabei zusehen, wie sie auf dem Boden des Eventfoyers im Neubau des Museums ein „Rad der Zeit“ realisieren. Zur Finnisage der Ausstellung ist geplant, das Mandala in einem rituellen Akt aufzulösen und zum nahegelegenen Rhein zu bringen. Hier soll der Sand des Mandalas bei einer öffentlichen Aktion dem Fluss übergeben werden.
Anlässlich der Ausstellung erschien die Publikation „Charmion von Wiegand: Expanding Modernism“, herausgegeben von Maja Wismer für das Kunstmuseum Basel, bereits 2021 im Prestel Verlag (ISBN: 978-3-7913-5974-8). Der Ausstellungskatalog umfasst, neben zahlreichen farbigen Werkabbildungen und Tagebucheinträgen, unter anderem auch eine Biografie und Chronologie zur Künstlerin sowie Texte von Martin Brauen, Lori Cole, Haema Sivanesan, Nancy J. Troy und Felix Vogel.
Charmion von Wiegand
Kunstmuseum Basel
25.03.-13.08.2023
musermeku dankt dem Kunstmuseum Basel für die Einladung zum Besuch des Museums und für die Übernahme der Kosten der Reise.
Header-Bild: Angelika Schoder – Kunstmuseum Basel, 2023
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Bei musermeku schreibt Dr. Angelika Schoder über Themen zur Digitalisierung, über Museen und Ausstellungen sowie über Reise- und Kultur-Tipps.
Fußnoten
[1] Charmion von Wiegand: The Oriental Tradition and Abstract Art, In: The World of Abstract Art, Hg.v. The American Abstract Artists, New York 1957, S. 55-67, hier: S. 58 – Zitiert nach: Charmion von Wiegand: Expanding Modernism, Hg.v. Maja Wismer, 2021, S. 120. (Übersetzung von der Autorin)
[2] Text auf der Einladungskarte zur Gruppenausstellung in der Sid Deutsch Gallery, New York, 1977 – Siehe die Originaldarstellung: Ebd. S. 115.
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